Dissoziation und Knautschzonen-Modell
Ein Herz für Lehrer #2
Lehrer brauchen zum Überleben eine krankmachende Strategie
Wiederholung
In der ersten Folge habe ich darüber berichtet,
dass Lehrer kränker sind als andere,
inwiefern Lehrerinnen anders sind als andere,
welchen besonderen Stressoren sie ausgesetzt sind,
dass vitale Bedürfnisse missachtet werden,
dass Lehrer viele Aufgaben zu erfüllen haben, für die sie weder auf Ausbildungen und Kompetenzen haben noch auf entsprechende Ressourcen zurückgreifen können,
dass Lehrerinnen in einer Mangel- und Misserfolgssituation arbeiten.
DAS KNAUTSCHZONEN-MODELL
Warum Lehrerinnen sich an der Garderobe aufhängen
Jetzt geht es darum, eine Erklärung zu finden, weshalb Lehrer zwar jammern, aber sich nicht wirklich gegen die krankmachenden Bedingungen zur Wehr setzen.
Meine Thesen
Um mit etwas Krankmachendem fertig zu werden, braucht man eine Strategie, die krank macht.
Wie passen diese Beobachtungen nun denn zusammen? Wie kommt es, dass ein offensichtlich derart kranker Berufsstand in einer derart kränkenden Schule so wenig aufbegehrt? Wieso wird so wenig Widerstand geleistet?
Darauf kann es doch nur die folgende Antwort geben:
Um in diesem Schulsystem zu funktionieren, muss der Lehrer sein subjektives Empfinden und Leiden ausschalten. Er lässt es in der Garderobe zurück.
Dissoziation
Diesen Vorgang nenne ich Dissoziation oder Abspaltung, nämlich von Leid, Unwohlsein, Missempfindung, Schwäche, Schmerz, Frustration – oder allgemein: von Gefühlen, Bedürfnissen, Körperempfindungen, Grenzen.
Rationalisierung, zu sehr im Kopf …
Unter dieser Perspektive erscheint auch die rationalisierende Lehrerin in neuer Sicht: Sie ist nicht krank geworden, weil sie den Kontakt zu sich verloren hat. Nein, sie hat den Kontakt zu sich verloren, weil sie mit einer funktionierenden Selbstwahrnehmung in der Umwelt Schule nicht überleben könnte. Nähme sie all dies wahr – Kränkungen, Demütigungen, Überlastungen, Entwürdigungen – wäre sie nicht dienstfähig.
Mit anderen Worten: Das Dissoziieren ist eine notwendige Strategie, um in einem pathogenen Umfeld zu überleben. Es erzeugt aber selbst Krankheit. Also:
Dissoziieren ist eine notwendige, pathogene Überlebensstrategie.
Jammern
Wieso hilft das vielfach zu vernehmende Lehrer-Jammern nicht? Das können Lehrerinnen doch so gut! Antwort: Jammern öffnet Ventile, baut allzu großen Druck ab und bewirkt dadurch ein weiteres Durchhalten-Können. MaW:
Das Jammern erhält das krankmachende System aufrecht und stärkt das System!
Das Knautschzonenmodell
Was du nicht merkst, bringt dich nicht um – jedenfalls noch nicht!
Salopp gesagt, drückt dieses Modell den folgenden einfachen Zusammenhang aus: Wenn ich das Wirken eines Stressors nicht erkenne, kann ich diesen auch nicht abwehren. Stattdessen verhalte ich mich so, als ob es diesen Stressor nicht gäbe – und arbeite und funktioniere weiter.
Ich möchte dieses Geschehen anhand meines Knautschzonen-Modells (vgl. Abb. unten) verdeutlichen.
Zwiebel: Stelle dir den psychophysischen Organismus wie eine Zwiebel vor, die aus mehreren Schalen besteht. Jede Schale verfügt nach außen/ zur nächstäußeren Schale hin über eine …
Grenze, an der durch unterschiedliche körperliche oder seelische Mechanismen ein Stressor abgewehrt werden kann. Wenn die Abwehr gelingt, ist der Organismus unbeschadet aus diesem Zusammenstoß hervorgegangen.
Abspaltung: Wenn aber der Stressor zu stark ist oder – und hier kommt das Dissoziieren ins Spiel – wenn dieser gar nicht bemerkt wird, dringt der Stressor in die jeweilige Schale ein und deformiert diese wie bei einem Autounfall. Durch diese „Knautschzone“ wird die Aufprall-Energie aufgezehrt. Sie hinterlässt jedoch einen Schaden, der in der äußeren Schale relativ harmlos ist: In der Analogie zum Autounfall ist vielleicht nur die Stoßstange verbeult.
