KRITIK AN DER OFFIZIELLEN PSYCHOTHERAPIE #3 – WIE ICH ES SEHE
Krankheit und Diagnose als gemeinsame Wahrheit
Krankheit – mal paradox
Können wir Krankheit nicht auch ganz anders betrachten? Manche andere Kulturen sehen in dem Zustand der Krankheit durchaus etwas Positives, z. B. der Amazonas-Schamane, der seine Aufgabe darin sieht, den Patienten krank zu machen, weil dieser nur so die Möglichkeit hat, die Widersprüche seines Lebens zu erkennen und diese zu ändern.
In manchen Kulturen wird Krankheit als eine göttliche Strafe für eine Missetat deinerseits angesehen oder dafür, dass du einen unzüchtigen Gedanken gehabt und dich nicht genügend kasteit hast. (Wenn wir von einigen dunkelreligiösen Kreisen absehen, sind wir in unserer Kultur glücklicherweise ein wenig über dieses Stadium hinaus, denke ich.)
Ich werde dir jetzt eine paradoxe, also eigentlich unlogische Formulierung anbieten, nämlich:
Manchmal ist es gesund, krank zu sein.
Entscheide selbst, ob diese Aussage wirklich sinnlos, paradox, unlogisch oder falsch ist:
Könnte es nicht positiv für unsere Gesundheit sein, wenn wir ab und zu Durchfall haben und der Darm sich reinigen kann oder Schnupfen, damit wir nicht immer die Nase voll haben von etwas oder Jemandem?
Wenn der Rücken nicht schmerzte, würden wir uns ständig zu viel aufladen, oder?
Wenn wir keine Angst hätten, würden wir dann nicht zu viel riskieren?
Würden wir ohne depressive Stimmungen überhaupt hinterfragen, worin Wert und Sinn des eigenen Lebens bestünden?
Könnte es nicht unserer Gesundheit dienen, wenn unser Körper oder unsere Psyche uns manchmal zwingt, kürzer zu treten, zur Besinnung zu kommen, Ruhephasen einzulegen?
Ist es nicht gut, wenn unser Organismus uns ab und zu daran erinnert, dass er achtsam behandelt werden möchte?
Würden wir ansonsten nicht zu selbstverständlich, ja, zu ausbeuterisch mit ihm umgehen?
Könnten wir Phasen des Wohlgefühls überhaupt würdigen, wenn wir es nicht auch anders erlebt hätten? Selbst lebensbedrohliche Krisen, sagen wir mal: Herzinfarkt, Selbstmordgefährdung oder Krebs, verstehen manche Menschen – oft natürlich erst im Nachhinein – als nötigen Weckruf.
Unsere Kultur hat irgendwann begonnen, Krankheit und Gesundheit als Gegensätze zu behandeln. Das heißt: Entweder bist du gesund oder krank, und das beinhaltet auch: richtig oder falsch, gut oder schlecht, sinnvoll oder sinnlos, jung oder alt, schön oder hässlich, zugehörig oder fremd, wertvoll oder wertlos.
Die Folgen dieser Grundüberzeugung sind: Technisierung der Gesundheit, Entfremdung des Menschen von der Medizin und von sich selbst.
Psychotherapie beinhaltet aus meiner Sicht, diese gesellschaftlichen Bewertungen auf den Prüfstand zu stellen. So können die eigene Krankheit, individuelle Schwächen, Unzulänglichkeiten und Einschränkungen eine Neubewertung im Sinne einer Fehlerfreundlichkeit sich selbst gegenüber erfahren: Frau lernt, ihren Mängeln, Schwächen und Fehlern eine Berechtigung, einen Wert und Sinn zuzuerkennen. Manchmal wird sie sogar erleben, dass daraus ungeahnte Stärken erwachsen.
Diagnose
Deine Therapeutin sagt zu dir vielleicht: Sie haben eine Depression. Oder: Ich habe eine generalisierte Angststörung bei Ihnen diagnostiziert. Es kann auch sein, dass sie es vorsichtiger formuliert: Ich vermute, dass eine Posttraumatische Belastungsstörung vorliegt.
In der offiziellen Psychotherapie wird sie davon ausgehen, dass wahrerweise eine Störung namens X für das seelische Leiden Y verantwortlich ist. Der diagnostizierten Erkrankung entspricht in dieser Sichtweise dann auch die richtige oder wahre Behandlungsmethode sowie eine Prognose, das heißt so viel wie eine Aussage über die wahre Heilungschance. Gänzlich fraglos geht sie davon aus, im Besitz dieser Wahrheiten zu sein.
