Depressionen: Angehörige – Das unsichtbare Leid der Familie

Jeder Angehörige leidet auf seine Weise, wenn ein geliebter Mensch an Depressionen erkrankt – Eltern, Partner, Kinder. Viele Fragen entstehen: Bin ich irgendwie schuld an der Krankheit? Ist es okay, Zeit ohne die kranke Person zu verbringen? Diese ständigen Fragen sind noch die einfachste Belastung. Eigentlich benötigen Angehörige von Depressiven ebenso dringend professionelle Unterstützung wie die Betroffenen selbst. Doch leider ist die Suche nach (fachmedizinischer) Hilfe oft vergeblich…

Auswirkungen der Depression auf Angehörige

Depression Angehörige und Familie

Geringe Lebensqualität & niedriges Wohlbefinden

Wer mit psychisch kranken Menschen zusammenlebt, weist eine deutlich niedrigere Lebensqualität auf als andere Menschen. Unter Angehörigen sind insbesondere Frauen massiv belastet, was vermutlich mit traditionellen Rollenerwartungen zusammenhängt: Die Mehrfachbelastung durch Kinderbetreuung, Pflege, Berufstätigkeit, Erziehung und Haushaltsführung führt schnell in die Überforderung. (Vgl. Depression Symptome bei Frauen)

Finanzielle Schwierigkeiten

Hinzu kommen finanzielle Einbußen, die nicht auf die leichte Schulter zu nehmen sind. Oft werden Betroffene arbeitsunfähig oder verlieren ihren Job. Doch die Depression zwingt nicht nur die Kranken, sondern auch ihre Angehörigen zu einem Rückzug aus dem Berufsleben, da diese vermehrt Aufgaben übernehmen müssen. Diese existenziellen Sorgen verschärfen die prekäre Situation (erhöhtes Armutsrisiko).

Eingeschränkte Freizeit

Die Freizeit ist durch die unberechenbare Natur der Erkrankung schwer zu gestalten. Sowohl spontane Unternehmungen (z. B. Kino) als auch geplante Ausflüge (z. B. Urlaube, Tagestrips) werden fast unmöglich – wenn sie finanziell überhaupt noch zu stemmen sind. Und selbst wenn Pläne geschmiedet werden können, scheitern sie allzu oft an den Leiden und Problemen, welche die Krankheit mit sich bringt.

Mehrfachbelastung im Alltag

Der gewohnte Alltag gerät völlig aus den Fugen. Jede kleinste Routineaufgabe fällt einem depressiv erkrankten Menschen unglaublich schwer; in einigen Fällen ist es sogar unmöglich, überhaupt noch etwas zu tun (vgl. Schwere Depression: körperliche Symptome). In der Folge müssen Angehörige zusätzliche Verantwortung übernehmen und die anfallenden Pflichten irgendwie meistern.

Mehr erfahren » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten

 

Depressionen als Verlust

Angehörige geraten in einen Trauerprozess

Viel zu wenig beachtet, doch essenziell ist die Verlusterfahrung, die nahe Angehörige durchmachen. Gerade die engste Familie – Eltern, Partner_innen, Geschwister und Kinder – gibt häufig an, eine depressive Erkrankung als herben Verlust zu empfinden (2). Vgl. auch Traurigkeit & Trauer und Trauer oder Depression?

Zu Recht:

  • Eltern sind ihrer Träume und Hoffnungen beraubt, da die Zukunft ihres Kindes in weite Ferne rückt.

  • Partner_innen müssen schmerzlich realisieren, dass die gemeinsamen Zukunftspläne verpuffen, zukünftige Lebensentwürfe sind ungewiss.

  • Geschwister schmerzt v.a. der Verlust der früheren Verbindung, die einmal Nähe und Vertrautheit bedeutete.

  • Kinder spüren den schmerzlichen Verlust der elterlichen Nähe, Aufmerksamkeit und Stütze, wenn Vater oder Mutter depressiv erkrankt sind.

Vgl. Depressiver Partner zieht mich runter – Gründe & Tipps

  • Depressionen schaffen Distanz. Aktivitäten, die einst Freude bereitet haben, lassen sich nicht mehr miteinander teilen, das Gemeinschaftsgefühl wird untergraben.

  • Spürbar ist vor allem der Verlust der Stabilität im Alltag. Betroffene ziehen sich oft zurück und können weniger Verantwortung im Haushalt, bei Verpflichtungen & Co übernehmen. Das erhöht logischerweise die Belastung für Angehörige, die sich gezwungen sehen, zusätzliche Rollen zu übernehmen und mehr Aufgaben zu schultern.

  • Depressionen sind oft unberechenbar. Langfristige Projekte oder Lebensereignisse müssen auf unbestimmte Zeit verschoben oder völlig ad acta gelegt werden. So sind Angehörige vielen Frustrationen, Enttäuschungen und Sorgen ausgesetzt.

  • Die stetige Konfrontation mit der Krankheit und das Mitfühlen mit der betroffenen Person verstärken die eigene Trauer und Hilflosigkeit der Angehörigen.

