Therapeutische Beziehung – Vertrauensprobleme & Unehrlichkeit

Die Vertrauensbasis zwischen Psychotherapeuten und Patienten ist laut vielen Untersuchungen ausschlaggebend für den Erfolg einer Therapie. Allerdings ist Ehrlichkeit und Offenheit nicht selbstverständlich - auch nicht in einer Psychotherapie. Wie komplex und schwer Vertrauen in der therapeutischen Beziehung aufzubauen ist, zeigt sich daran, dass sowohl Therapeuten als auch Patienten flunkern, verschweigen oder aktiv lügen.

Therapeutische Beziehung

Wie sehr vertrauen sich Patient & Therapeut?

Jedenfalls nicht so sehr, wie sie einander glauben machen.

 

Wer eine Psychotherapie startet, hat Ängste & Hemmungen

In der idealen Beziehung zwischen Therapeut und Patient ist eine ehrliche Haltung ausschlaggebend. Die psychotherapeutische Praxis dient als Schutzraum, in welchem man sich ohne Hemmungen öffnen kann und alles sagen darf, was einem auf dem Herzen liegt.

Und das frei von der Angst, vom Gegenüber verurteilt, abgewertet oder abgelehnt zu werden. Gleichzeitig sind auch die Behandler zur Ehrlichkeit und Wahrheit verpflichtet. Es gilt, sich mit Patienten/Klienten auf Augenhöhe zu begeben.

 

Soweit zum Idealfall, der in der Realität selten bis gar nicht anzutreffen ist.

Dabei scheinen mir Therapeuten oft zu vergessen, dass da ein leidender, belasteter und traumatisierter Mensch ihre Hilfe sucht, der seine Ängste, Hemmungen, Verhaltensweisen und Gefühle nicht einfach abschütteln kann. Egal wie nett, kompetent und empathisch der Psychotherapeut ist.

Psychische Krankheiten sind derart schambehaftet und stigmatisiert, dass sie das menschliche Vertrauen besonders hart herausfordern. Noch dazu sind die Krankheiten oft selbst mit einem basalen Vertrauensverlust charakterisiert: die natürliche Selbstverständlichkeit geht abhanden.

Vgl. auch Stigmatisierung in der Psychiatrie – Ignoranz & andere Übel

Man traut sich selbst nicht mehr, Körper und Gedanken spielen verrückt. In diesem Zusammenhang leidet auch notwendig das Vertrauen zu anderen Menschen.

 

Entstehung von Vertrauen

Vertrauen ist ein soziales Phänomen, welches eine interaktive Komponente aufweist und somit ohne die Anwesenheit anderer Personen, die Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit, den Austausch mit ihr und die Bindung an sie nicht existieren kann.

Die Entwicklung von Empathie und das Verständnis für Fairness und Gegenseitigkeit, die beide für die Entfaltung von Moral grundlegend sind, stehen in enger Verbindung mit der Fähigkeit zum Vertrauensaufbau.

(vgl. auch Philosophie und Psychologie – Oder: Was ist seelische Krankheit?)

 

Von Lügen & Unwahrheiten in der Psychotherapie

Dem Thema Lügen in der Psychotherapie widmete sich eingehend eine Forschergruppe um den klinischen Psychologen Prof. Dr. Barry Farber (Columbia University, USA). In einer Studien wurden hunderte von Patienten befragt, bei welchen von 58 Themen (zum Beispiel Selbstzweifel, Alkoholkonsum, Suizidgedanken) sie schon einmal gelogen hätten.

93 % der Patienten gab zu, mindestens bei einem Thema nicht die Wahrheit gesagt zu haben, wobei das häufigste Thema die eigene Verfassung war. 

  • 54 % stellten ihre Symptome schlimmer dar, als sie eigentlich waren

  • 39 % verharmlosen dagegen ihre Symptome

  • 31 % verschwiegen außerdem Suizidgedanken und Selbstzweifel 

  • 29 % verschleierten bzw. logen bewusst in Bezug auf ihren Alkohol- und Drogenkonsum

 

Diese Themen brauchen eine starke therapeutische Beziehung

In einer neuen Studie haben Farber und ihre Kollegen untersucht, welche Themen von 33 Themen von Psychotherapiepatienten oft verschwiegen werden. 798 Patienten, die befragt wurden, gaben an, über die folgenden Themen nicht freiwillig zu sprechen bzw. zu schweigen: 

  • sexuellen Wünsche und Fantasien (34%) 

  • Einzelheiten des Sexuallebens (33%) 

  • sexuelle Orientierung (17%) 

  • Familiengeheimnisse (16%) 

  • Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch (15%)

 

Auch über die Therapie selbst wurde oft gelogen: 

  • 29% täuschten vor, die Aussagen und Vorschläge der Therapeuten sinnvoll und hilfreich zu finden – oder sie logen, durch die Therapie ginge es ihnen besser

  • 26% beschwindelten ihre Behandler bzgl der Erledigung ihrer therapeutischen Hausaufgaben 

  • 18% verschwiegen, was und wie sie über über den Behandler dachten

 

Kontinuum von Wahrheit & Lüge

Nicht jede Lüge ist eine Lüge im moralisch verwerflichen Sinne.