Erkennen der Wahrheit
Aus meiner Sicht ist es aber unerlässlich, sich mit der Problematik der Wahrheitserkenntnis grundlegend auseinanderzusetzen. Denn die Haltung des Therapeuten, die er dazu hat, bestimmt ganz entscheidend seine Haltung gegenüber seiner Patientin:
1. Denn der Blick des Fachmannes, auch wenn er noch so gut ausgebildet ist, ist letztlich immer subjektiv: Vielleicht hat er am letzten Wochenende gerade eine Fortbildung über Persönlichkeitsstörungen besucht und sieht jetzt überall Indizien für diese Erkrankung. Wenn er Traumatherapeut ist, betrachtet er viel mehr Störungen als traumatisch bedingt, als es zB eine Psychoanalytikerin tun würde. Wenn er selbst vor Jahren seine Frau, die ihn betrogen hat, verlassen hat, neigt er vielleicht dazu, diese Lösung auf seine Patientin zu übertragen, deren Mann fremdgegangen ist.
Die Fachfrau wird jetzt vielleicht einwenden: Na klar, aber deshalb verwende ich ja objektive Tests – das ist genauso verlässlich wie in der Körpermedizin ein Blutbild oder ein EKG, bei dem man den Befund zweifelsfrei ablesen kann.
Du weißt sicherlich: Auch in der Medizin muss ein objektiver Befund interpretiert werden, und dieser Vorgang ist immer subjektiv, also der Einengung der persönlichen Perspektive unterworfen. Man sagt ja nicht umsonst, man würde von 5 Ärzten 5 verschiedene Diagnosen bekommen! Eines der Probleme bei psychologischen Befunden, also Tests beispielsweise, besteht im besonderen Maße darin, dass man zwar statische Aussagen machen kann, z. B.: 68 % der stationär aufgenommenen Patienten haben im Phobie-Test XY einen Wert, der über 17 liegt.
Aber für den Einzelfall bedeutet dies überhaupt nichts! Wenn bspw. jemand in einem Fragebogen den Satz: Das Leben ist für mich ohne Sinn. mit Ja beantwortet, muss man mit ihm ausführlich darüber sprechen, was diese Aussage für ihn bedeutet: Für Person A ist dies vielleicht ein philosophisches oder anthropologisches Statement, während Person B gerade auf dem Dach eines Hochhauses steht.
2. Aus philosophischer und erkenntnistheoretischer Sicht können wir nicht davon ausgehen, dass ein Mensch einen direkten Zugang zu der Realität hat – so wie es eine Göttin hat oder hätte oder ein Wesen aus einer anderen Galaxie, dessen digitale Schöpfungen wir alle sein könnten. Das heißt, dass frau sich immer nur ein Bild (oder eine Vorstellung, eine Theorie, ein Modell …) von der Realität machen kann.
Ich bin sogar davon überzeugt, dass man nicht einmal sagen kann, eine Fachfrau sei in irgendeiner Weise näher an der Realität als ein Laie. Jede Person hat ihre eigene, ganz persönliche Wirklichkeit von der Realität, die zudem auch noch einem ständigen Wandel unterworfen ist. Wenn zwei oder mehrere Menschen aufeinander treffen, begegnen sich also zwei oder mehrere (subjektive) Wirklichkeiten, also: Wirklichkeiten von der Realität, und dann auch noch Wirklichkeiten von Wirklichkeiten (nämlich das, was ich am Anderen wahrnehme, über ihn denke sowie was ich denke, dass er denkt, fühlt, will oder mag).
Wir müssen dies jetzt nicht philosophisch erschöpfend diskutieren; was ich dir nur zeigen will, ist: Das mit der Realität und mit der Wahrheit ist nicht ganz so einfach, wie es uns im Alltag vorkommt, und das gilt auch für die Wissenschaft. Nehmen wir an, deine Behandlerin sagt zu dir: Hinter Ihrer Traurigkeit nehme ich eine ganz massive Aggression wahr. Nehmen wir ferner an, dass sie auf deine Frage, wie sie denn dazu komme, antwortet: Das sagt mir meine Intuition, die durch Erfahrung, Schulung und Supervision geschult ist. Wenn sie so denkt, verwechselt sie ihre subjektive Wirklichkeit mit der (angenommenen) absoluten Realität. Philosophinnen würden sie dann als naive Realistin bezeichnen. Naive Realisten halten immer das, was sie wahrnehmen, fraglos für wahr.
3. Drittens müssen wir bedenken, dass diese sogenannten “Wahrheiten“ (also z. B. auch Diagnosen) die Neigung aufweisen, sich selbst zu bestätigen. Sich selbst erfüllende Prophezeiung nennen es die Fachleute.
