Randseiter (marginal man) – Ambivalenz des Bildungsaufstiegs

Nicht alle, die sich um einen sozialen Aufstieg bemühen, kommen oben an. Marginal men bzw. women sind sowohl Gewinner als auch Opfer einer Gesellschaft, die nach wie vor von sozialen Grenzen und Klassenschranken geprägt ist.

Zwischenwelten

Welcher Gesellschaftsschicht ich angehörte, war mir lange nicht wirklich bewusst. In meiner Kindheit und Jugend war es ganz normal, dass Eltern an der Kasse, in der Küche und auf dem Bau arbeiteten und oder gar keinen Job hatten. Es war normal, dass wir niemals in den Urlaub fuhren und ich vieles nur aus dem Fernsehen kannte. Und es war normal, dass Mädchen aus meinem Milieu eine Zukunft als Hausfrau oder Kindergärtnerin antraten.

In der soziologischen Fachwelt spricht man von Bildungsaufsteigerinnen, Milieuwechslern, Klassenwechslerinnen oder sozialen Aufsteigern, wenn Menschen die gesellschaftliche Klassenleiter erklimmen. Aber zutreffend sind diese Bezeichnungen nicht, denn beim sogenannten Aufstieg durch Bildung ist ein endgültiges Ankommen nicht selbstverständlich. Zumindest nicht so, wie es der Begriff suggeriert oder es in der öffentlichen Wahrnehmung konstruiert wird (5).

Nach Bourdieus Konzept des sozialen Habitus wird die soziale Grammatik, die ich in Kindheit und Jugend erlernte, zu einem Teil meiner Identität. Selbstverständlich ist der Habitus veränderbar. Und er definiert mich nicht vollständig.

Doch lässt er sich gänzlich überschreiben? Zwar mögen manche glauben, ihre soziale Herkunft komplett abschütteln zu können – aber ist das nicht ein Trugbild? Frühe Prägungen haften zäh und es ist unwahrscheinlich, dass sie vollständig ausgelöscht werden.

Ein neues Selbstbild ersetzt nicht einfach das alte, sondern entsteht zwangsläufig auf dem gleichen Boden.

 

Marginal man / woman

der Randseiter oder die Randpersönlichkeit

Marginal man (im Deutschen: Randseiter, Randpersönlichkeit) ist ein soziologischer Begriff, der auf E. Park zurückgeht: ursprünglich umfasste diese Bezeichnung Menschen, die an kulturellen Tradition zweier unterschiedlicher Völker teilnahmen.

Lewin übertrug den Begriff auf Jugendliche, die sich im Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt befinden.

Heute versteht man ganz allgemein unter „marginal man“ eine Person, die sich durch den Wechsel von einer sozialen Bezugsgruppe zur nächsten an den Rand gedrängt fühlt und dadurch in eine Identitätskrise gerät: Sie erlebt einen Konflikt durch die Anpassung an neue Normen und der Verpflichtung an verinnerlichte Werte der Herkunftsgruppe.

 

Unsichtbare Barrieren

Die feinen Unterschiede sind spürbar. In der Uni, beim Small Talk, im Restaurant, beim Feiern – es fehlt die natürliche Gelassenheit und Selbstsicherheit, die das neue Umfeld an den Tag legt. Egal, wie viel ich daran arbeite und wie gut die Anpassung im Außen funktioniert.

Es geht nicht nur um mein Aussehen. Meine soziale Herkunft steckt mir in den Knochen. Wie sollte sie auch nicht? Vom früheren Leben zeugen nicht nur Habseligkeiten, Fotos und soziale Beziehungen, die mich mit der Vergangenheit verbinden, sondern auch Erinnerungen, Haltung, Kleidungsstil, Gesten, Geschmack u.v.m.

Ein Einzelfall bin ich sicher nicht. Von einer schwierigen Jugend, negativen Erfahrungen, Unsicherheit und fehlender Zugehörigkeit berichten viele Mileuwechsler. Genauso wie von bleibenden Selbstzweifeln (Impostor-Syndrom), starken Versagensängsten und anderen weitreichenden Problemen – trotz all ihrer Erfolge (vgl. Quellen 5 und 6).

 

Sprache als Distinktionsmedium

Wortschatz, Syntax, Aussprache, Tonfall, Lautstärke – das alles gibt Aufschluss darüber, aus welcher Schicht ein Mensch kommt. Gerade im Bildungssystem wird viel Wert auf sprachliche Normen gelegt. Das Beherrschen von Hochdeutsch zählt zu den wichtigsten Kriterien für Sach- und Sprachkompetenz. Wer Umgangssprache oder Dialekt spricht, erscheint weniger kompetent.

Es ist bezeichnend, wenn ich vom Gegenüber eine spöttische Bemerkung ernte, weil ich in normalen Konversationen Wörter wie „cool“ benutze oder sie bairisch ausspreche.

(Schon seltsam: Während meiner Hauptschulzeit und Berufslehre glaubten viele, ich sei Ausländerin, weil ich ihrer Meinung so Hochdeutsch spreche. Im Studium glaubten wiederum viele, ich würde starken Dialekt sprechen.)

