KRITIK AN DER OFFIZIELLEN PSYCHOTHERAPIE #3 - VERTIEFUNG
Der Therapeut hat immer Recht!
Die Paradigmen des Wissens und Behandelns
Zweifel
1974 veröffentlichte Erich Fried folgendes kleine Gedicht:
Zweifle nicht an dem
der dir sagt
er hat Angst
aber hab Angst vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel!
Zweifel an der eigenen therapeutischen Arbeit sind in Kollegenkreisen kaum zu hören. Offensichtlich gilt stattdessen: Je komplexer der wissenschaftliche Gegenstand, desto dogmatischer die Aussagen der Fachleute. Patientin X hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Solche Äußerungen treten heutzutage als Faktum auf, nicht mehr als Hypothese, Konstrukt oder Frage. G wie gesichert, fügt die Therapeutin heute ihrer Diagnose bei und verleiht ihr somit, im Gegensatz zur Verdachtsdiagnose V, Beständigkeit. Früher herrschte typischerweise die – im Sinne des Erkenntnisgewinns wertvolle! – zweifelnde Psychologenhaltung vor: Es könnte so sein oder auch so oder vielleicht doch nicht ...? Doch Unbestimmtheit und Zweifel haben der Gleichschaltung durch den schulmedizinisch verordneten naiven Realismus (Ich bin der Fachmann! Es ist so und nicht anders!) nicht standhalten können.
Das sogenannte Wissen
Dabei halte ich diese öffentlich akzeptierte Art des „Wissens“ für nicht viel mehr als hohles, luftleeres Geschwätz. Gestützt wird es eigentlich nur durch Standesautorität. Allein mehrmaliges Fragen kann dieses selbstherrliche Gebäude der Psychomechanik zum Einsturz bringen: Woher weiß ich/ weißt du das? Probiere es aus, indem du eine beliebige Aussage deines Therapeuten über dich hinterfragst, z. B. in folgender kleiner Unterhaltung (Aber bevor du solche Fragen stellst, stelle sicher, dass dein Behandler auch die Fähigkeit zum Selbstzweifel hat!): Dein Therapeut beginnt zum Beispiel mit einer Aussage wie der folgenden: Ihre Angst wird aufrechterhalten, weil Sie Situation A meiden. – Du fragst nach: Woher wissen Sie das? – Und weiter geht’s: Das besagt die Lerntheorie. – Woher wissen Sie, dass diese Lerntheorie in diesem Fall anwendbar ist? – Weil die Angst ja schon gelöscht wäre, wenn Sie nicht vermieden hätten.
Du siehst: Es handelt sich hier nicht um eine logisch zwingende, sondern um eine zirkuläre Begründung, nämlich eine, die ihre These bereits als Voraussetzung mit sich bringt. Andere typische letzte Antworten lauten etwa: Das hab ich bei Professor Mehrgott gelernt. – Das weiß doch jeder. – Das ist eben so. – Die Intervention X hat laut Studie Y eine Effektivität von z %. – Ich habe das schließlich studiert! – Wollen Sie mir etwa meine Kompetenz absprechen?!
Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen Zirkularitäten, weil wir letzten Endes einem erkenntnistheoretischen Zirkel[1] nicht entrinnen können. Allerdings sollten wir zirkuläre Aussagen nicht mit einem Ausrufezeichen versehen: Sie dürfen A nicht mehr vermeiden! Wir sollten eine Frage oder eine Hypothese formulieren, und zwar mit der Patientin gemeinsam. Etwa: Wird es uns weiterhelfen, wenn Sie Situation A nicht mehr vermeiden? Sonst laufen wir Gefahr, hypothesenwidrige Anzeichen nicht ernst zu nehmen und – theoriengerecht! – mit einer vielleicht schädlichen[2] Intervention fortzufahren.