Der Stressor kann aber so energiereich oder so nachhaltig sein, dass er in tiefere Schichten vordringt. Auch dort ist an den Übergängen zwischen den Schalen Abwehr möglich. Und auch dort findet Deformation statt, wenn die Abwehr nicht gelingt.
Knautschzonen-Modell (c) Michael Mehrgardt, 2024
Die Ebenen oder Schalen
… habe ich wie folgt benannt:
A: Ebene des Unwohlseins: Hier treten vage, flüchtige Symptome auf, die manchmal nur von außen sichtbar sind (Fehlleistungen, Lustlosigkeit, Kopfschmerzen, Gereiztheit …).
B: Ebene der Infiltration: Leichtere Symptome sind subjektiv spürbar (grippaler Infekt, Niedergeschlagenheit, Unruhe …).
C: Ebene der funktionellen Verschiebungen: Funktionale psychische oder somatische Symptome treten auf. Da sie dazu neigen, chronisch zu werden, sind sie behandlungsbedürftig (häufige Durchfälle, Fieber, depressive Verstimmungen, Ängste, Tinnitus, Hypertonie, Substanzmissbrauch …).
D: Ebene der strukturellen Verschiebungen: Strukturelle Veränderungen an einzelnen Organsystemen, an psychischen Strukturen oder im Sozialleben treten auf (sozialer Rückzug, Magengeschwüre, Zwangserkrankung, Sucht, anhaltende Panik oder Depressionen, Klinikeinweisung, Operation …).
E: Ebene der existenziellen Verschiebungen: Die strukturellen Veränderungen bedrohen die somatische, psychische oder soziale Existenz (Dissoziative Persönlichkeitsstörung, Psychose, Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Scheidung, Vereinsamung, chronischer Alkoholismus, Suizidversuch …).
F: Ebene des Todes.
Versagen der Grenze
Das Erkennen des Stressors ist bei Lehrerinnen jedoch chronisch abgeschaltet! Das Geschehen an der jeweiligen Grenze wird chronisch dissoziiert. Dissoziiert, abgespalten also, werden alle Ereignisse an der sensorischen Grenzoberfläche, so dass der Organismus nicht mehr die Chance hat, diese dort abzuwehren, sondern gezwungen ist, die Energie des Stressors auf einer tieferen Ebene zu reflektieren oder zu resorbieren.
Hier kommt es zu einer Schädigung, zu einer psychischen, mentalen, körperlichen oder sozialen Deformation.
Das Dissoziieren erfolgt, weil …
der Stressor zu massiv ist (Trauma),
der Stressor zu häufig und unterschwellig auftritt (steter Tropfen ...),
der Organismus an chronische Stressoren adaptiert (z.B. Lärm, Geruch, sozialer Druck),
die Abwehr nicht gelernt oder gar verboten wurde (vgl. meine Veröffentlichungen über Introjektion (s.u. Fußnote 1), Retroflexion (s.u. Fußnote 2) , zB in meinen Youtube-Videos über Depression).
Fußnoten
1) Hineinverlagerung eines äußeren Geschehens in den eigenen psychophysischen Organismus (z.B. das Internalisieren eines externen Konflikts)
2) Zurückhalten und Scharfes-gegen-sich-selbst-Wenden eines ursprünglich nach außen gerichteten Impulses bzw. Bedürfnisses
3) Mehrgardt, M.: Diagnose LehrerIn. Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 9, 2002, S. 9-14
Zur Veranschaulichung …
… übernehme ich ein überarbeitetes Beispiel aus einem früheren Artikel: (s.o. Fußnote 3)
Verfolgen wir einen typischen Stressor durch dieses Modell hindurch. In unserem Beispiel handelt es sich um einen ganz alltäglichen, nämlich Entwertung der eigenen Arbeitstätigkeit. Dies kann gelangweiltes Gähnen einer Schülerin sein, ein entsprechender Blick, eine abschätzige Bemerkung einer Kollegin, auch schlechte Klassenleistung, die frau auf eigenes Versagen attribuiert, der 100. Zeitungsartikel über „die Lehrerinnen“ oder etwa eine offene Beschimpfung durch Eltern. Dieser Stressor, dargestellt durch 3 Pfeile in der Abbildung oben, trifft auf die Oberfläche, die erste Grenze des Pädagoginnen-Organismus.
Im günstigen Fall wehrt die Lehrerin einen verletzenden Angriff eines Vaters ab (schräger Pfeil oben links). Sie disidentifiziert sich also mittels eines Nein! oder eines Ich mag das nicht! Vielleicht folgt daraufhin ein konflikthafter Disput mit dem Vater oder auch dessen Entschuldigung (woraus sich durchaus ein neuer Stressor ergeben kann!).
