Depression: gestörtes Zeitgefühl – Zeitverlust oder Stillstand
Depressionen stören das Zeitgefühl so massiv, dass Betroffene buchstäblich aus der Zeit fallen. Während die Zeit für alle anderen normal weiter läuft, fühlen sich Depressive wie erstarrt. Die Erfahrung von Zeitlichkeit (Zeitgefühl, Zeitsinn) verdinglicht sich in der Krankheit zu einer fremden Macht über das Selbst.
Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen
Die Verfremdung der Zeitwahrnehmung
Depressionen stören das Zeitgefühl: entweder vergeht Zeit langsamer oder schneller. Aber warum ist das so?
Depression, Zeit und Zeitgefühl
In der Antike hatte die Depression schon immer einen zeitlichen Charakter. Chronos war nicht nur Gott über die Zeit, sondern auch Gott der Melancholie, der Lähmung und des Stillstands.
In der Depression wandelt sich das Zeiterleben massiv. Die Zeit wird als erdrückend und übermächtig erfahren. Sie entwickelt in der Krankheit eine Schreckensherrschaft, deren Macht ich hilflos ausgeliefert bin.
Kaum zu erklären, doch zu spüren ist der Verlust an Qualität, im Sinne eines natürlichen und selbstverständlichen In-der-Zeit-Seins. Ich bin aus der Zeit gefallen – irgendwie in meiner natürlichen Position ver-rückt.
Die Zeit wird mehr und mehr zum expliziten Objekt meiner Betrachtung: Sie drängt sich in mein Bewusstsein und lenkt mein Denken in endlose Gedankenschleifen (vgl. Gedankenkarussell). Oder sie verdinglicht sich völlig zu etwas Bedrohlichen und Fremden, das mich vor sich hertreibt.
Ein leichtes und unreflektiertes In-der-Zeit-Sein ist mir in der Depression nicht mehr möglich.
Siehe auch den 1. Teil: Zeit, Zeitgefühl, Zeitsinn – Philosophie der Zeitlichkeit
Phänomenologie der Zeitstörung
Dem Thema Zeitlichkeit bei Depressionen wurde in der phänomenologischen Psychiatrie besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. auch Phänomenologie). Nicht zuletzt geht ja Tellenbachs berühmter typus melancholicus auf Remanenz zurück, einem zeitlichen Zurückbleiben hinter Verpflichtungen und Ansprüchen.
Die physiologische Desynchronisierung
Auf körperlicher Ebene spielen sich eine ganze Reihe von Prozessen ab, die bei Depressionen in ihrem zeitlichen Ablauf deutlich gestört sind. Dazu zählen motorische Verlangsamungen, Antriebsstörungen, Appetithemmung, Dysregulierung der Körpertemperatur, Störungen des weiblichen Menstruationszyklus und vieles mehr.
Das Selbsterleben verändert sich zunehmend. Der Leib ist nicht mehr als gelebter Körper zu spüren, der eine Verbindung zur Welt schafft, sondern als Hemmnis und Grenze, die mich einschnürt und gefangen hält.
Korporifizierung des Leibes
Mit anderen Worten: Die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich durch meinen Leib in der Welt bewege und sie erlebe, geht verloren.
Den Platz der natürlichen Selbstvergessenheit nimmt nun der verfremdete Körper ein. Der Körper wird schwer wie Blei, beengt mich, erschöpft mich.
Vgl. Depression: körperliche Symptome – Korporifizierung des Leibes
Störung der sozialen Zeitlichkeit
(psychosoziale Desynchronisierung)
Ich kann nicht mehr mithalten. Aufgaben bleiben unerfüllt, Pflichten vernachlässigt, Termine und Verabredungen sind nur noch unter größtem Kraftaufwand zu schaffen. Unerbittlich drängt mich die Zeit von den anderen ab. Gefühle von Vereinsamung und Ausgrenzung sind meist die Folge, ebenso wie der Drang, sich sozial immer weiter zurückzuziehen.
Kommt das innere Zeitgefüge zum Erliegen, dann kann ich auch in der Kommunikation mit anderen zeitlich nicht mithalten.