Das Paradigma des Wissens
Ich nenne diese verborgene Grundhaltung von uns Therapeuten und Psychiaterinnen das Paradigma des Wissens: Der therapeutische Kontrakt basiert auf dem stillschweigenden gegenseitigen Einvernehmen, dass der Therapeut im alleinigen Besitz des Wissens sei. Diesem allein kämen Auftrag und Verantwortung zu, die Ursache der Störung ausfindig zu machen und zu beheben. Die Patientin brauche über ihre Erkrankung, deren Sinn und Geschichte sowie den Behandlungsweg nichts zu wissen. Der Therapeut dürfe die ihm dargebotene Macht, Verantwortung und den damit verbundenen höheren sozialen Status fraglos annehmen. Als Repräsentant der objektiv richtigen Methode treffe allein er die Entscheidungen (wobei er paradoxerweise dennoch von der Patientin Selbstverantwortlichkeit einfordert). Alles Persönliche, sowohl auf Seiten der Patientin als auch auf Seiten des Therapeuten, sei unwichtig und sogar als mögliche Fehlerquelle unerwünscht. Persönliche Stärken und Schwächen des Behandlers oder eigene kreative Ideen seien ebenso belanglos wie die individuellen und schwankenden Befindlichkeiten, Ängste oder Einwände der Patientin.
Das Paradigma des Behandelns
Erinnern wir uns: Die offizielle Psychotherapie betrachtet dein Leiden als Störung; folglich musst du ent-stört werden. Sie belegt diese deine Störung mit einer Diagnose, durch die du als krank bezeichnet und qualitativ von Gesunden abgesondert wirst. Schließlich geht sie von der ungeprüften Vorannahme aus, dass die Ursache der Krankheit in dir – und nicht etwa in gesellschaftlichen Bedingungen – liegt.
Weil deine Behandlerin also weiß, welcher Natur dein Leiden ist, dass es als Störung angesehen und beseitigt werden muss und dass die Ursache in dir liegt, bietet sie dir jetzt eine wissenschaftlich fundierte Methode an, die in gleichartigen Fällen erwiesenermaßen zur Heilung führt. Diesen Weg musst du ab sofort, angeleitet durch sie, beschreiten. Sie gesteht dir zu, dass dieser Weg für dich ungewohnt ist, dass du ihn nicht sofort verstehst, dass dir zunächst nicht die dafür notwendigen Fähigkeiten zur Verfügung stehen, dass er dir vielleicht Angst macht. Also erklärt sie geduldig und wiederholt; sie beantwortet deine Fragen und geht auf deine Zweifel ein; sie übt die nötigen Verhaltensschritte mit dir ein; sie ermutigt dich, versucht dir die Ängste zu nehmen und schreitet in kleinen Schritten mit dir voran. Sie bespricht auch geduldig mit dir deine Anwendungs-Fehler, dein Zögern, das Vergessen von Hausaufgaben, deine Missverständnisse.
Aber letztlich erwartet sie von dir, dass du den vorgeschriebenen Weg gehst.
Aus dieser Haltung des Wissenden ergibt sich zwingend das Paradigma des Behandelns, ich nenne dies: Interventionismus. Die Therapeutin entscheidet, wendet Methoden an, wehrt Ideen des Patienten ab. Häufig habe ich von Patientinnen zum Beispiel gehört, dass frühere Therapeutinnen ihnen verboten hätten, an Seminaren wie Familienaufstellungen oder Übungen zu Klopftechniken teilzunehmen.
Tatsachen
Es gibt einen weiteren äußerst problematischen Aspekt an diesen Paradigmen des Wissens und Behandelns. Mir scheint nämlich, dass sich der typische Richtlinien-Therapeut nicht dessen bewusst ist, dass er mit allem, was er (nicht)[3] sagt, denkt und tut, Tat-Sachen schafft. Das will sagen:
Er erzeugt Wirkungen unabhängig davon, ob die Grundlagen seines Handelns und Denkens richtig, wahr und vernünftig sind oder nicht!