Ich meine damit nicht, dass wir kein Hochdeutsch als Standardsprache benötigen. Doch die offene Geringschätzung und Abwertung von Umgangssprache ist nicht gerechtfertigt. Noch viel wichtiger: die starre Fixierung auf Sprachnormen im Bildungssystem grenzt bewusst aus und bringt diejenigen zum Schweigen, die wirklich Sinnvolles und Neues zu sagen hätten.

Dabei geht es ebenso darum, welche Sprachstile und Perspektiven Anerkennung finden. So fragt Corinna Widhalm in ihrem Erfahrungsbericht (5) zurecht:

Wäre dieser Text mehr wert, wenn ich meine theoretische Perspektive offenlegen würde oder noch eine analytische Abhandlung zur Wirkungsweise von Klassismus verfasst hätte?

Diese Frage stelle ich mir auch, während ich diesen Text tippe …

 

Sichtbare Kosten

Geld spielt immer eine Rolle. Selbst das BAföG ändert nichts am chronischen Geldmangel (weil es gerade mal für Miete und Essen reicht), wenn kein Sicherheitsnetz existiert.

Nicht nur das Studium kostet Geld. Um am Universitäts- und Campus-Leben teilzunehmen, müssen sich Studierende etwas leisten können. Zumindest die Cafés, Bars und Clubs, wo sich die richtigen Kontakte knüpfen lassen. Oder die Zeit für Events, Kongresse, Weiterbildungen, Sommerakademien, AGs etc., die für eine soziale und berufliche Etablierung so wichtig sind.

Das Wort „Chancengleichheit“ klingt zynisch, wenn man neben dem Studium und unbezahlten Praktika noch bis spät in die Nacht in Nebenjobs schuftet, um sich die Miete in München leisten zu können. Da wirken die „Sorgen“ der Mittelschichts- und Elite-Studenten, keinen Urlaub machen zu können, sehr abgehoben und lebensfremd. Für mich war ein Tee im angesagten Uni-Café bereits ein Luxus.

Die meisten BAföG-Empfänger müssen jobben – nicht, um wertvolle Berufserfahrungen zu sammeln, sondern um sich über Wasser zu halten. Viele überschreiten die Regelstudienzeit (übrigens können die ohnehin nur 40 % der Studierenden einhalten, vgl. Quelle 7). Auch weil die permanenten Existenzsorgen die notwendige Zeit und Energie rauben, um das Studium in der vorgegebenen Frist abschließen zu können.

Was tun? Entweder einen Kredit aufnehmen oder aufgeben. Der Weg nach oben ist wirklich bitter, wenn der Preis dafür Schulden sind, die bis ins höhere Alter abbezahlt werden müssen, anstatt – nach lebenslanger Entbehrung – sich endlich das ersehnte Sicherheitspolster ansparen zu können.

Ein abgeschlossenes Studium garantiert keine ökonomische Sicherheit.

 

Unsichtbare Kosten

Aber das sind nicht die einzigen Kosten, mit denen zu rechnen ist. Genauso existenziell sind die unsichtbaren Opfer eines Milieuwechsels: durch das ständige Überschreiten der eigenen Grenzen, den vielseitigen Erwartungsdruck und den wiederholten Ausgrenzungs- und Entfremdungserfahrungen.

Viele Aufsteiger erzählen von einer tiefen Scham für ihre Herkunft, doch gleichzeitig von Wut über die anhaltende Ungerechtigkeit und Diskriminierung, die sie weiterhin erfahren. Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft – Das ist Klassismus

Außerdem sind da noch diese leisen Schuldgefühle, wenn einem bewusst wird, wie weit man sich von den eigenen Wurzeln entfernt hat.

Vgl. auch gefühlte Armut – mittellos, diskriminiert & stigmatisiert sowie Armut & Depression – Die gesundheitliche Ungleichheit

 

Fremdkörper im System

Der soziale Habitus ist hartnäckig. Indem er sich auf Vergangenes und Erfahrungen stützt, beeinflusst er Vorstellungen und Handlungsspielräume in der Gegenwart. Bourdieu sprach von einem „gespaltenen Habitus“, um die Spannung zwischen Stolz und Verrat zu beschreiben, die viele Menschen mit Bildungsaufstieg verspüren.

Die Spaltung im Selbst ist tatsächlich fühlbar. Steige ich die Klassenleiter hoch, begebe ich mich in eine doppelte Distanz: Weit weg vom festen Boden der Herkunft, der vertrauten Welt meiner Kindheit und Jugend, doch in der Neuen Welt längst nicht angekommen.

Orte, Dinge, Erlebnisse und Menschen, die mir früher wichtig waren, sind jetzt fremd. Doch auch in der akademischen Welt stellt sich kein Zugehörigkeitsgefühl ein. Jedes Mal, wenn ich höre, meine Sprache sei „einfach“ oder "lustig", erweist sich der Untergrund als schlüpfrig.

