Soziale Armut – über Soziale Ungleichheit & Ausgrenzung

Armut wird in den meisten Industrienationen quantitativ verstanden. Das Phänomen Armut geht jedoch weit über diese Definition hinaus: Sozial bedürftige Menschen haben nicht nur wenig Geld und Habseligkeiten, sie haben auch ein ressourcen-schwaches Netzwerk. Und damit kaum Möglichkeiten, um mit den vielfältigen Krisen und Nöten des Lebens fertig zu werden.

Dieser Artikel erschien im Rahmen meiner Arbeit bei der Kinderhilfe “Deutsche Lebensbrücke”.

Soziale Armut

beschreibt die ungleiche Einschränkung von Handlungsfreiheit & Lebensentwürfen - sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern.

Armut bedeutet: Leben im Mangel

Was es eigentlich für Menschen bedeutet, in Armut zu leben, können sich die aller wenigsten vorstellen. Ein Leben in Armut bedeutet ein Leben im Mangel – und zwar in jeglicher Hinsicht.

Trotzdem wird der Begriff Armut in modernen Industriestaaten wie Deutschland rein quantitativ verstanden: Wohlstand und materieller Lebensstandard sind die Kriterien – obwohl sich Armut nicht auf ein bloßes Defizit an materiellen Gütern reduzieren lässt.

Allein die Wortgeschichte des Begriffs “Armut” bezeugt, dass es sich beim Phänomen der Armut nicht um eine materielle Angelegenheit handelt, sondern vielmehr um eine Problemlage, die soziale, wirtschaftliche und politische Dimensionen umfasst.

Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik

 

Wortherkunft: “Armut”

Armut geht auf die germanische Wortwurzel *arҍma- zurück, was so viel heißt, wie: „vereinsamt, verwaist, verlassen“ (2). Im Mittelalter galt als arm, wer ‘mittellos, dürftig, bedauernswert’ war. Eine alte Beschreibung für „sehr große Armut“ ist Mendizität.

Dieser Wortursprung verweist auf einen ganz spezifischen Erlebnisqualität: nämlich den sozialen Charakter von Armut.

Armut ist nicht nebenbei ein soziales Phänomen, sondern vorrangig und konkret ein Gesellschaftsproblem, das je nach Klasse, Kultur und Land unterschiedlich verstanden wird.

Beim Thema Armut geht es eigentlich um ein relationales Verhältnis. Sie beschreibt immer einen Vergleich zwischen Individuum und Gruppe.

 

Darum kann Soziale Armut nicht durch die bloße Beschreibung von Einkommens- und Vermögens-verhältnissen erfasst werden. Ein angemessenes Armutsverständnis geht den Fragen nach, WANN, WO, WARUM und WEN Armut trifft.

 

Was ist Soziale Armut? (Definition)

Mit dem Begriff Soziale Armut möchte der Sozialwissenschaftler André Knabe (1) eine Armutsdefinition liefern, die sich auf die sozialen Nachteile und Implikationen von Armut konzentriert und dadurch viel differenzierter die Lage von armen Menschen beschreiben soll.

So definiert, ist Soziale Armut eine Ansammlung von materiellen und sozialen Benachteiligungen, die Hand in Hand gehen und sich gegenseitig bedingen.

Knabe geht davon aus, dass ressourcen-schwache soziale Beziehungen nicht nur eine Folge von materieller Armut sind, sondern auch dazu beitragen, dass Menschen arm werden (Armutsentstehung) und arm bleiben (Armutsaufrechterhaltung).

 

Soziale Armut beschreibt damit eine sozial-strukturelle Position, in welcher Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen zur Bewältigung von Problemen & Krisen kaum vorhanden sind.

 

Zusammenhang von Armut & sozialem Netzwerk

Das Einleben in soziale Strukturen findet auf mehreren Ebenen gleichzeitig statt. Welche Dimension davon mehr ins Gewicht fällt, als die anderen, hängt natürlich immer von der subjektiven Wahrnehmung und individuellen Erfahrung ab. Allerdings nimmt bei den meisten Betroffenen das Gemeinschaftsleben den größten Raum ein.