Ebene A:
Es kann aber auch sein, dass der Stressor diese Disidentifikations-Grenze durchbricht, etwa weil der Vater seinen Angriff „nett verpackt“ (So einen angenehmen Job wie Sie hätte ich auch gern!) oder weil in diesem Kollegium hinsichtlich der Eltern das Rohe-Eier-Gesetz gilt.
Infolgedessen empfindet die Lehrerin vage Gefühle von Unwohlsein, Ärger, Unzufriedenheit oder Müdigkeit.
Vielleicht macht sie sich zum Schluss einer Fehlleistung schuldig: Ich danke Ihnen für das furchtbare Gespräch.
Oder sie vergisst ganz einfach, was sie zu erledigen versprochen hat.
Vielleicht erleben sie auch nur die anderen als gereizt, was sie selbst weder wahrnimmt noch in den kontextuellen Zusammenhang des Elterngesprächs rückt.
Weitere biopsychosoziale Abwehrreaktionen (schräger Pfeil links, Ebene A) wären bspw.: Ausspucken, Aushusten, Verschlafen, ein Gläschen Wein zur Entspannung.
Möglicherweise ist damit die Stoßenergie dieses Stressors auf dieser Ebene A aufgezehrt, unschädlich gemacht. Dann hat die autonome biopsychosoziale Abwehr erfolgreich gearbeitet.
Ebene B:
Es kann aber auch sein, dass die Energie des Stressors noch immer so groß ist, dass dieser in die nächste Schicht, die Ebene der Infiltration (B), eindringt.
Z. B. haben mehrere Zusammenstöße dieser Art das biopsychosoziale Immunsystem geschwächt, so dass unsere Lehrerin sich einen grippalen Infekt zuzieht oder einen plötzlichen Weinanfall oder Wutausbruch generiert.
Auf dieser Ebene ist die Infiltration (z. B. eine Infektion oder eine Selbstanklage) bereits erfolgt, so dass für die Person selbst deutlich spürbare Beschwerden auftreten.
Weitere derartige akute Reaktionen könnten sein: heftiger Ekel mit Erbrechen, massive (scheinbar unangemessene) Verweigerung, black out, Fieber, Ohnmacht.
Wenn unsere Hauptperson diesem inneren Geschehen nachgibt, sich z. B. ins Bett legt, den anstehenden Konflikt durchsteht oder den Hintergrund ihres Wutausbruchs reflektiert (wozu sie Zeit braucht!), hat sie gute Chancen, sich damit dieses Stressors entledigt zu haben (vgl. schräger Pfeil links, Ebene B).
Ebene C:
Viele kennen das Phänomen, dass sie sich jedoch dieser akuten Entlastungsreaktion, obwohl fühlbar nötig, nicht hingeben: Es gibt ja noch so viel zu tun! Und außerdem: die Kolleginnen ...!
Vielleicht kommt man dann mit einem Rezidiv davon, welches einen mit mehr Nachdruck aufs Lager zwingt – man verbleibt dann quasi auf Stufe B.
Unsere Lehrerin aber hatte seit einer Woche Zeugniskonferenzen, und abends liefen gerade die Proben für den Auftritt mit ihrer Band, den sie nicht gefährden mochte. Verständlich!
Nun ist es aber vor zwei Monaten genauso gewesen, und genau besehen läuft sie schon seit geraumer Zeit „auf Reserve“. Sie überschreitet also die Grenze zur Stufe der funktionellen Verschiebungen (C).
Aus der Sicht des Psychotherapeuten oder der Ärztin setzt hier die Indikation zur Behandlungsbedürftigkeit ein.
Unsere Lehrerin hat sich aus dem Pool der hier anzusiedelnden funktionellen Erkrankungen (vegetative Störungen, chronischer Durchfall, Versagensängste, leichte Depression, Tinnitus, Hörsturz, Alkoholmissbrauch, Zwangshandlungen, Herzrhythmusstörungen ...) ein wiederkehrendes Rückenleiden „ausgesucht“. Ein Bandscheibenvorfall konnte (bisher) ausgeschlossen werden. Die Schmerzen, ausgelöst durch verhärtete, die einzelnen Wirbel immer wieder derangierende Muskeln, ermöglichen ihr einerseits eine gewisse Schonung, andererseits das Weiterfunktionieren.
Ein neues kompensatorisches Gleichgewicht entsteht, etwas Rücksicht hier und das Einweben des wöchentlichen Termins beim Physiotherapeuten – seine Praxis liegt genau zwischen Wohnung und Schule – in den Alltagsplan dort. Oftmals sind diese kompensatorischen (sekundären) Gleichgewichte somatisch begründbar, z.B. Medikamente gegen Arbeits- und Bluthochdruck, Schuherhöhung fürs „Sich-Krumm-Machen“ und bei Wirbelsäulenverkrümmung.