Im Englischen steht der Begriff straddler für den gewagten Spagat zwischen verschiedenen sozialen Schichten. Das ist passend: Milieuwechsel ist keine statische Haltung, sondern ein Gleichgewicht-Halten zwischen flexibler Anpassung und kritischer Distanzierung (5).

Während mich die Elite mit ihrer Borniertheit, Ignoranz und Arroganz abschreckt, bleibt mir auch die Rückkehr ins Herkunftsmilieu verwehrt. Ich bin jetzt zu weit weg von dieser groben und engen Welt. Und trotzdem fühlt es sich so an, als hätte ich gegen ein Gesetz verstoßen, ihr den Rücken zu kehren.

 
Darin liegt die eigentliche Absurdität nämlich, dass die meisten erst in den Klassenaufstieg das Vokabular erlernen, um ihre Herkunft zu erkennen und ihren sozialen Aufstieg beschreiben zu können.
— Sahara Rausch
 

Sprachliche Verortung

Der Begriff sozialer Aufstieg suggeriert eine abgeschlossene Bewegung oder persönliche Transformation, die ausschließlich positiv konnotiert ist.

Wenn ich ehrlich bin, dann zeichnen subjektive Berichte von Menschen, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, ein ambivalentes Bild: Verlust, Einsamkeit, Zerrissenheit, Scham und Schuld auf der einen Seite, Stolz und Erfolgsgefühle auf der anderen. Vgl. auch psychosoziale Faktoren der Depression

Wie lässt sich diese Ambivalenz ausdrücken? Denn verschiedene Autorinnen und Autoren (5 und 6) merken richtig an, dass sie einen Ausdruck braucht, um die Klassen-Differenz deutlich zu machen. Worte wie Klassenaufsteigerin, Milieuwechsler oder Bildungsaufstieg verschleiern nämlich, dass es nach wie vor Klassismus in Deutschland gibt, der einen Großteil der Bevölkerung diskriminiert.

Die sprachliche Verortung hilft, die Erzählung vom sozialen Aufstieg neu zu formen und alternative Narrationen zu kreieren, die Denken und Verhalten in unserer Gesellschaft beeinflussen.

Vgl. die Macht der Narrative und Moderne Mythen sowie Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik

 

Elite muss umdenken

Es ist vor allem wichtig, dass Entscheidungsträger Erfahrungen haben, die es ihnen ermöglichen, zu verstehen, was es bedeutet, von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen zu sein. Denn viele Personen, die in einem wohlhabenden Umfeld aufgewachsen sind, hinterfragen soziale Ungleichheit nicht, sondern nehmen sie einfach als gegeben hin (8).

Vgl. auch: Bildungsexpansion – mehr Bildung ist keine Lösung
Mehr erfahren » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten

 

Fazit: marginal man / woman

Erzählungen besitzen viel Macht. Darum ist es entscheidend, wie Geschichten vom Bildungsaufstieg erzählt werden und wie ich von meiner eigenen erzähle.

Meine Erlebnisse von einer klassenbewussten Warte aus zu betrachten, hilft mir, meine persönliche Geschichte besser zu verstehen und meine Erfahrungen nicht als individuelles Problem abzutun.

Sicher wäre es nicht richtig, die eigene Rolle im Geschehen völlig determiniert zu verstehen. Objektiver Fakt ist aber, dass es unter diskriminierenden Bedingungen ungemein schwerer ist, das eigene Potenzial zu entfalten. Und dass viele Kinder, Jugendliche und Studierende in Deutschland nicht die gleichen Chancen haben – egal, wie viel sie leisten oder wie talentiert sie sind.

Meine Herkunft als reines Defizit zu definieren, wäre der falsche Schluss. Ich bin überzeugt, dass ich dank meines Erfahrungswissens verknüpft mit Fachkenntnissen ein besonderes Maß an Empathie und kritischem Denken entwickeln konnte.

Noch mehr als das: Gerade wegen meiner Wurzeln und den damit verbundenen Erfahrungen weiß ich genau, worüber ich hier schreibe und für wen.


Quellen:

1) Julius von Harpen: marginal man (Lexikon Uni Kiel)
2) Dorsch Lexikon der Psychologie: Randpersönlichkeit
3) Wikipedia: Randseiter
4) Aladin El-Mafaalani: Bildungsaufstieg – (K)eine Frage von Leistung allein? (Bundeszentrale für politische Bildung)
5) Bernd Hüttner, Riccardo Altieri (Hrsg.): Klassismus und Wissenschaft. Erfahrungsberichte und Bewältigungsstrategien, Reihe Hochschule, Bd. 13, Marburg: BdWi-Verlag, 2020
6) Christian Baron, Maria Barankow (Hrsg.): Klasse und Kampf: Ein politisches Manifest über die feinen Unterschiede, die eine Gesellschaft in Oben und Unten teilen, Claasen 2021
7) Elena Weber: Regelstudienzeit: Das solltest du wissen (Unicum 11.01.23)
8) Pia Rauschenberger und Trang Thu Tran: Die unangenehme Wahrheit sozialer Ungerechtigkeit (Deutschlandfunk 27.06.2019)

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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