Dabei sind die Folgen seines Vorgehens für ihn grundsätzlich nicht vollumfänglich erkennbar, und die Wirkungen müssen nicht unbedingt seinen Absichten entsprechen. Sie können sogar gegenteilige Effekte erzeugen. – Dazu will ich ein Beispiel geben:
Die Therapeutin legt ihrem Patienten die Hand auf den Rücken. Sie tut dies in der Absicht, ihn zu stützen und zu ermutigen. Er aber fühlt sich durch ihre Berührung unter Druck gesetzt und bedrängt. Weil er (noch) nicht fähig ist, seine Missempfindungen zu verbalisieren, erscheint er zur nächsten Sitzung nicht mehr, weil dieses Erlebnis sehr unangenehm war und weil er vielleicht denkt, er sei eben nicht therapiefähig. (Die Therapeutin mag sein Fernbleiben gänzlich anders interpretieren.)
Wenn die Therapeutin sich des Tat-Sachen-Problems bewusst gewesen wäre, hätte sie etwas ganz Einfaches tun können: Statt vermeintlich zu „wissen“, was für ihn gut ist, hätte sie ihn fragen können, ob die Berührung ok sei, wie sie auf ihn gewirkt habe usw.
Aber damit betrete ich jetzt das Gebiet der philosophischen Disziplinen der Erkenntnistheorie und der Ethik. Wenn du über die philosophischen Grundlagen der Psychotherapie mehr erfahren möchtest, wende dich gerne an mich persönlich oder schau dich hier um:
https://www.mehrgardt.de/veroeffentlichungen.html
Notfall-Konstrukte und Falsifikations-Blocker
Nehmen wir einmal an: Obwohl mit allen Mitteln (Supervision, Eigenanalyse, therapeutische Beziehungsklärung, theoretische Erörterungen, Aufspüren verdeckter Verstärker ...) versucht wurde, das Scheitern abzuwenden, endet die Therapie erfolglos. Nun setzt die allen dogmatischen Gebilden innewohnende Verteidigungs-Zirkularität ein. In allen Therapieschulen gibt es nämlich Notfallkonstrukte, die das Scheitern theorien- und therapeutenschonend erklären und dem Patienten in die Schuhe schieben.
Derartige Notfallkonstrukte verhindern effektiv die Widerlegung einer therapeutischen Methode und ihrer Anwenderin. Ich bezeichne sie auch als Falsifikations-Blocker.
Dabei können Haltung und Agieren der Therapeutin, wie mir Patienten immer wieder berichten, von einer gewissen Schärfe geprägt sein: Wenn Sie gesund werden wollen, müssen Sie …! Oder: Sie meinen mit Ihrer Kritik nicht mich, das ist vielmehr eine Vater-Übertragung! Oder: Ihr Kind symptomatisiert Ihre Konflikte! Oder vielleicht: Sie sind ja völlig gepanzert! Gerne auch: Wenn Sie x gemacht hätten, wären Sie nicht krank geworden!
Manche dieser Äußerungen werden so oder ähnlich von Behandlern zu ihren Patientinnen gesagt, manche klingen zwischen den Zeilen durch. In Berichten, Arztbriefen oder Gutachten ist bspw die Rede von fehlender Krankheitseinsicht, sekundärem Krankheitsgewinn, Widerstand, fehlender Differenziertheit, mangelnder Veränderungsbereitschaft.
Solche Äußerungen sind geprägt von Schärfen, Anklagen und Schuldzuweisungen!
Therapeuten-Botschaften wie diese sind verletzend, kränkend, schuldzuweisend. Sie stellen ein Gefälle zwischen Therapeutin und Patient her. Sie diskriminieren. Die Patientin hört so etwas heraus wie: Sie sind anders, nicht normal. Sie gehören nicht zu uns. Sie befinden sich auf einem Niveau weit unter mir.