Überhaupt gibt es viele Nucancen von Lügen, zum Beispiel die halbe Wahrheit sagen, eine Notlüge äußern, schwindeln, verschweigen, verschleiern, vom Thema ablenken, herunterspielen, übertreiben usw.

Zudem wird unterschieden zwischen passivem Lügen (zum Beispiel etwas verschweigen, nicht die ganze Wahrheit erzählen) und aktivem Lügen (zum Beispiel Tatsachen verdrehen, ganz bewusst etwas Falsches behaupten).

 

Warum lügt bzw. flunkert man in der Psychotherapie?

Nach Farber und ihrem Team geht es beim Lügen (in der Psychotherapie) darum, das labile Selbstwertgefühl zu schützen.

Schließlich ist es wirklich schwierig und erfordert Mut, über unangenehme und schwierige Dinge zu sprechen. 

Salopp formuliert: Lügen, Verschweigen und Bagatellisieren sind Schutzstrategien, die intuitiv genutzt werden, um den Stress durch Therapie zu reduzieren und das eigene Selbst vor Verletzungen zu bewahren. Vgl. auch Verletzungen in der Psychotherapie

Oftmals besteht auch große Scheu, den Therapeuten zu sehr zu belasten (falsche Fürsorge-Pflicht).


Angst vor Verurteilung

In der Regel fürchten sich viele davor, vom Therapeuten kritisiert und beurteilt zu werden.

Nicht selten lügen Betroffene, um ihre Therapeuten zu schonen, von ihnen gemocht zu werden oder weil sie Angst vor einer negativen Reaktion bzw. Konsequenz haben.


Selbsttäuschung

Natürlich gibt es auch einige Patienten, die sich durch das Lügen selbst täuschen. Dazu können Abwehrmechanismen zählen, wie:

  • Verleugnung

  • Rationalisierung

  • Idealisieren


Unwissenheit

Ein weiterer Grund für das Lügen besteht schlicht und ergreifend in Unwissenheit: Teilweise wissen Patienten überhaupt nicht, dass bestimmte Erfahrungen, Gedanken oder Gefühle relevant sind, weil sie den Zusammenhang nicht durchblicken.


Zweifel an Therapeuten

Nachvollziehbar ist auch, dass einige Patienten schweigen bzw. lügen, weil sie überzeugt sind, dass der Therapeut sie nicht verstehen könne.

Einige stellen auch in Frage, ob der Behandler bei der Problematik überhaupt helfen kann.


Schamgefühle

Verlegenheit und Scham sind bei psychischen Problemen und intimen Angelegenheiten typisch.

Kein Wunder, dass also viele ihre Gedanken, Gefühle oder Erfahrungen bagatellisieren oder verschweigen, weil sie sich zutiefst schämen.

Scham ist ein mächtiger Affekt, der nicht so ohne Weiteres verschwindet.


Angst vor Kontrollverlust

Oft befürchten Patienten, ein Thema anzusprechen bringe unkontrollierbare Gefühle hervor. Und das ist nicht zu weit gegriffen:

Es ist schmerzvoll und beängstigend, über Dinge zu sprechen, die in einem Schuldgefühle, Ängste und Scham auslösen. Darüber hinaus können aufwühlende Erinnerungen einen Menschen überwältigen und lahm legen.


 

Können Psychotherapeuten Lügen erkennen?

Das glauben zumindest die meisten. In den Studien gaben beinahe alle der befragten Therapeuten an, sie würden Unehrlichkeiten der Patienten durchschauen.

Genau das Gegenteil ist aber der Fall (das bezeugen auch viele Selbstberichte von Patienten). Laut weiteren Studien von Farber entlarvten Psychotherapeuten Lügen nur in den seltensten Fällen (mickrige 9 % lagen richtig, 92 % falsch). Am besten erkennen Behandler die Bagatellisierung von Symptomen oder Zuständen.

 

Auch Therapeuten verheimlichen häufig

In einer weiteren Studie kam heraus, dass 96 % gezielt Informationen zurückgehalten und 81 % ihre Patienten auch einmal direkt angelogen hatten (1).

Weitere Untersuchungen zu diesem Thema von Farber und Kollegen zeigten, dass Therapeuten eher passiv logen, insbesondere in Bezug auf:

  • negative Gefühle (zum Beispiel Frustration, Enttäuschung) gegenüber dem Patienten bzw. der Therapie

  • vergessen von Teilen/Ereignissen der Geschichte des Patienten

  • Zweifel, dem Patienten helfen zu können

  • Misserfolge (zum Beispiel ausbleibende Therapiewirkung) 

  • eigene Pannen und Missgeschicke (zum Beispiel Einschlafen in der Sitzung).