Sie setzen sich in den Köpfen der Patienten fest (Wegen meiner Depression kann ich x nicht tun!) und ebenso in den Köpfen ihrer Behandlerinnen (Wegen der vorliegenden Persönlichkeitsstörung muss ich die Äußerung x von Frau N kritisch sehen.), in den Köpfen der behandelnden Ärzte (Die Herzbeschwerden von Herrn O sind psychosomatisch, das müssen wir nicht groß untersuchen. – Meine Anmerkung dazu: Auch Herzphobiker können Herzinfarkte kriegen!) und nicht zuletzt auch in den Hirnen von Versicherungsleuten (Die Antragstellerin hat schon mal eine Anpassungsstörung gehabt und eine Psychotherapie gemacht, der verpasse ich mal einen Risikozuschlag. – Meine Anmerkung dazu: Wen wollt ihr denn in Zukunft eigentlich noch versichern, wenn ihr alle Bewerber mit Psychotherapie-Erfahrungen ablehnt?!?)
4. Und nicht zuletzt müssen wir Psychotherapeutinnen uns immer bewusst sein, dass wir mit allem, was wir sagen und tun, Tat-Sachen in die Welt setzen, und zwar völlig unabhängig davon, ob sie richtig sind oder falsch. Man kann vielleicht auch formulieren: Was wir sagen, wird zu einer Realität, egal, ob wir diese Folgen unseres Tuns beabsichtigt haben oder überhaupt wahrnehmen können. Oftmals, so behaupte ich, realisieren sich auf diese Weise unerkannte und unbeabsichtigte negative Folgen.
Ich gebe ein Beispiel: Einer meiner Patienten erhielt während einer Klinikbehandlung die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Diagnose war mit Sicherheit falsch, sie wurde auf mein Betreiben hin zurückgenommen. – Zurückgenommen?? Ja, indem ein korrigierter Behandlungsbericht verfasst und an behandelnde Therapeuten, Ärzte und auch an die Rentenversicherung – es handelte sich um ein Reha-Verfahren – geschickt wurde. Aber letztlich konnte die Diagnose nicht unschädlich gemacht werden: Sie hatte Folgen; denn der Patient blieb verunsichert und litt nunmehr an erheblich stärkeren Selbstzweifeln als vor der stationären Behandlung! Trotz der „Korrektur“ ließ die Rentenversicherung nicht nach, ihn aus seinem Beruf als Heilerzieher, den er sehr engagiert und kompetent ausfüllte, herausnehmen zu wollen und zu Umschulungsmaßnahmen zu drängen.
Wahrheit als Vertrauen
Für mich ist es demnach für jede Psychotherapeutin unerlässlich,
· die unentrinnbare Subjektivität von Diagnostik, Behandlungsplanung, Erfolgsmessung und Prognosestellung anzuerkennen,
· sich stets darüber im Klaren zu sein, dass alles eigene Denken, Sprechen und Tun dazu neigt, sich in Form von Selbsterfüllung und Tat-Sachen-Bildung zu verselbständigen und zu anderen als den beabsichtigten Folgen zu führen und deshalb
· sich immer wieder im Gespräch mit dem Patienten durch Nachfragen zu vergewissern, wie das eigene Vorgehen auf diesen wirkt.
Wie können wir aber, angesichts dieser Schwierigkeiten, das Problem der Wahrheitsfindung in den Griff bekommen? Wenn ich nicht so recht weiterkomme, mache ich gerne Folgendes: Ich schaue in das Herkunftswörterbuch des Dudens und finde heraus, was ursprünglich mit dem Wort wahr gemeint ist.
Es geht auf die indogermanische Wurzel uer- zurück und bedeutet so viel wie: vertrauenswert, Glaube, Vertrag, Treue. Es geht also gar nicht um eine irgendwie korrekte Wahrnehmung einer angenommenen objektiven oder absoluten Realität; Wahrheit bezeichnet vielmehr einen Vorgang im Rahmen einer Kommunikation, dem beide Seiten vertrauen, an den beide glauben können und auf den sie sich vertraglich einigen!
Auf meiner Internet-Seite (www.mehrgardt.de) drücke ich diesen Sachverhalt wie folgt aus:
Eine Wahrheit, sei es die einer Diagnose, einer Prognose oder des richtigen Behandlungsweges, kann immer nur eine gemeinsame Wahrheit sein. Eine „Wahrheit“, die starr ist, die von oben herab geäußert wird oder nur auf dem Status des Fachmannes (bzw. der Fachfrau) gründet, ist weniger eine Wahrheit als vielmehr Machtinstrument, Dogma, Disziplinierungsmittel. Eine gemeinsame Wahrheit erwächst hingegen aus Begegnung, Respekt und gegenseitigem Lernen. (Ja, auch der Therapeut lernt von seiner Patientin!)