Das ist ein sehr unkonventioneller Ansatz. Denn nun wird nicht gefragt:

Wie viel verdienen Sie? Haben Sie finanzielle Rücklagen?”,

sondern „Mit welchen Personen, Institutionen, Gruppen etc. haben Sie im Alltag Kontakt?

Mit der Untersuchung sozialer Beziehungen lässt sich herausarbeiten, inwiefern und warum materielle Armut mit sozialer Verarmung einhergeht.

Soziale Verarmung meint hier das Verschwinden bzw. Auflösen von Beziehungen zu nicht-armen Menschen. So wird es möglich, abstrakte Begrifflichkeiten (wie Exklusion und soziale Ausgrenzung) auf ihre Substanz zu prüfen.

 

Der 2. große Vorteil von Knabes Netzwerkperspektive liegt in ihrer Relationalität. Auf den Punkt gebracht:

  • Welche Erfahrungen von sozialer Ungleichheit führen dazu, dass Menschen an Handlungskraft und Selbstwirksamkeitsbewusstsein einbüßen?

  • Und welche Arten von sozialer Integration helfen, ein gesellschaftliches Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln?

Zu guter Letzt zeigt die Netzwerkperspektive, wie sehr Einzelne in ihren Entscheidungen und Handlungen von ihrem Umfeld beeinflusst sind – und auch zu großen Teilen abhängig. Bewältigungsmöglichkeiten sind dadurch stark eingeschränkt und orientieren sich immer an den Handlungsmöglichkeiten des sozialen Milieus.

 

Geld allein reicht nicht…

Der sozialpolitische Kampf gegen Armut braucht soziale Integration

Niemand kann bestreiten, dass die Chancen und Freiheiten im Leben eines Menschen mit seiner materiellen Lage zusammenhängen. Die finanzielle Absicherung von sozial benachteiligten Menschen bleibt daher ein wichtiger Schritt.

Trotzdem reicht der Fokus auf die materielle Situation nicht aus, um die vielseitigen Mechanismen zu verstehen, die zur Entstehung von Armut beitragen und diese zu verbessern.

 

Zu der Lebenslage eines Menschen zählt nämlich auch:

  • der unmittelbare Lebensraum mit seinem Umfeld,

  • der Zugang zu sozialen Diensten und Institutionen,

  • der Gesundheitsstatus,

  • die soziale Eingebundenheit

  • Bildungsmöglichkeiten (vgl. auch Bildungsexpansion)

  • Berufs-Chancen

 

Einbeziehung des sozialen Kontextes von Armut

Warum ist es so wichtig, den Sozialraum, in dem sich Armut herausbildet und aufrecht erhält in den Blick zu nehmen?

Weil die Entwicklung von Kindern nicht allein von ihrer individuellen Armut abhängt, sondern auch davon, wie der soziale Lebensraum geprägt ist.

Hier kommt soziale Ausgrenzung ins Spiel. Denn neuere sozial-ökologische Studien belegen, dass separierte Quartiere und Stadtviertel, in denen Menschen aus der unteren Sozialschicht leben müssen, die soziale Ausgrenzung und Armutslage verschärfen.

 

Das beginnt bereits bei den Kitas und Schulen dieser Stadtviertel und Quartiere, die oft dürftig ausgestattet und chronisch unterbesetzt sind. Hinzu kommt eine schlechtere Infrastruktur, die schlechte Ausstattung von Unterkünften und zu guter Letzt sogar die diskriminierende Wirkung von Adressen.

 

Auf den Punkt gebracht: Nicht einzelne Faktoren entscheiden darüber, wer arm ist, wie sich diese Armut äußert und wie sehr sie das Leben auf ein Mindestmaß an Freiheit einschränkt. Vielmehr sind es die Lebensumstände, welche die individuellen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bestimmen.

Das heißt, die Sicherheit von Kindern und Erwachsenen, der gesellschaftliche Status und die Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, sind wesentlich davon abhängig, wo Menschen aufwachsen und leben.

 

Soziale Armut in Deutschland

Trotz zahlreicher Armutsberichte herrscht in Deutschland immer noch der Glaube vor, es existiere eine soziale Mobilität, die es jedem ermögliche, sich aus eigener Kraft ein menschenwürdiges Leben (tlws. sogar in Wohlstand) zu erarbeiten.

