KRITIK AN DER OFFIZIELLEN PSYCHOTHERAPIE #4 - VERTIEFUNG
Sogenannte Selbstverständlichkeiten
Eine emanzipatorische Psychotherapie zielt auf Überwindung von Doxai und auf die Nutzung von Paradoxa. Das klingt sehr abgehoben, und deshalb möchte ich hier genauer erklären, was damit gemeint ist:
Doxai
Eine Doxa (Mehrzahl: Doxai) ist nach dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu eine Meinung oder Überzeugung, die in einer bestimmten Gruppe von Menschen auch in sehr kontroversen Diskussionen nicht infrage gestellt wird. Das bedeutet, dass sich die (über irgendein Thema) Streitenden in bestimmten Grundanschauungen einig sind, ohne auf die Idee zu kommen, dies zu diskutieren.
Die Krankheits-Doxa:
Eine solche Doxa hast du bereits kennen gelernt: Krankheit ist schlecht und muss bekämpft werden. Es gibt sehr viele Doxai. Das Problem ist dabei nur, dass sie normalerweise nirgends aufgeschrieben sind, eben weil sie ja so selbstverständlich scheinen. Gemäß dieser Doxa wird Krankheit bekämpft, ausgemerzt, abgekürzt und unterdrückt. Alles Kranke wird herausgeschnitten und entsorgt. Ob dies unserem Immunsystem gefällt, ob die wegfallenden Erholungs- und Erneuerungszeiten negativ zu Buche schlagen, steht nicht zur Debatte.
Die Solipsismus-Doxa: *
*Solipsismus ist die philosophische Haltung, dass nur das eigene Ich mit Sicherheit existiert. Alle anderen Dinge und Wesen außerhalb von mir sind die Erzeugnisse meines Geistes.
Eine sehr interessante Doxa sehe ich darin, dass in unserer westlichen Wissenschaft die Seele (oder das Selbst oder die Persönlichkeit) des Menschen unhinterfragt als innerhalb der Haut, also in uns, angesiedelt wird. Die Seele ist damit von vornherein ein- und nach außen abgeschlossen. Ein Seelenzustand kann insofern nicht gleichzeitig mehrere Personen erfassen.
Emotionale Atmosphären, wie zB Massen-Panik oder -Ekstase, können mit dieser Doxa schwerlich erfasst werden. Diese stillschweigende Prämisse (= Voraussetzung) gilt als allgemein akzeptierte Grundlage, auch wenn die Verfechter der unterschiedlichen Konzepte ihre Auseinandersetzung ansonsten äußerst erbittert führen.*
* Zum Beispiel gab und gibt es erbitterte Diskussionen darüber, ob Eigenschaften wie Intelligenz, Introversion, Aggressivität … angeboren oder durch Umwelteinflüsse erworben sind.
Dass das Selbst oder die Seele nicht notwendigerweise als in uns angesiedelt betrachtet werden muss, zeigt ein Blick auf andere Kulturen. Im Buddhismus etwa wird das persönliche Selbst als Illusion verstanden und eher das Verbundensein allen Lebens, die Selbstlosigkeit, thematisiert.
Wenn aber in unserer Kultur das Wesentliche des Menschen, seine Seele bzw. sein Selbst, von vornherein als isoliert angesehen wird: Ist es dann ein Wunder, dass sich unsere Gesellschaft auf eine Weise entwickelt, welche die Menschen sich zunehmend vereinzeln und sich allein fühlen lässt?
Ist es dann nicht auch folgerichtig, wenn der Einsame sich für sein Alleinsein und der Kranke sich für sein Leiden als allein verantwortlich empfindet, sich dessen schämt und versucht, es vor anderen geheim zu halten?
Seelenzustände wie Glück, Naturerleben, Leid widersprechen grundsätzlich, wie jeder Mensch erfahren haben dürfte, dieser Doxa. Denn Glück vermehrt sich, Leid halbiert sich, wenn man es teilt, und befindet sich dann jeweils „in“ beiden Personen oder in einem gemeinsamen „Raum“, dem beide Personen zugehören.