Wo sich Menschen normalerweise über Blicke, Gesten und Haltungen emotional und zeitlich synchronisieren, aufeinander ein- und abstimmen, bleibe ich motorisch und gedanklich zurück. Aus diesem Grund können Betroffene der Depression nach außen hin versteinert, apathisch oder seltsam distanziert wirken.
Dazu trägt auch der Verlust der leiblichen Zwischenmenschlichkeit bei (vgl. Hartmut Rosa: Resonanz), quasi der emotionalen Schwingungsfähigkeit. Damit ist nicht die zeitliche Dimension gemeint, sondern der intersubjektive, empathische Aspekt.
In der Depression empfinde ich mich von anderen Menschen grundlegend getrennt. Nicht nur, dass ich ihren Worten, Gesten und Körpersignalen nicht mehr folgen kann... ihre Präsenz reißt mich auch gefühlt nicht mehr mit.
Verlust der menschlichen Verbundenheit
Die Menschen berühren mich nicht mehr... nichts berührt mich mehr oder nimmt mich emotional mit, nichts spricht mich noch an (vgl. Anhedonie).
Alles, was ich irgendwie fühle, ist eine erschreckende Gefühllosigkeit, ein leerer Stumpfsinn, der ängstigt und zugleich lähmt.
Störung des zyklischen Zeiterlebens
Je weiter die Depression fortschreitet, desto massiver wird die Hemmung von Körper und Geist erlebt. Das ist keine Einbildung, sondern die Erfahrung innerhalb einer depressiven Erkrankung, die weitaus mehr Leid verursacht, als man sich vorstellen kann.
Zusammen mit dem bleischweren Körper dehnt sich die Zeit zu einer zähflüssigen, erdrückenden Masse, während sich die Welt – gänzlich unbeeindruckt von meinem Leiden – weiter dreht.
Für psychisch kranke Menschen verliert die Zeit ihre Zirkularität. Den Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt es nicht mehr.
Ich lebe nicht mehr in der Zeit, sondern außerhalb von ihr. Unfähig, den Augenblick zu nutzen, den Moment mitzugestalten, im Fluss der Zeit zu leben. Stattdessen erfahre ich zwanghaft das Bewusstsein darüber, wie die Zeit unaufhörlich schnell oder qualvoll langsam vergeht.
Schuldgefühle – Herrschaft der Vergangenheit
Menschen mit Depressionen erstarren förmlich in der Zeit und erleben einen grausamen Stillstand, als würde die ganze Lebenskraft ins Stocken geraten.
Die Zukunft kommt abhanden bzw. das Bewusstsein von Veränderung und einem Noch-nicht-sein. Stattdessen erhebt sich die Vergangenheit zu einer monumentalen Präsenz, die jedes Missgeschick, jeden Fehler, alle Versäumnisse und negativen Erinnerungen ausgräbt und als absolute Schuld in den Fokus rückt.
Die Vergangenheit steht fest, sie ist absolut definiert, weil es auch keine Zukunft mehr gibt, die den Blick auf die Vergangenheit ändern könnte.
Gleichzeitig ist ein Vergessen nicht möglich, da die Eigenzeit still steht.
Hoffnungslosigkeit – Verlust des Zukunftssinnes
Personen mit Depressionen können sich keine Zukunft mehr vorstellen. Oder anders ausgedrückt: Die einzige Zukunft, die sich vorstellen lässt, ist eine ewige Wiederkehr der trostlosen Gegenwart.
Monoton und unveränderlich, leidvoll und leblos.
Du erfährst in der Depression die Zeit in einer leeren und gleichförmigen Aneinanderreihung von Momenten, die sich bedrohlich und unaufhaltsam in die trostlose Weite spannen.
Veränderung ist in dieser Welt nicht möglich. Wenn es keine Zukunft mehr gibt, dann steht meine Welt buchstäblich still. Sie ist einförmig, leblos, bedeutungslos. Ohne Zukunftssinn gibt es aber auch keine Hoffnung und auch keine Motivation, überhaupt etwas an der gegenwärtigen Lage zu ändern.
Auf diesem Hintergrund baut die Überzeugung vieler Betroffener auf, dass nichts und niemand ihnen helfen könne. Diese Hoffnungslosigkeit ist außerdem eine Ursache, warum manche Erkrankten sich weigern, Hilfe überhaupt anzunehmen.