  • Schließlich ist auch die soziale Ebene betroffen. Viele Freunde und Bekannte verstehen nicht, in welcher prekären Situation sich Angehörige befinden. Die meisten sozialen Kontakte gehen aufgrund von Unsicherheit und Selbstschutz auf Distanz. Treffen und Begegnungen werden seltener, das (unterstützende) Netzwerk schrumpft gewaltig.

 

Belastungen der Angehörigen

  • hoher zeitlicher Aufwand durch Betreuung

  • finanzielle Belastung

  • berufliche Nachteile

  • gesundheitliche Probleme

  • wenig Freizeit

  • negative Folgen auf soziale Beziehungen

  • Gefühl des Nicht-Ernstgenommen-Werdens

  • Mangel an professioneller, ganzheitlicher Unterstützung

  • emotional-psychische Überforderung

  • Unsicherheiten und Probleme im Umgang mit depressiven Menschen

  • Diskriminierung und Ablehnung

 

Die übersehenen Leiden der Familie

Für die betroffenen Familien verändert sich alles. Nicht nur die Aufgaben müssen neu verteilt werden, auch die Positionen der einzelnen Familienmitglieder verändern sich drastisch. Kinder übernehmen beispielsweise oft elterliche Verantwortung für ihre Geschwister oder müssen sogar die Rolle des Partners ausfüllen. Gesunde Partner_innen finden sich wiederum in einer Vermittlerposition zwischen dem Erkrankten und anderen Familienmitgliedern (Schwiegereltern, Großeltern oder Geschwistern) wieder. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Belastungsfaktoren:

 

Stigmata & Unverständnis von außen

Ein häufig genanntes Problem betrifft das Informationsdefizit. Professionelle Fachkräfte erkennen Angehörige häufig nicht als Mitbetroffene an und klammern sie weitgehend von der Behandlung aus. Wenn es ein Gespräch mit den Angehörigen in der Therapie gibt, dann nur ein einziges Mal. Sie werden also großteils im Ungewissen gelassen, was Krankheit, Therapie, Umgang und Selbstschutz betrifft. Zudem erfahren Angehörige wenig Unterstützung und begegnen Widerstand seitens therapeutischer Fachkräfte.

Viele werden sogar mit Vorurteilen abgetan, ohne je ein Gespräch mit den Behandelnden geführt zu haben. Zum Beispiel wird ihnen suggeriert, sie seien überfürsorglich, co-abhängig, übergriffig, narzisstisch etc. (vgl. auch Stigmatisierung in der Psychiatrie sowie Stigmatisierung psychisch Kranker). Eine Einbeziehung in den psychotherapeutischen Prozess bleibt fast immer aus.

Als wäre das nicht schon genug, trägt noch das persönliche Umfeld der Angehörigen zur Isolation bei. Die Unsicherheit und Überforderung im Umgang mit der Erkrankung veranlasst viele Freunde, Bekannte und Familien-Mitglieder, den Kontakt zu reduzieren oder gänzlich abzubrechen.

Soziale Distanz ist eine herbe Zurückweisung (nicht selten verbunden mit tatsächlichen Schuldzuweisungen von außen). Das alles und der Mangel an Empathie führen dazu, dass sich Angehörige von Depressiven mehr und mehr von ihren Mitmenschen ausgegrenzt fühlen.

 

Scham- und Schuldgefühle bei Angehörigen

Wenn du Angst vor sozialer Stigmatisierung haben musst – dazu zählen z. B. abwertende Äußerungen oder verurteilende Blicke – kommen natürlich Scham- und Schuldgefühle auf. Viel Angehörige schämen sich für die Erkrankung ihres Familienmitglieds, weil sie ständig auf Abwertung und Unverständnis von außen stoßen. Gleichzeitig fühlen sie sich Betroffenen gegenüber schuldig für dieses Schamempfinden.

Zudem löst die Krankheit selbst Schuldgefühle bei Angehörigen aus – genauso wie bei den Betroffenen (vgl. Schuldgefühle bei Depressionen).

So gut wie alle Angehörigen quälen sich mit dem Gedanken, sie könnten mitverantwortlich für die Depression sein.

Eltern plagen Selbstzweifel über ihre Erziehungsmethoden. Jüngere Geschwister haben Schuldgefühle, weil sie den Eindruck haben, Bruder oder Schwester zurückzulassen usw.

 

Unsicherheiten im Umgang mit der Erkrankung

Das alltägliche Zusammenleben ist erheblich strapaziert. Das liegt nicht nur an den vielen zusätzlichen Aufgaben und Pflichten, welche Angehörige wuchten müssen, sondern auch am veränderten Verhalten der Betroffenen. Man ist ständig mit dem aggressiven, ängstlichen, lethargischen etc. Verhaltensweisen der Erkrankten konfrontiert. Vgl. auch Depression: Aggressionen in 50 % aller Fälle

Das überfordert auf Dauer. Einige empfinden vor allem das abweisende, teilnahmslose Verhalten der Betroffenen als verletzend.