Die Entweder-Oder-Doxa:
Eine weitere Doxa besteht darin, dass nicht gleichzeitig ein Sachverhalt und sein Gegenteil wahr sein können. (Aristoteles hat sinngemäß gesagt: A ungleich Nicht-A.) Damit geraten wir aber schnell in Schwierigkeiten, nämlich dann, wenn Person X behauptet, dass A passiert ist, und Y genauso sicher ist, dass A nicht passiert ist.
Gemäß dieser Doxa kann aber nur eine Person Recht haben, die andere ist dementsprechend entweder dumm, bösartig oder betrügerisch. Du weißt sicherlich, was jetzt passiert: Beide streiten, und zwar meist bis ins Eingemachte, weil niemand sich dem Verdacht aussetzen will, dumm oder falsch zu sein.
Eine Lösung könnte darin bestehen, die Existenz widersprechender Sichtweisen anzuerkennen und, statt über richtig und falsch zu streiten, über die zugrundeliegenden Interessenskonflikte zu verhandeln.*
* Über diese Lösungsstrategie in Paarkonflikten habe ich einige Videos auf meinem Youtube-Kanal hochgeladen. Die Orientierung an den dort vorgeschlagenen Methoden kann helfen, die eigene Partnerschaft, aber auch andere soziale Beziehungen, deutlich zu „entgiften“ und zu bereichern.
Übrigens gibt es solche unauflösbaren Streits auch in der Physik, beispielsweise bei der Frage, ob Licht aus Teilchen oder Wellen besteht oder bezüglich der Verschränkung von subatomaren Teilchen. Allerdings sind Physikerinnen oft toleranter in der Akzeptanz widersprüchlicher Befunde.
Die Gottes-Doxa:
Selbst eine so erhabene Instanz wie Gott ist Gegenstand einer Doxa. Sie ist nämlich allmächtig und allgütig: Wie aber kann sie das sein, angesichts so vieler Übel auf der Welt?
Weitere Doxai sind beispielsweise:
Für ein Problem muss eine Lösung gefunden werden.
Gewalt ist krank.
Wenn es regnet, fühlt man sich schlecht.
Krankheit = Schwäche.
Um eine Krise zu bewältigen, braucht es Disziplin und Härte.
Man darf nicht empfindlich sein.
Selbstsicher kann nur ein Mensch sein, der nicht unsicher ist.
Ein gelber Vorhang kann nicht grün sein.
Liebe heißt niemals um Verzeihung bitten müssen. (Dieser Satz stammt, glaube ich, von den Peanuts.)
Wer liebt, versteht den anderen.
Es kann nur eine Wahrheit geben.
Psychotherapie/ Medizin hilft.
Die Ärztin, der Therapeut hat immer Recht.
Weiß ist heller als schwarz. Gut ist besser als schlecht. Schön ist beliebter als hässlich.
Wenn mein Traum wahr wird, werde ich glücklich sein.
Egoismus führt zu Egoismus.
Wir müssen alles dafür tun, damit die Welt nicht zugrunde geht.
Um mich aus einer Gefangenschaft zu befreien, brauche ich einen Ausweg.
Paradoxa als Ausweg
(Einzahl: Paradoxon, Mehrzahl: Paradoxa) Ich hatte weiter oben bereits formuliert, dass du auf eine gute Weise lernen musst, ver-rückt zu werden. Wenn du in einer Krise bist, heißt das, dass dir kein gangbarer Ausweg erscheint. Häufig ist man an dem Ort der Ausweglosigkeit konfrontiert mit einer Doxa, einer tief sitzenden Regel etwa oder einem Tabu.
Ein Beispiel: Nehmen wir einmal an, du habest eine panische Angst davor, nächsten Mittwoch eine Präsentation halten zu müssen. Als du das letzte Mal etwas vor einer Gruppe vorgetragen hast, bist du auf den Zwischenruf einer Zuhörerin total rot geworden. Alle haben das gesehen, und einer hat sogar darüber gelacht. Das war so was von peinlich!! Am liebsten würdest du die Veranstaltung absagen, aber damit würdest du dir einige Chancen verbauen. Vielleicht wäre deine Chefin darüber aber auch not amused. Nun steckst du also fest: entweder Karriereknick oder Peinlichkeit! Denn so viel ist sicher: Du wirst bestimmt wieder rot! Was kannst du also tun? Beide Alternativen erfüllen dich mit Schreck und Pein!