 

Vertrauen ist nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess

Vertrauen ist fragil, da es stets an Beziehungen geknüpft ist, welche sich im Laufe der Zeit verändern.

Obwohl Vertrauen mit guten Absichten aufgebaut wurde, kann es verloren gehen, sei es aus Verzweiflung, Angst oder Not, oder sogar absichtlich zerstört werden.

Diese Tatsachen zeigen, dass Vertrauen nicht einfach garantiert ist, sobald es erst einmal aufgebaut wurde. Es muss sich während der Phasen des Zweifels und der Enttäuschung bewähren und ständig gepflegt werden. Das gilt auch für die therapeutische Beziehung!

Damit sich Vertrauen bilden kann, braucht es zudem eine offene Verständigung. Vertrauen ist an wirksame Kommunikation gebunden. Es kann nur wachsen, wenn wir uns persönlich in Beziehungen einbringen.

 

Vertrauen in der Therapie

In therapeutischen Beziehungen ist Vertrauen nicht automatisch vorhanden, sondern muss von beiden Parteien aufgebaut und kontinuierlich aufrechterhalten werden, wie es auch bei anderen Arten von Vertrauen der Fall ist.

Oftmals hat der Therapeut keine Wahl in Bezug auf die Auswahl seines Patienten und muss daher ein gewisses Maß an Vertrauen in den Patienten setzen. Trotzdem ist es häufig erforderlich, dass der Therapeut das Misstrauen des Patienten zunächst anerkennt und aushält.

Wenn ein Mensch aufgrund von früheren Beziehungsabbrüchen und Verletzungen Schwierigkeiten hat, Vertrauen aufzubauen, muss dieses Vertrauen in der therapeutischen Beziehung erarbeitet werden.

 

Daher ist Vertrauen oft weniger eine Voraussetzung als ein Ergebnis der Therapie.

Es kann in therapeutischen Beziehungen nicht einfach angenommen, sondern muss aktiv aufgebaut und gepflegt werden.

Auch der Patient wird in der Regel dem Therapeuten anfänglich einen Vertrauensvorschuss einräumen müssen. Obwohl sich das Verständnis der Arzt-Rolle in der Öffentlichkeit stark gewandelt hat, werden Therapeuten gerade zu Beginn einer Behandlung, idealisiert.

In einer Psychotherapie muss später jedoch an dieser Form von positiver Übertragung gearbeitet werden. Nicht selten ist der nächste Schritt eine Entwertung, die wieder Distanz schafft. Die Entwicklung von Vertrauen in einer derart dynamischen und reziproken Beziehung erfordert harte, beidseitige Arbeit.

 

Während einer Therapie treten oft Vertrauenskrisen auf. Doch im Gegensatz zu alltäglichen Beziehungen erlaubt es die therapeutische Haltung, dass wiederkehrenden Krisen, in denen das Vertrauen in Frage gestellt wird, verstanden und erfolgreich bearbeitet werden können.

 

Fazit: Therapeutische Beziehung & Vertrauen

Bei so häufigen Ängsten & Zweifeln innerhalb der therapeutischen Beziehung fragt sich doch, was da eigentlich schief läuft? Ich denke, hier kommt es auf Folgendes an – und das auf beiden Seiten:

Vertrauen und Ehrlichkeit haben nur dann eine Chance, wenn sich Patienten und Behandler auf Augenhöhe begegnen. Patienten spüren, wie viel Wertschätzung ihnen entgegengebracht wird.

Eine therapeutische Beziehung aufzubauen, braucht viel Zeit. Das ist in einer Kurzzeittherapie von 3 Monaten kaum möglich. Langzeittherapien schneiden da besser ab, insbesondere weil auch der zeitliche Druck wegfällt.

Vgl. auch Langzeitfolgen der Depression – Was von der Krankheit bleibt.

Wahrheit ist (inter-)subjektiv. Zu einer gemeinsamen Lösung komme ich, wenn ich mich dem du behutsam, bescheiden und respektvoll öffne.

Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik


Quelle:

1) Marion Sonnenmoser: Lügen in der Psychotherapie: Vertrauen ist die Basis (Deutches Ärzteblatt PP 21, Ausgabe Mai 2022, Seite 210
2) Farber BA: Disclosure, concealment, and dishonesty in psychotherapy. Journal of Clinical Psychology 2020; 76 (2): 251–7.
3) Farber BA, Blanchard M, Love M: Secrets and lies in psychotherapy. Washington, DC: APA 2019.
4) Samuel Pfeifer: „Ich habe einen wunderbaren Ehemann“. Lüge und Wahrheit in der Psychotherapie. In: P&S Magazin für Psychotherapie und Seelsorge, Ausgabe 2021/4
5) Joachim Küchenhoff und Kyrill Schwegler: Vertrauen aus psychotherapeutischer und neurobiologischer Sicht. In: Schweiz Ärzteztg. 2017;98(3031):962–965. DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2017.05746

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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Attributionen - Kritik an der offiziellen Psychotherapie #4