Es fast unmöglich, die krankheitsbedingten Verhaltensänderungen von den eigentlichen Charaktereigenschaften eines Menschen zu unterscheiden. Trotzdem werden Angehörige von der Fachmedizin angehalten, das zu lernen – neben all der Belastung und ohne Hilfe. Sie sollen Vorwürfe von Erkrankten nicht persönlich nehmen, während sie gleichzeitig ihre eigenen Grenzen wahren müssen und nicht jedes Verhalten tolerieren sollten.

Dabei wird übersehen, dass dieser Lernprozess ein gewisses Maß an Ressourcen voraussetzt, die Angehörige von Depressiven oft nicht mehr haben. Zudem ist der ständige Wechsel zwischen Verständnis und Selbstschutz äußerst anstrengend – so anstrengend, dass sie immer wieder in die Erschöpfung führt. Das Gleiche gilt für die Einschätzung, wie viel Verantwortung man Erkrankten zumuten kann, ohne sie zu über- oder unterfordern. Dieses permanente Einschätzen wiegt schwer, muss regelmäßig neu ausgehandelt werden und verbraucht viel emotionale und psychische Energie.

 

Ängste & Sorgen von Angehörigen

Zu den belastenden Scham- und Schuldgefühlen kommen ausgeprägte Ängste und Sorgen um die Zukunft. Eltern sorgen sich beispielsweise, wer die Pflege für ihr Kind übernehmen wird, sollten sie im Alter selbst nicht mehr dazu in der Lage sein. Partner_innen zweifeln, ob ihre Beziehung oder Ehe unter dieser Last überhaupt Bestand haben kann. Und wenn ja, wie lange noch.

Vgl. auch Depression beim Partner: extreme Folgen für die Beziehung

Neben diesen langfristigen Sorgen sind sie auch zahlreichen akuten Ängsten ausgesetzt. Viele zweifeln an ihrer Fähigkeit, den Alltag mit den Betroffenen meistern zu können. Die Angst vor Rückfällen oder Suizid ist groß.

 

Was hilft? – Tipps für Angehörige

Tipps gibt es viele. Die eigentliche Herausforderung liegt in der Umsetzung, denn das ist viel komplizierter als es sich Außenstehende vorstellen können. Einfache Lösungen greifen hier selten. Trotzdem ist es wichtig, nicht in Resignation zu verfallen.

3 wichtige Schutzfaktoren für Angehörige

Emotionale Unterstützung ist ausschlaggebend, damit du als Angehörige_r offen über deine Gefühle und Sorgen sprechen kannst. Studien zeigen, dass Selbsthilfegruppen speziell für Angehörige entlastend wirken (Erfahrungsaustausch, Bewältigungsstrategien, Trost, Unterstützung).

Ebenso bist du auf das unmittelbare soziale Netzwerk (Familie, Freunde, Nachbarn) sowie professionelle Unterstützung angewiesen, die dir Verständnis und Hilfe bietet. Diese Ressource ist unheimlich wichtig, um die emotionale Belastungen zu verringern und vor Vereinsamung zu schützen.

Ein weiterer zentraler Punkt: Freiräume erhalten und diese bewusst gestalten. Das Weiterführen vertrauter Aktivitäten und Hobbys ist wichtig, damit du positive Erlebnisse sammeln kannst. Das heißt vorrangig, Zeit zu schaffen, in der du dich ohne die erkrankte Person entspannen und auftanken kannst.

 

Fazit: Depression und Angehörige

Generell empfehle in dieser Situation, den Ratgeber von Bischkopf zu lesen.

Sowohl Laien als auch Fachleute haben oft kein Verständnis für die enormen Belastungen, unter denen Angehörige von Menschen mit Depressionen leiden. Die wenigen Forschungen zum Thema zeigen, dass viele alleingelassen werden. Sie werden weder im privaten Kreis noch von medizinischem Personal in ihrer Krisen-Situation “gesehen”. Das Risiko für Angehörige ist daher hoch, selbst zu erkranken. Umso wertvoller sind die wenigen Hilfsangebote:

Hilfsstellen für Angehörige


Quelle:

1) Sarah Kleinoth: Depressionen und ihre Angehörigen: Unterstützungsmöglichkeiten neben belastender Symptomatik unter Wahrung des Selbstschutzes, 2021
2) Lea Melikjan & Marianny Triviño: Wenn ich auf einmal alleine in der Partnerschaft bin... Beratung von Partnerinnen und Partner depressiver Menschen in der Sozialen Arbeit
3) Müller-Rörich et al.: Schattendasein. Das unverstandene Leiden Depression. Springer, Berlin, Heidelberg, 2013
4) Wieser E, et all: Mental Disorder and Partnership: the Influence and Potential Burden of Affective Disorders on the Quality of Partnerships. Psychiatr Prax. 2016 Sep;43(6):305-11. German. doi: 10.1055/s-0034-1387588. Epub 2015 Apr 17. PMID: 25891886.

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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Sterben und Tod – Was man darüber lernen kann

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KRITIK AN DER OFFIZIELLEN PSYCHOTHERAPIE #4 - VERTIEFUNG