Depression als Verlust – Trennung von Welt, Du & Selbst
Lebensfreude, Lebenskraft, soziale Beziehungen – es gibt viele Selbstverständlichkeiten, die sich in einer Depression verlieren. Der Verlust ist damit als Kernthema dieser Krankheit offensichtlich. Doch was genau kommt dem Menschen in einer Depressionen abhanden?
Verlust existenzieller Möglichkeiten des Daseins
– das Du – die Welt – der Leib – die Zeit
Depression und Traurigkeit
Die Traurigkeit zählt nicht umsonst zu den Haupt-Symptomen der Depression (1). Wer traurig ist, hat etwas Wichtiges verloren. Tatsächlich lässt sich Ähnliches auch in einer depressiven Phase erleben: etwas Wesentliches für das eigene Leben ist plötzlich unwiederbringlich weg.
Nur: Im Fall von Depressionen sind nach Theorie mehr Auslöser beteiligt. Und das Verlustempfinden in der Depression ist extremer.
Achtet man auf das Selbsterleben von Betroffenen, ist auffällig, dass mehrere Ebenen der Erfahrung abhanden kommen, die den menschlichen Welt- und Selbstbezug prägen.
Depressive Traurigkeit – Verlustgefühle
Depressionen sind etwas anderes als mehr Traurigkeit, weniger Freude oder tiefe Erschöpfung. Depressionen verändern nicht einfach nur einzelne Gedankengänge oder ein paar Gefühle. Depressionen modifizieren den Rahmen und die grundsätzlichen Daseins-Bedingungen, in denen ein Mensch wahrnehmen, denken und fühlen kann.
Das bedeutet: Die Krankheit verändert den Selbst- und Weltbezug.
Der Vergleich zwischen Traurigkeit und Depression ist keine Gleichsetzung. Eine der größten Schwierigkeiten bei Depressionen besteht ja gerade darin, die Fremdheit des Erlebens zu kommunizieren. In diesem Sinne geht es nicht einfach nur um ein Gefühl von Traurigkeit, sondern ein tiefes, schmerzhaftes und existenzielles Verlustgefühl, das kaum zu erklären ist.
Vgl. auch Trauer & Depression – Symptome, Bedeutung & Unterschiede
Der Verlust des Du
In der Depression geht eine grundlegende Verbindung zu den Mitmenschen verloren. Der Verlust des Du zeigt sich unter anderem darin, dass die Fähigkeit zum Dialog versiegt. Begegnungen sind beängstigend oder seltsam und unangenehm.
Vgl. auch Depressionen beim Partner – Extreme Folgen für die Beziehung
Der Psychiater Ludwig Binswanger definierte die Depression als die Unfähigkeit zur Transzendenz, wodurch der Kranke in sich selbst gefangen sei.
Das klingt treffend: Gedankenkreise plagen Betroffene mit extremen Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln, die sich ins Bodenlose erstrecken und jeder Rationalität zu entbehren scheinen.
Gleichzeitig ergreift Menschen, die an Depressionen leiden, eine schwere und erschütternde Vereinsamung. Die natürliche Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Lebenswelt ist verschwunden. Und damit eine grundlegende Konstante von menschlichen Sinnbezügen.
Auch die Schuldgefühle in einer Depression zeugen von einem tiefen Bruch zwischen Individuum und Gemeinschaft, der tief sitzende Ängste in der menschlichen Natur weckt: Viele fürchten sich, als Kranke bzw. soziale Belastung gesehen und ausgestoßen zu werden.
Die Un-Heimlichkeit der Welt
Die Lebenswelt ist ein zentraler Aspekt in vielen Selbstberichten von Betroffenen. In der Depression erscheint die „ganze Welt“ in die Ferne gerückt, surreal oder seltsam verfremdet. Ein Mensch mit Depressionen verliert seinen natürlichen Bezug zu Umwelt & Umfeld – Nichts ist mehr, wie es war.
Alles wird unberechenbar und unverständlich.
Gleichzeitig ist der Fokus im depressiven Leiden auf das Selbst und seine (vermeintlichen) Defizite gerichtet. Ähnlich wie bei trauernden Menschen besteht das Gefühl, aus der Welt herausgefallen zu sein bzw. nicht mehr zu ihr zu gehören. Der Depressive ist in ihr nicht mehr heimisch.
Die existenzielle Trennung von Welt und Mitmenschen ist eine unglaublich beängstigende Erfahrung.
Der Bruch in der Zeitlichkeit
Der Verlust des Zeitsinnes kann ebenfalls auf unterschiedliche Weise erfahren werden. Viele beschreiben, wie die Zeit sich verlangsamt und ausdehnt – doch nur für den Betroffenen selbst. Die Welt dreht sich indessen weiter, sodass sich der Anschluss an die Mitwelt bald völlig verliert.
Die Zukunft ist nicht mehr, stattdessen wird die Gegenwart als bedeutungslos und monoton erfahren. Die Vergangenheit wächst zur dominanten Zeit-Perspektive heran und ruft ausschließlich negative Erinnerungen hervor.
Auf den Punkt gebracht: Das Zeiterleben bei Depressionen ist massiv gestört. Die physiologischen und sozialen Zeitprozesse sind aus dem Takt geraten. Die Zeit wird zur schrecklichen und übermächtigen Größe.
Hier erfährst du mehr zum Thema: Depression & gestörtes Zeitgefühl – der Zeitverlust oder Stillstand
Die Kluft zur Leiblichkeit
In manchen philosophischen Ansätzen wird behauptet, dass die körperlichen Symptome einer Depression damit zusammenhängen, dass Betroffene ihr Vertrauen in den eigenen Körper verloren hätten.
Es könnte aber auch anders herum sein: In der Depression erkaltet der gelebte Leib zu einem fremden Körper, der sich als Störfaktor in das Bewusstsein drängt. Unerklärliche Schwindelattacken, diffuse Schmerzen und Kraftlosigkeit führen dazu, dass der eigene Leib wie ein abgespaltenes Objekt erfahren wird, das den Lebensvollzug einschränkt und behindert.
So lässt sich die Krankheit unter anderem als erfahren. Das Körper-haben, das Bewusstsein vom eigenen Körper als physisches Objekt, verselbständigt sich und beherrscht das Empfinden.
Hier erfährst du mehr Details dazu: Depression & körperliche Symptome – Die Korporifizierung des Leibes
Fazit: Depressionen als Verlust
Das menschliche Welt- und Selbstverhältnis ist existenziell und sehr empfindlich. Wie empfindlich, zeigt sich bei psychischen Krankheiten. Depressionen sind im phänomenologischen Verständnis (vgl. die Phänomenologie) durch eine Entfremdung des Welt- und Selbstbezugs gekennzeichnet.
Etwas in mir selbst ist plötzlich meinem Selbsterleben entzogen und tritt mir als Anderes gegenüber. Ähnlich ist es auch mit meiner Beziehung zur Welt und den Mitmenschen: sie werden mir fremd.
Siehe auch Wie fühlt sich Angst an? – die phänomenologische Struktur der Angst – sowie Langzeitfolgen der Depression – Was von der Krankheit bleibt
Quellen:
1) MSD Manual für medizinische Fachkräfte: Depressive Störungen