Neben den oben genannten werden auch die folgenden Schuldzuschreibungen gerne verwendet: mangelnde Motivation oder Lernfähigkeit, Analysen-Widerstand, Vermeidung, Körperpanzer, Kontaktunterbrechung, Intelligenzminderung und, wenn alles nicht hilft: Todestrieb. Durch eine erkenntnistheoretische Brille betrachtet, beschreiben derartige Konstrukte keinesfalls individuelle Vorgänge im Hilfesuchenden. In erster Linie sind sie die persönlich-willkürlichen Projektionen der Therapeutin.
Einer solchen Betrachtung werden jedoch weitere Konstrukte in den Weg gestellt: So bilden etwa Übertragung und Abstinenz Verteidigungswälle gegen die menschliche Einbeziehung des Therapeuten in das emotionale Geschehen mit der Patientin, vergleichbar der ehernen Prostituiertenregel, den Freier nicht auf den Mund zu küssen, um sich ja nicht in diesen zu verlieben. Mit diesen Tricks wird der Therapeut aber vollends zur Hure, indem er die Patientin zur emotionalen Befriedigung lockt, sich der menschlichen Begegnung dann aber verweigert. Dementsprechend stellt Michel Foucault gar eine Analogie zwischen Medizin und Prostitution her!
Jede Schule hat da ihr eigenes Repertoire zur Selbstbestätigung, und man bedient sich zu diesem Zweck auch gern einmal im „feindlichen Lager“. Peter Fiedler fügt in einer Arbeit von 2004 diesem Arsenal noch eine weitere Abwehrwaffe gegen Infragestellung hinzu, nämlich das nachträgliche Diagnostizieren einer Persönlichkeitsstörung als Erklärungshilfe. Weil der Patient eine zunächst nicht sichtbare (narzisstische) Persönlichkeitsstörung aufweise, sei die Therapie erfolglos. So würde die Argumentation lauten, wenn sie denn offen ausgesprochen worden wäre. Das zu Erklärende (Therapieversagen) wird durch eine nachträglich gesetzte Prämisse (In Wirklichkeit hat der Patient eine Persönlichkeitsstörung.) erklärt – ein unzulässiger Zirkelschluss also!
Das nachträgliche Diagnostizieren einer Persönlichkeitsstörung ist eine besonders perfide Schuldzuweisung!
Hätte der Psychotherapeut jedoch in solchen Situationen den Mut zum Zweifel und könnte er auf derartige Vernichtungsstrategien verzichten, so würden sicherlich in ihm andere, hilfreichere Motive auftauchen, nämlich Neugier, Staunen, Fragen und Behutsamkeit. Oder wie es zugleich banal und unvergesslich ein Drogentherapeut auf einem Kongress über Substitution ausdrückte: Warum fragen wir nicht einfach die Junkies?!
Das Problem der Evidenz
Der wissenschaftliche Beleg dafür, dass dieser Weg, diese Behandlungsmethode, der einzig richtige ist, wird darin gesehen, dass empirische Studien ergeben haben, dass eine Gruppe von n Personen mit der Diagnose A nach der Behandlung mit der Methode B eine statistisch bedeutsam höhere Besserungsrate aufwies, als eine Gruppe von p Personen, die mit einer anderen oder einer Plazebo-Methode behandelt wurden. Die Wissenschaftlerinnen sagen dann: Die Therapiemethode B ist evidenzbasiert. Sie gilt damit als state of the art, also als wissenschaftlich anerkannte Methode für alle Patienten mit der Diagnose A. Gleichzeitig impliziert dies auch, dass die Anwendung einer anderen Methode C als unwissenschaftlich oder gar als Kunstfehler gilt.
Du erkennst also, dass dein Therapeut ganz schön unter Druck steht, mit der Methode B bei dir erfolgreich zu sein, und deshalb deine Anfragen, ob man nicht auch C, D oder E probieren könne, abwehren muss.