Vgl. auch: Was Armut mit Kindern macht & wie sie prägt

 

So sehr es auch dem öffentlichen Selbstbild Deutschlands widerstrebt: soziale Mobilität gibt es hierzulande nicht mehr. Doch Armut gibt es in Deutschland seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten – und sie ist noch längst nicht ausgemerzt. Im Gegenteil, die soziale Kluft wird wieder größer.

 

Aus meiner Arbeit in der Kinderhilfe weiß ich, dass soziale bedürftige Haushalte sich oft für Energie- und Mietkosten verschulden müssen, da Miete und Strom in den letzten Jahren immer teurer wurden – einmal abgesehen von den Problemen durch die Ukraine-Krise.

Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs, denn zu den finanziellen Sorgen gesellen sich so gut wie immer Gesundheitsprobleme (vgl. gesundheitliche Ungleichheit), Partnerschaftskonflikte und Erziehungsprobleme.

 

Kinder, die im Mangel aufwachsen, haben mit schwerwiegenden Folgen zu kämpfen – und das bereits vor ihrer Geburt. Das zeigt sich zum Beispiel körperlich…

So beweisen die Geburtsstatistiken: Mütter in Armut bringen häufiger Kinder zur Welt, deren Geburtsgewicht deutlich unter den Durchschnittsgrößen liegt. In medizinischer Hinsicht ist dies ein untrügliches Zeichen für Entwicklungsverzögerungen bzw. Entwicklungsstörungen.

 

Ebenso ist die familiäre Herkunft das ausschlaggebende Kriterium für den Zugang zu Bildung und auch den Erfolg von Bildungsmaßnahmen. vgl. auch: gefühlte Armut – mittellos, diskriminiert & stigmatisiert

Selbstverständlich wirken sich diese Ungleichheiten extrem auf die Lebensgestaltung und die Lebenserwartung im Erwachsenenleben aus: Männer der untersten Einkommensgruppen sterben im Durchschnitt 11 Jahre früher als die höchsten Verdienstgruppen!

 

Fazit: Soziale Armut & Ausgrenzung

Die vielen Diskussionen über Kinderarmut, Armutskonzepte und Armutskriterien lassen es so wirken, als wäre das Thema ein erkenntnistheoretisches Problem. Ist es aber nicht.

Denn anhand interdisziplinärer Untersuchungen zeigt sich Armut als ein Verlust von Handlungsfreiheit und Selbstwirksamkeit.

Aus diesem Grund kann Armut nicht allein durch einzelne Hilfeleistungen oder durch rechtliches Engagement beseitigt werden. Vielmehr braucht es einen ganzheitlichen Ansatz, der die individuelle, politische und soziale Situation miteinander verknüpft und gleichzeitig bekämpft.

Letztendlich bleibt es eine politische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Betroffene ausreichend Mittel erhalten, um ihren Lebensbedarf zu bestreiten und strukturelle Ungleichheiten als Armutsursache zu verhindern.

Dazu gehört: Die Lebensbedingungen vor Ort müssen so konzipiert werden, dass sie soziale Ausgrenzung verhindern, anstatt verstärken.

Vgl. auch Klassismus in Deutschland – Ein Kampf gegen Arme statt Armut + Sozialer Aufstieg durch Bildung und die Opfer des Erfolgs.


Quellen:

1) André Knabe: »Soziale« Armut aus der Netzwerkperspektive. In: Soziale Armut – Wahrnehmung und Bewältigung von Armut in sozialen Netzwerken. Sozialstrukturanalyse. Springer 2021
2) Duden: Herkunftswörterbuch der Deutschen Sprache
3) Hans Böckler Stiftung: Was Armut bedeutet
4) Statistisches Bundesamt: Armut oder soziale Ausgrenzung
5) Christoph Butterwege: Der Streit um den Armutsbegriff: Polemiken, Probleme, Perpektiven (In: Soziale Sicherheit 11/2015)
6) Bundeszentrale für politische Bildung: Armut, Einkommen und sozialer Schutz
7) Ulrike Wössner: Ganzheitlicher Ansatz gegen Armut und soziale Ausgrenzung
8) Jürgen Boeckh: Armut

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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Ursprung: Panikattacken #4 - Persönliche und kulturelle Faktoren

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Homo solus – Doxai und Paradoxa des kulturellen Selbstverständnisses