Gefühlte Armut – mittellos, diskriminiert & stigmatisiert
In hochentwickelten Sozialstaaten, wie Deutschland, gibt es existenzielle Armut längst nicht mehr. (Kinder)Armut in Deutschland meint nicht Existenznot, sondern keine Urlaubsreisen, schlechte Bildung und ungesunde Ernährung. Dabei beeinflusst das subjektive Gefühl, arm zu sein, die Allgemeingesundheit von Kindern & Erwachsenen noch stärker als das fehlende Geld.
Dieser Artikel erschien 2021 im Kontext meiner Arbeit bei der Kinderhilfe der Deutschen Lebensbrücke e.V. Daher ist auch oft von Kinderarmut die Rede, doch die genannten Aspekte treffen auch voll und ganz auf Erwachsene in soziokultureller Armut zu.
Gefühlte Armut in Wohlfahrtsstaaten
ist weiter verbreitet als materielle Armut, die eigentliche Armut an überlebensnotwendigen Gütern. Doch warum? Woher kommt das Gefühl vieler armer Menschen, stigmatisiert zu sein?
Soziokulturelle Armut ist eine von 4 Armutsformen
Wenn wir in Deutschland von Armut sprechen, dann ist längst nicht mehr die absolute, materielle Armut gemeint, wie sie früher vorherrschte. Gerade in westlichen Kulturen hat sich der Armutsbegriff stark gewandelt.
Denn neben Essen, Trinken und Schlafen spielen auch andere menschliche Bedürfnisse eine große Rolle für die Gesundheit eines Menschen und seine Möglichkeiten.
Stattdessen sprechen wir in Wohlstandsgemeinschaften von einer relativen Armut: Betroffene zählen zur Unterschicht und können sich nicht die gleichen Dinge leisten, wie die Oberschicht.
Zudem gibt es noch den Begriff der Mangelarmut
Sie ist gegeben, wenn ein Mensch notwendige materielle Dinge entbehren muss, weil er oder sie nicht genügend Geld hat. Darunter fallen solche Kriterien wie:
kein Auto haben
keine Waschmaschine zuhause besitzen
kein Farb-Fernseher
kein Telefon
keine Woche Urlaub außerhalb der Wohnung finanzierbar
keine Möglichkeit, jeden 2. Tag Fleisch- oder Fischgerichte zu essen
u.v.m.
Doch Kinderarmut über eine materielle Ebene zu erfassen, greift viel zu kurz. Stattdessen müssen wir uns dem Phänomen Armut über weitere Definitionen annähern, um Kinderarmut in ihren Ausmaßen zu beschreiben. Neben den Vermögensverhältnissen gilt es daher, vor allem das subjektive Empfinden miteinzubeziehen.
Gefühlte Armut: Definition
– Was ist gefühlte Armut?
Doch worin liegt jetzt der Unterschied zwischen absoluter/relativer und gefühlter Armut? Gefühlte Armut wird nicht wie die relative Armut am Einkommen festgemacht und auch nicht wie die Mangelarmut anhand von Materiellem begründet. Überhaupt liegt der soziokulturellen Armut kein Geldwert zugrunde.
Bei der gefühlten Armut geht es um das subjektive Gefühl der Diskriminierung, Stigmatisierung und Benachteiligung. Fühlt sich ein Mensch aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt bzw. diskriminiert, dann erlebt dieser Mensch eine gefühlte Armut.
Vgl. Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft – Das ist Klassismus
Subjektiv bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, jemand bildet sich ein, arm zu sein, obwohl das in Wirklichkeit nicht zutrifft. Subjektiv meint viel mehr, dass der persönliche Lebensstandard nach eigenem Verständnis unter den des Durchschnitts fällt.
Betroffene Erwachsene und Kinder fühlen sich nicht zugehörig, sondern ins Abseits gedrängt. Sie werden ständig von dem Gefühl begleitet, nicht beachtet, nicht geschätzt, nicht gleichberechtigt zu sein.
Die Folgen sind schwerwiegend. Signifikant ist, dass sozial benachteiligte Kinder eher zu psychischen Problemen neigen, zum Beispiel: Depressionen, ADHS bei Kindern, Entwicklungstrauma, Bindungstrauma, psychopathische Ängste.
Welche Auswirkungen hat soziokulturelle Armut?
Traurig, aber wahr: Meistens sind Kinder von gefühlter Armut betroffen!
Das ist besonders fatal, da Kinder eine soziale Teilhabe brauchen, um sich gesund und günstig entwickeln zu können.
