Depression: Aggression & Impulsivität in 50 % aller Fälle
Aggressionen sind ein Aspekt des Mensch-Seins, der auch vor den größten Belastungen nicht halt macht. Wut und Aggressivität sind in der Lebenswirklichkeit eines depressiven Menschen ebenso vorhanden wie bei jeden anderen ohne psychische Erkrankung, der eine Krise oder Belastung durchlebt.
Kann man durch Depressionen aggressiv werden?
Die Idee, dass Aggression und Depression miteinander verknüpft sind, ist keineswegs neu. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte Freud die Vorstellung ins Spiel, dass Depressionen im Grunde eine nach innen gewendete Aggression darstellen; ein Verhalten, das aus der Unterdrückung oder Verleugnung aggressiver Regungen gegenüber anderen Personen resultiert.
Heute gibt es weitaus mehr Theorien zum Thema. Das liegt u. a. daran, dass sich viele Betroffene feindselig-aggressiv gegenüber ihrem Umfeld verhalten. Ja, man hat bei Depressionen Wutanfälle. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit für Aggressionen bei depressiven Erkrankungen sogar erhöht. Diese plötzlichen Wutausbrüche haben aber nichts mit einer asozialen Persönlichkeit oder Egoismus zu tun, sondern sind ein Ausdruck von schwerer Verzweiflung und Hilflosigkeit.
Vgl. auch: Unterdrückte Wut rauslassen – Wut zeigen ist gesund & wichtig
50 % der Betroffenen zeigen Aggressionen gegenüber anderen
Die Statistik zeigt deutlich, dass in 50 % aller Fälle von Depression Wut eine signifikante Rolle spielt. Diese nach außen gerichtete Aggression kann vielfältige Ursachen haben. Zum Beispiel beeinträchtigen Depressionen die Frustrationstoleranz. Zudem können Gefühle von Unzulänglichkeit, Versagen oder Enttäuschungen, die mit der Depression einhergehen, zu einem verstärkten Bedürfnis führen, diesen emotionalen Schmerz abzuladen. In einigen Fällen dient die Aggression als Mittel, um Distanz zu schaffen und andere auf Abstand zu halten – vielleicht aus Furcht vor Zurückweisung oder aus dem Bedürfnis heraus, die eigene Verletzlichkeit zu verbergen.
Depressive Aggression – Merkmale
Nicht immer ist die Wut bei Depressionen offensichtlich. In manchen Fällen äußert sie sich subtil und brodelt untergründig, z. B. in Form einer sarkastischen Bemerkung, Kommentars oder Blickes. Andere legen wiederum ein streitlustiges und abwertendes Verhalten an den Tag. Auch gewaltvolle Ausbrüche können auftreten.
Unterschied: Wut – Aggression
Wut ist eine Emotion, ein Gefühlszustand, der als Reaktion auf wahrgenommene Bedrohungen, Ungerechtigkeiten, Frustrationen oder Verluste entstehen kann. Es ist eine normale, menschliche Emotion, die jeder von uns bereits erlebt hat. Wut verursacht physiologische und biologische Veränderungen im Körper.
Aggression ist ein Verhalten, das oft – aber nicht immer – aus Wut hervorgeht. Es bezeichnet Handlungen, die darauf abzielen, jemandem oder etwas Schaden zuzufügen oder zu bedrohen. Aggression kann physisch sein, wie Schlagen oder Stoßen, oder verbal, wie Schreien oder Beleidigen. Es gibt auch passive Formen der Aggression, wie Nichtstun oder Ignorieren.
Ursachen
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Aggression & Depression?
Depressionen sind komplex und umfassen eine Vielzahl an Gefühlszuständen, die es schwierig machen, sie auf eine einzige Emotion zu reduzieren. Hierbei ist die Aggression nicht unbedingt dominierend, aber sie kann eine Rolle im emotionalen Spektrum einer Person spielen.