Anstatt ein Bewusstsein von Veränderung zu haben oder eine intuitive, präreflexive Gewissheit davon, belegt eine leidvolle Gegenwart meinen Zukunftssinn, mein vorgestelltes und vorstellbares Bild von einer Zukunft.
Zweifellos ist die pessimistische Sicht ein typisches Merkmal von Depressionen. Und gleichzeitig eine der schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann:
Sich selbst als hilflos und machtlos zu erleben, der Zeit ausgeliefert, außerhalb der Welt und entfremdet von allen Mitmenschen, ruft ungeheure Ängste hervor.
Resynchronisierung als Heilungsmöglichkeit
Ich bin in diesem Beitrag vor allem den Ausführungen von Thomas Fuchs gefolgt. Laut seiner Theorie verdinglicht sich die Zeit in der Depression zu 2 negativen Formen:
zur “irreversiblen Faktizität des Vergangenen” mit den Gefühlen von Versagen und Schuld
zur unabwendbar “determinierten Zukunft” mit den Gefühlen von Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit (vgl. gehemmte Depression).
Zeitlicher und räumlicher Freiraum von gesellschaftlichem Druck (zum Beispiel durch Krankschreibung und Therapie)
körperliche und emotionale Starre lösen (Körperübungen, Entspannungsmethoden, soziale Kontakte)
Rhythmisierung durch strukturierte Tagesabläufe (Annäherung an die zyklische Zeit)
Ausrichtung auf Ziele fördern, um den Zukunftssinn wieder zu erlangen.
körperliche und geistige Stimulierung (Bewegung, kreative Tätigkeiten etc.)
Verarbeitungsprozesse anstoßen (seelische Resynchronisierung)
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Fazit: Depression und Zeit
Depressive Menschen beschreiben häufig eine Veränderung in ihrer Zeit-Erfahrung. Ihr Leben verlangsamt sich, im Kontrast zur sozialen Zeitlichkeit wirkt das Dasein wie eingefroren. Die De-Synchronisierung findet auch innerhalb der Eigenzeit statt. In einer Depression zerfällt die Verbindung zur Zukunft, Möglichkeit und Veränderung. Die Zukunft besitzt für mich keinen Sinn mehr. Doch wo die Bedeutung fehlt, entsteht eine bedrohliche Atmosphäre der Perspektivlosigkeit.
Die Gegenwart ist nicht besser. Die gelebte Zeit steht still. Sie bietet nichts als endlose Wiederholungen. In ihrer Monotonie verliert sich mein ganzes Sein. Gleichzeitig wächst die Vergangenheit zu einem überdimensionalen Berg an Schuld heran. Manche Betroffene grübeln über verpasste Möglichkeiten und Fehler. Andere machen sich bittere Selbstvorwürfe zu vergangenen und vermeintlichen Missgeschicken sowie Problemen.
Alles wird zur Last. Und je mehr die Vergangenheit im Selbsterleben an Dominanz gewinnt, desto mehr der Zukunftssinn schwindet, desto intensiver die Beeinträchtigung in Wollen und Handeln.
Zu beachten ist die Verbindung der Zeitlichkeit mit anderen existenziellen Erfahrungen, wie Leiblichkeit, Intersubjektivität und Lebenswelt. Diese Erfahrungsdimensionen stehen sich nicht gegenüber, sondern sind konstitutiv füreinander.
Mein Zeiterleben hängt ohne Ausnahme mit meiner körperlichen Verfassung, meinen Beziehungen zu anderen Menschen und meiner Lebenswelt zusammen, beeinflusst diese aber auch. So korreliert die Störung der Eigenzeit mit einem entfremdeten Leib-Erleben und einer sozialen De-Synchronisierung.
Vgl. Depression: körperliche Symptome – Korporifizierung des Leibes
Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen
Quellen:
1) Thomas Fuchs: Randzonen der Erfahrung. Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie (Schriftenreihe der DGAP, Bd. 9)
2) Thomas Fuchs et al (Hrsg.): Das leidende Subjekt. Phänomenologie als Wissenschaft der Psyche (Schriftenreihe der DGAP, Bd. 3)