Genau das ist auch die Gefahr bei gefühlter Armut von Kindern: Durch das Fehlen an sozialer Teilhabe wird die Ausbildung einer sozialen Persönlichkeit stark beeinträchtigt.
Das liegt an vielen verschiedenen Faktoren, die oft zusammenkommen:
kleiner Wohnraum, beengte Lebensräume
unzureichende Entwicklungsmöglichkeiten
Alltag ohne geregelte Strukturen
schlechter Erziehungsstil
ungesunde Ernährung
mangelhafte Förderung
Ausschlaggebend ist hier das Gefühl der Selbstbestimmung und Autonomie: Will ein Mensch einfach und bescheiden leben, dann tut er das aus sich heraus und fühlt sich nicht arm.
Anders läuft es, wenn eine Person das Gefühl hat, Opfer der Umstände zu sein, keinen Einfluss auf seine Situation zu haben und darunter leidet.
So können sich auch Menschen arm fühlen, die objektiv gesehen nicht unter die materielle Armutsgrenze fallen. Das sorgt für psychische Probleme: Perspektivlosigkeit, Stress & Frust, da sie selbst durch harte Arbeit nichts gegen die Not ausrichten können.
Vgl. auch: Was Armut mit Kindern macht & wie sie prägt
Ursachen für gefühlte Armut
Es ist bezeichnend, dass sich gefühlte Armut vor allem in reichen Ländern findet. In Deutschland fühlen sich zum größten Teil Menschen von Armut bedroht:
die aufgrund von Schicksalsschlägen große Einbußen beim Einkommen & eine Senkung ihres Lebensstandards erfahren müssen.
Die eine Verschlechterung ihrer finanziellen Situation hinnehmen müssen.
„Es ist die abschüssige Bahn, nicht die Armut, sondern der Weg dahin, den die Deutschen fürchten.
Und das Schlimme ist: Die Regierenden, ja das politische System der Parteien scheint ihnen nicht den Schimmer einer Hoffnung zu geben. Die gefühlte Armut – das ist die fehlende Perspektive.“,
so Hellmuth Karasek im Tagesspiegel vom 4. 12. 2002.
Gefühlte Armut ist nicht eingebildet, sondern real
Wie so oft, gibt es auch Gegenstimmen zum Begriff „gefühlte Armut“. Kritiker bemängeln den subjektiven Charakter.
Doch Kinder fühlen sich nicht arm, weil sie eine Match Box Auto oder ein Computerspiel weniger haben als ihr*e Klassenkamerad*in.
Sie fühlen sich arm, weil sie nicht die gleichen Möglichkeiten erhalten, wie die meisten anderen Kinder in Deutschland.
Sie fühlen sich arm, weil sie zu einer Minderheit gehören, bei der vieles anders läuft, als es das gesellschaftliche Ideal vermittelt.
Sie fühlen sich arm, weil sie von anderen ausgegrenzt und gemieden werden, anstatt einer großen Gemeinschaft anzugehören.
Das Interessante dabei:
Kinder fühlen sich erst dann arm, wenn sie im Vergleich zu anderen Kindern offensichtlich benachteiligt werden.
Manche Experten bevorzugen daher den Begriff soziokulturelle Armut, da hier eine Objektivität mitschwingt – auch dann, wenn der Erwachsene oder das Kind selbst sich nicht als arm empfindet bzw. bezeichnet.
Fazit: Gefühlte Armut
Gefühlte Armut wirkt sich direkt auf die psychische Gesundheit von Menschen aus – egal ob Kind oder Erwachsener.
Untersuchungen belegen, dass Kinder durch gefühlte Armut häufiger erkranken und später mehr gesundheitliche Rückschläge erleiden. Sie erholen sich auch langsamer von Krankheiten & gesundheitlichen Problemen.
Für arme Leute liegt sogar die Wahrscheinlichkeit, früher zu sterben, viel höher.
Das liegt nicht nur an der gefühlten Armut, sondern auch an der materiellen Variante (Vermögensarmut), die sich ebenso nachteilig auf die Gesundheit auswirkt.
Dieser Text von mir erschien im Original am 02.09.2021 auf dem Kinderhilfe Blog der Deutschen Lebensbrücke e.V.
Quellen:
1) EVNT: Eine Definition von Armut
2) WS Wirtschaftslexikon: Armut
3) World Vision Institut für Forschung und Entwicklung: Relative Armut
4) Scinexx, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH: Gefühlte Armut macht krank. Das subjektive Gefühl, arm zu sein, beeinflusst die Gesundheit stärker als das Einkommen
5) Daniela Mocker: Teenager – drückt schon gefühlte Armut aufs Gemüt?