Wenn man unter Depression leidet, versucht man, dieses extreme Leid zu lindern. So entstehen verschiedene Verhaltensweisen. In belastenden Situationen – zum Beispiel, wenn man sich isoliert fühlt oder gefangen in einem Zyklus negativer Gedanken ist – können Menschen daher zu Angst und Weinen oder eben zu Wut und Aggressionen neigen. Wie in jeder anderen Krisensituation auch. Selbstverständlich gibt es noch weitere denkbare Reaktionen, wie zum Beispiel Hoffnungslosigkeit und Hemmung.
Bei einigen zeigt sich Wut in Form von gesteigerter Reizbarkeit, bei anderen in Gestalt von plötzlichen, heftigen Wutausbrüchen, in denen die angesammelte Spannung und Verzweiflung zum Ausdruck kommt.
Wut & Aggression als psychische Schutzreaktion
Wut ist eine menschliche Grundemotion, die ihre Berechtigung im menschlichen Erfahrungsrepertoire hat. Sie kann als psychologischer Abwehrmechanismus gelten, um die eigene Integrität zu schützen. Das gilt für persönliche Angriffe, Ungerechtigkeiten oder Bedrohungen unserer Werte und Ideale.
Wenn wir uns wütend fühlen, aktiviert unser Körper eine Reihe von Reaktionen – Adrenalinausschüttung, erhöhter Puls, angespannte Muskulatur – die uns in den Kampfmodus versetzen. In diesem Zustand sind wir eher bereit, uns zu verteidigen und aktiv gegen die empfundene Bedrohung vorzugehen.
Psychologisch gesehen dient Wut u. a. dazu, schädlichere emotionale Zustände wie Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit oder Angst zu überlagern. Indem die Wut an die Oberfläche tritt, vermeiden wir ein Gefühl des völligen Ausgeliefertseins oder der Ohnmacht. Noch mehr: Wut verleiht Handlungsmacht.
Wut gegen Partner & Familie bei Depressionen
Tatsächlich lässt sich beobachten, dass Menschen mit Depressionen ihre Wut häufig an Partner oder Familien-Angehörige auslassen bzw. extrem gereizt reagieren. Vgl. Depression bei Männern: Wut auf Partner
Aggressionen zeigen sich tendenziell eher bei Männern – was sich tlws. auf gesellschaftliche Erwartungshaltungen, Sozialisationsprozesse und Stereotype zurückzuführen lässt. Subtil wird Männern vermittelt, dass Ärger und Wut „akzeptablere“ emotionale Reaktionen für Männer sind.
Jedoch wäre es ein grober Fehlschluss anzunehmen, dass depressive Frauen Wut nicht ebenfalls erleben. Auch erkrankte Frauen können reizbar, aggressiv und streitlustig sein. Vgl. Depressionen bei Frauen: Symptome
Wut bei depressiven Frauen
Frauen sind in der Regel etwas gesprächsbereiter als Männer – auch in einer Depression. Doch an sich gibt es weder eine reine Frauen-Depression noch Männer-Depression. Es gibt ausreichend Fälle, in denen Frauen schnell wütend werden und ein feindseliges Verhalten zeigen.
Laut Untersuchungen zeigen jüngere Frauen im Durchschnitt mehr Aggressivität als ältere. Auffällig ist jedoch, dass Wut insbesondere bei schweren Krankheitsverläufen zu Tage tritt. D. h. Die Depression besteht schon länger und hat sich verschlimmert.
Aggression bei depressiven Männern
Depressive Männer richten ihre Wut tatsächlich etwas häufiger nach außen. Sie sind gegenüber ihrem Umfeld auffällig gereizt, verärgert und abweisend. Misstrauen und Vorwürfe prasseln oft auf Außenstehende und das nahe Umfeld ein. Der Betroffene wirkt immerzu angespannt und verbittert.
Auf Hilfsangebote oder Initiativen reagieren viele Männer aggressiv, wenn sie in einer Depression stecken. Sie möchten weder Hilfe annehmen noch professionelle Hilfe suchen.
Was hilft gegen Aggressivität in einer Depression?