Die Probleme mit ausschließlich evidenzbasierten Therapie-Methoden sind aber die folgenden:
· Wahrscheinlichkeit: Sie beruhen auf Wahrscheinlichkeits-Aussagen: Selbst wenn im Labor eine Wirksamkeit von 80 % aller Fälle (was unrealistisch ist) errechnet wurde, heißt das noch lange nicht, dass du als Individuum von dieser speziellen Methode profitieren kannst. Die Psychotherapie versteht sich als nomothetische, dh an Gesetzes-Aussagen interessierte Methode. Sie sollte aber (zumindest auch) eine idiografische, dh den Einzelnen beschreibende Methode sein!
· Labor: Die Ergebnisse sind in einer künstlichen Laborsituation gemäß einer festgelegten Methode, einem Standard-Manual, zustande gekommen. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, mussten alle nicht in untersuchungsrelevanten Daten – wie individuelle Themen, Ansichten, Befindlichkeiten oder Bedürfnisse sowie auch die Biografie oder der soziale Kontext – der Probandinnen ausgeschlossen werden. Eine Übertragung in ihre Alltagswirklichkeit ist also problematisch.
· Ideale Probandinnen: Für die Untersuchungen wurden die Probanden gemäß bestimmten Kriterien ausgewählt. Es handelt sich damit um Patienten, die für die jeweilige Forschung ideal sind.
· Gütekriterien: Eine empirische Untersuchung muss bestimmten Gütekriterien genügen: Die Ergebnisse müssen wiederholbar sein (Reliabilität), von verschiedenen Forscherinnen nachvollzogen werden können (Objektivität) und auf die Alltagswirklichkeit übertragbar sein (Validität). Je besser aber Reliabilität und Objektivität sind, desto schlechter fällt die Validität aus und umgekehrt.
· Datengüte: Viele statistische Testverfahren beruhen auf einer theoretischen Datenqualität, genannt Skalenniveau, die oftmals nicht erfüllt ist. Bestimmte mathematische Operationen, auf denen solche Testverfahren beruhen, sind zum Beispiel nur erfüllt, wenn die einzelnen Daten-Ausprägungen konstante Abstände haben (Zentimeter, Temperatur …) und einen natürlichen Nullpunkt haben. Null Grad Celsius stellt beispielsweise keinen absoluten Nullpunkt dar; deshalb kann man nicht sagen, dass 20 Grad doppelt so warm sind wie 10 Grad. Wenn eine Probandin auf einer Skala von -5 bis +5 angeben soll, wie erfolgreich ihre Therapie war, dann kann man weder von gleichen Abständen zwischen den Skalenwerten ausgehen noch davon, dass der Wert 0 ein natürlicher Nullpunkt ist. Also können die erhobenen Werte weder addiert und multipliziert noch subtrahiert und dividiert werden. Es kann auch kein Durchschnittswert ermittelt werden.
· Karrieren: Wissenschaftliche Forschung ist die Summe persönlicher Karrieren: Es werden Dissertationen und Habilitationen gefertigt; man möchte einen Ruf für eine Professur erhalten; frau will bekannt werden; man strebt nach Geld und Anerkennung. Aus diesen Gründen ist es sehr unwahrscheinlich, dass – wie von der Wissenschaftstheorie gefordert – empirische Untersuchungen veröffentlicht werden, bei denen die sogenannte Nullhypothese bestätigt wird, das heißt: bei denen nichts herauskommt. Damit kann die Forscherin keinen Blumentopf gewinnen. Also verschwinden negative Befunde in der Versenkung, womit aber die positiven Ergebnisse zu Unrecht prägnant werden.[4] Oder, und das ist wahrscheinlicher, der Experimentator sorgt dafür, dass das Ergebnis positiv wird. Anscheinend sind solche Praktiken viel weiter verbreitet, als wir Laien alle vermuten.
Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn hat 1973 in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen sogar dargelegt, dass Wissenschaftler gar kein ursprüngliches Interesse an Erkenntnisgewinn hätten, sondern dass es ihnen vorrangig darum gehe, sogenannte Anomalien, also dem eigenen Forschungs-Paradigma widersprechende Befunde, abzuwehren! Grund dafür sei, dass das Paradigma, unter dem sie tätig seien, ihnen Karrieren, Status und Einkommen beschere.