Die Weg-damit!-Lösung: Wenn du eine Reparatur möchtest – und natürlich möchtest du das! – bittest du deine Therapeutin, das wegzumachen. Versuchen kann man das tatsächlich: Du erlernst eine Entspannungsmethode, du lernst, wie du atmen musst, damit sich deine Physiologie wieder runterschaukelt, du lernst dir selbst gut zuzureden: Das ist jetzt einmal passiert, das heißt noch lange nicht, dass es wieder passieren wird. Und selbst wenn es wieder geschieht, gut, dann ist das zwar unangenehm, aber ich werde das bestimmt überleben. Außerdem habe ich ja noch meine H0-Eisenbahn, in die ich mich anschließend versenken kann. Mein lieber Freund Alfons, der wird mich bestimmt trösten!
Die Mitten-rein!-Lösung: Aber mal ganz ehrlich: Du wirst trotzdem tierisch aufgeregt sein, und wenn du dann wieder rot werden solltest, ist es eben doch eine Niederlage! Das liegt daran, dass weder du noch deine Therapeutin die dahinter lauernde Doxa auch nur ansatzweise angekratzt habt, nämlich: Erröten ist eine verdammte Schwäche, genauso wie zittrige Knie, Schweißausbruch, eine krächzende Stimme, Blackout oder Herz- und Augenflattern.
Wieso denn eigentlich?!? Wenn du tot wärest oder wenn du all diese sozialen Reaktionen der Zuhörerinnen einfach deshalb gar nicht mitkriegtest, weil du emotional völlig tumb und abgestorben wärest, dann hättest du diese Symptome alle nicht. Nehmen wir mal an, du könntest das tatsächlich hinkriegen – vielleicht mit Tavor? Aber möchtest du das wirklich? Möchtest du wirklich so aalglatt sein wie dieser blasierte Redner von vorgestern? Möchtest du ein Vortrags-Roboter werden? Willst du so perfekt sein, dass alles an dir abrutscht, auch andere Menschen?
Der einzige Weg, deine Angst wirklich zu überwinden, besteht darin, die Doxa über Bord zu werfen, sie zu entmachten: Das kannst du tatsächlich tun! Dazu brauchst du die Hilfe eines Para-Doxons (die Vorsilbe para- bedeutet: über … hinaus, gegen, abweichend), welches du hier für dich findest und erfindest.
Mein Selbstsicherheits-Paradoxon lautet:
Ich kann nur wirklich selbstsicher sein, wenn ich mich sicher dabei fühle, meine Unsicherheit zu zeigen. Oder auch: Wahre Selbstsicherheit schließt die Unsicherheit ein.
Wie könnte deins lauten? Diskutiere diese Fragen doch mit deinen Freundinnen oder deinem Partner. Wenn du diese Doxa überwunden hast, kannst du den Spötter im Auditorium vielleicht anlächeln oder ihn bitten, laut zu sagen, was er über dein Erröten denkt.
Auch die letzte Minute vor dem Sterben ist Leben
Wenn du irgendwann einmal auf deinem Sterbebett liegst – vielleicht bist du voller Metastasen oder dein Herz schlägt nur noch ab und zu – wirst du vermutlich auch Bedürfnisse haben. Du willst vielleicht nicht alleine sein. Du möchtest eine vertraute Hand halten. Oder es fällt dir ein unanständiger Witz ein, und du lächelst ein wenig. Du fühlst den Druck auf der Blase und möchtest keine Schmerzen mehr haben. Möglicherweise ist es dir wichtig, dass deine Ärztin dich mag. Du lebst, wenn auch nur noch 5 Minuten.
Hermann Hesse hat dies in seinem Gedicht Stufen so ausgedrückt:
„Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! “
Was ich damit sagen will? Dass Krankheit, Leiden, Sterben und Tod nicht das Gegenteil sind von Leben, Gesundheit, Wohlgefühl, Wollen und unanständigen Witzen.
Dr. phil. Michael Mehrgardt setzt sich mit seinem Vlog auf YouTube und Blog mindroad.de für eine humanistische Grundhaltung in der Psychotherapie ein. Sieh Dir auch seine Videos an, darin teilt er wertvolle therapeutische Tipps bei Angst, Depressionen & Co.