Manchmal manifestieren sie sich mehr im sozialen Beziehungsgefüge: Crowding und Single-Dasein, manchmal im fluchtartigen Reisegebaren der Pädagoginnen.
Kompensatorische Gleichgewichte funktionieren oft über Jahre. Vielleicht wurde mit diesem auch ein dauerhaft lebbarer Modus gefunden, dessen „Kosten“ erträglich sind (vgl. schräger Pfeil, links, Ebene C).
Ebene D:
Da für die Erhaltung solcher Gleichgewichte aber ein großer Energieaufwand benötigt wird, neigen diese – besonders mit zunehmendem Alter oder in Belastungsphasen – zur Dekompensation.
Bei unserer Beispielsperson ist das Gleichgewicht jahrelang stabil geblieben, bis sie dann mit einem schlimmen Bandscheibenvorfall in eine strukturelle Verschiebung (Ebene D) hinein geriet. Es folgten mehrere Operationen, eine nicht-absehbare Arbeitsunfähigkeit. Ihre sozialen Kontakte reduzierten sich schlagartig. Sogar ihre Kollegin und beste Freundin, mit der sie immer Sport getrieben hatte, blieb eines Tages ganz weg.
Unsere Lehrerin entwickelte mit Gefühlen von Leere, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit eine schwere Depression, die eine Psychiatrie-Einweisung und eine anschließende psychotherapeutische Rehabilitation nach sich zog.
Wir wollen hoffen, dass diese Krise (vgl. schräger Pfeil links, Ebene D) sie gezwungen hat, nach erfolgreicher Trauer von vielem Gewohntem Abschied zu nehmen und neue Wege zu erkunden. Vielleicht hat sie sich aus ihrer lastreichen und verbiegenden Beziehung befreit, hat eine aufrechte Haltung in ihrem Job erworben, hat vielleicht gelernt, „Fünfe gerade sein“ zu lassen. Vielleicht geht sie heute auch einer gänzlich anderen Beschäftigung nach und hat eine kleine Boutique eröffnet. Die frühzeitigen Signale einer beginnenden Depression versteht sie nun zu deuten.
Ebene E:
Mag sein, dass sie sich (vorerst) davor bewahren konnte, auf die Ebene der existenziellen Verschiebungen (E: Herzinfarkt, chronischer Alkoholismus, Psychose, Multiple Sklerose, Schlaganfall, Obdachlosigkeit oder Suizidversuch) zu gelangen, auf der nur radikale Veränderungen (s. schräger Pfeil links, Ebene E; z.B. „Ausstieg“, vorzeitiger Ruhestand, Auswandern, Organtransplantation) noch die Chance des Wieder-heil-Werdens in sich tragen.
Ebene F:
Ist auch dieser Ausweg vertan, dringt man schließlich in die Schicht des Todes (F) ein. Letztendlich können wir es natürlich auch bei noch so guter Balance nicht verhindern, all diese Schichten zu durchleben und schließlich dem Tod anheim zu fallen – aber vielleicht nicht gerade dann, wenn man in den wohlverdienten Ruhestand getreten ist!
Wachstum versus Schädigung
Wachstum
Eine Person kann durchaus gezielt die Selbstwahrnehmung abschalten, um in einer bedeutsamen Situation durchhalten zu können. Idealerweise erfolgt dieser Prozess unter bewusster Kontrolle, also nicht dissoziativ! Damit ist gewährleistet, dass die Selbstwahrnehmung anschließend auch wieder „angeschaltet“ wird und Regeneration erfolgen kann.
Auf diese Weise kann der Organismus gestärkt werden und wachsen. Im Idealfall besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Anstrengung, Verausgabung, Selbstvergessenheit, Hingabe (und zeitweise bewusstem Abschalten) einerseits und Selbstschutz und -fürsorge, Empfindlichkeit, Abwehr, Abgrenzung, Krankheit (!) auf der anderen Seite.
Schädigung
Bei Lehrkräften ist das Gleichgewicht oft zugunsten der unbewussten Dissoziation verschoben, so dass sie auf Überforderungen und Belastungen nicht mehr adäquat reagieren können.
Dieses Modell verweist darauf, dass Krankheit, Fehlleistungen, Schwächen, ein abgrenzendes Nein! notwendig und kein zu vermeidendes Übel sind. Vielmehr sind sie unabdingbare Voraussetzungen der Gesundheit oder – besser noch – Bestandteil der Gesundheit.
Manchmal hat gar der folgende Satz Gültigkeit:
Es ist gesund, krank zu sein.