· Signifikanz und Effektstärken: Es war immerhin die American Statistical Association (ASA), die vor einigen Jahren als Reaktion auf die vielfältigen Probleme statistischer Schlussfolgerungen die Weisung ausgab, den Begriff statistisch signifikant nicht mehr zu verwenden: Time to say goodbye to ‚statistically significant‘ and embrace uncertainty, lautet ihre Empfehlung: Es sei an der Zeit, sich von statistischer Signifikanz zu verabschieden und die Unsicherheit zu umarmen. Wenn man solche Begriffe wie Signifikanz und Effektstärken verwende, suggeriere dies den jeweiligen Befunden eine Bedeutung und Wahrheitsnähe, die ihnen niemals zukomme.
Ich hoffe, dass meine Ausführungen genügen, um die Unsicherheit von Begriffen, Diagnosen, Behandlungs-Methoden, Prognosen, Therapie-Modellen etc zu belegen. Das bedeutet natürlich überhaupt nicht, dass empirische Befunderhebung ab sofort zu unterlassen sei.
Was ich jedoch erreichen möchte, ist, dass die Interpretationen empirischer Forschungsergebnisse wieder als das betrachtet werden, was sie sind: als Hypothesen, die vorläufige Gültigkeit haben; als Modelle, die grundsätzlich beschränkt sind; als Sichtweisen, die auch des Korrektivs anderer Brillen bedürfen: fachliche Erfahrungen, Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Theologie sowie – nicht zuletzt – dem gesunden Menschenverstand von normalen Leuten wie dir und mir.
Empirische Befunde und theoretische Modelle sind nur kleine Pflastersteine auf dem Weg zu deiner Gesundung!
[1] Dazu habe ich einige Arbeiten verfasst, vgl. dazu: https://www.mehrgardt.de/veroeffentlichungen.html
[2] Viele Berufskolleginnen scheinen das verhaltenstherapeutische Verfahren der Exposition (Man setzt zB einen Phobiker der angstauslösenden Situation aus.) recht unkritisch anzuwenden. Ihnen ist das sog. Napalkov-Phänomen offenbar nicht (mehr) bekannt. Dieses besagt, dass das Durchleben einer massiven physiologischen Panikreaktion in aller Regel zu einer Neuverstärkung der Panik führt. So ist es kein Wunder, dass Patientinnen nach einer solchen Expositions-Behandlung die panikauslösende Situation (zB Tunnel, Brücke, Fahrstuhl, Spinnen …) zwar wieder aufsuchen können, es ihnen aber schlechter als zuvor geht, weil Erwartungsangst und Erregungsniveau deutlich angestiegen sind. Dennoch werden ihre Behandlungen in der Statistik als erfolgreich geführt – und damit als Bestätigung des Behandlungs-Verfahrens! Schlimmer noch: Exposition gilt von nun an als Therapie-Standard, der bei Vorliegen dieser Diagnose angewendet werden muss.
[3] Auch was man nicht sagt, denkt oder tut, schafft Tat-Sachen!
[4] Wenn zB Wirkungen und Nebenwirkungen von neuen Medikamenten beforscht werden, scheint eine gängige Praxis darin zu bestehen, dass negative Studien – also Untersuchungen, in denen keine positiven oder zu gravierende negative Wirkungen attestiert werden – gar nicht veröffentlicht werden. In Fachjournalen erfährt dann aber der Arzt nicht etwa, dass 50% der Studien jeweils positiv und negativ abschnitten; vielmehr liest er, dass zB 80 % der Studien – nämlich der veröffentlichten Untersuchungen! – positive Wirkungen bei nur geringen Nebenwirkungen hatten. Also wird er seiner Patientin genau dieses Medikament mit gutem Gewissen verordnen.
Angesichts derartiger Machenschaften ist es auch nicht verwunderlich, dass manche Antidepressiva – nach vielen Jahren der Anwendung und Millionen-Umsätzen – in neueren Studien als wirkungslos bewertet werden.