Das wichtigste ist, dass du die Situation änderst. Wer in einer Depression wütend reagiert, fühlt sich meist bedroht, nicht wertgeschätzt, übersehen, überfordert. Hier helfen auf jeden Fall Gespräche mit dem nahen Umfeld, was genau in der jeweiligen Situation zu viel war und warum.
Der AOK Familiencoach Depression findet anschauliche und einfache Beispiele, wie eine sensible Kommunikation helfen kann.
Handtuch auswringen
Häufig sind Rücken, Nacken und Schultern verspannt. Um die Anspannung abzubauen, kann man sich an einem Handtuch abarbeiten. Am besten stellst du dir vor, wen oder was du da gerade fertig machst. Nutze unbedingt auch Stimme und Atem: Atme laut und flüssig, nicht anhalten oder pressen. Gleichzeitig darfst du schreien, schimpfen, knurren etc.
Kissen beißen und schlagen
Man nimmt ein Kissen (oder das Handtuch) zwischen die Zähne und beißt hinein. Dabei knurren und aggressive Geräusche von sich geben. Das wirkt, weil auch der Kiefer gerne verspannt und diese Übung zur Lockerung der Muskulatur beiträgt. Alternativ kannst du auch auf das Kissen einprügeln – solange, bis du nicht mehr kannst. Fluchen und Schreien nicht vergessen.
Holz hacken
Füße schulterbreit auseinander. Füge deine Handflächen zusammen. Hebe deine Hände über deinen Kopf. Und jetzt stellst du dir vor, wie du Holzscheit für Holzscheit hackst. Du holst Schwung und streckst die Knie durch – während du hackst, gehst du in die Knie und rufst laut “Ho!” (oder irgendwas anderes).
Sich bewegen
Bewegung reduziert Stress und so indirekt auch Wut. Beim Sport werden aber nicht nur Stresshormone abgebaut, sondern auch Endorphine ausgeschüttet. Es ist so ziemlich egal, was du machst – Treppe 5 x hoch und herunter laufen, zur nächsten Straßenecke joggen, 3 x um den Häuserblock laufen, Seilhüpfen – alles kann helfen.
Wutbrief schreiben
Manchen hilft es, sich schriftlich auszudrücken, wenn sich ihre Wut auf eine bestimmte Person richtet.
Noch mehr Wut-Übungen findest du bei Dr. Michael Mehrgardt hier auf dem Blog: Auswege bei Depressionen
Fazit: Depression und Aggression
Wut und Aggression kommen nicht nur bei Depressionen vor, vielmehr sind sie eine typische Reaktion in einer Krise. Die Häufigkeit von impulsiven Wutausbrüchen und feindseligem Verhalten unter depressiven Menschen spiegelt eine tiefer liegende Verzweiflung und Hilflosigkeit wider.
Aggressionen sind in diesem Kontext als natürliche Versuche der psychischen Abwehr gegen Stress und Überforderung zu verstehen, die das Selbst bedrohen. Sie werden allerdings durch die spezifischen Symptome und Herausforderungen der Depression verstärkt.
Quellen:
1) Stefanie Otte et al: Sind depressive Menschen aggressive Menschen? Unterschiede zwischen Allgemeinbevölkerung und depressiven Patienten. Psychother Psychosom Med Psychol 2017; 67(01): 19-25. DOI: 10.1055/s-0042-120411
2) Julia Friedl: Aggression bei depressiven Erkrankungen
3) Bridewell, W. B., & Chang, E. C. (1997). Distinguishing between anxiety, depression, and hostility: Relations to anger-in, anger-out, and anger control. Personality and Individual Differences, 22(4), 587-590. https://doi.org/10.1016/S0191-8869(96)00224-3
4) Medeiros, G. C., Seger, L., Grant, J. E., & Tavares, H. (2018). Major depressive disorder and depressive symptoms in intermittent explosive disorder. Psychiatry research, 262, 209-212
5) Dutton, D. G., & Karakanta, C. (2013). Depression as a risk marker for aggression: A critical review. Aggression and Violent Behavior, 18(2), 310-319. https://doi.org/10.1016/j.avb.2012.12.002.