Was ist normal? – Die Doppeldeutigkeit der Normalität
Was heißt eigentlich normal? Normalität ist wichtig für uns, aber nicht so selbstverständlich, wie sie scheint. Oft vermischen sich deskriptive und normative Normalität, so dass es zu unterschiedlichen Bedeutungen kommt.
Normalität & Anormalität
Was sagen diese Begriffe eigentlich aus? Und warum haben sie so ein moralisch-gesellschaftliches Gewicht?
Normal-sein – Was heißt das?
Was normal ist und was nicht, scheint für die meisten Menschen ziemlich klar zu sein. Normal ist so normal, dass der Begriff fest in unserer Alltagssprache verankert ist.
Wir sprechen von Otto-Normal-Verbrauchern, normalen Umständen und normal sein – überall benutzen wir das Wort als Selbstverständlichkeit. Insbesondere dann, wenn es um menschliches Verhalten und psychische Gesundheit geht.
Doch in all diesen Beispielen hat das Attribut „normal“ eine unterschiedliche Bedeutung. Und diese verändern sich auch wieder, je nach Kontext, Subjekt und Objekt.
Was ist normal in der Gesellschaft?
Normalität wird immer in Abhängigkeit von Gesellschaft, Kultur und Generation definiert.
Was für die Urgroßeltern als normal galt, würde heute merkwürdig wirken. Was in Japan eine höfliche Geste darstellt (Bsp. Rülpsen nach dem Essen), ist in Deutschland ein Fauxpas.
Eins ist aber Fakt: Das Gegensatzpaar normal und anormal ist in unserer Gesellschaft ein wertendes Attribut, genauso wie gut und schlecht oder richtig und falsch.
Das Paradoxe am Normalen ist, das es an sich selbst nicht wahr oder falsch ist, trotzdem aber als Messwert dienen soll. Und angesichts ihrer Wandelbarkeit scheinen Normalitäten auch kein absolutes, sondern ein relatives Maß zu sein.
Was bedeutet normal?
Die meisten Menschen verstehen unter normal, das etwas einer sozialen Norm entspricht, die von der Gesellschaft als gültig angesehen wird, weil es üblich ist oder der Mehrheit entspricht.
Soziale Normen haben u. a. die Funktion, um die Werte einer Gemeinschaft als Handlungsregeln festzulegen.
Sie dienen der Gruppe und ihren einzelnen Mitgliedern als Schutz, Orientierung und Sicherheit im Zusammenleben.
So zumindest die naturwissenschaftliche Sichtweise.
Interessant ist übrigens ein „Besonderer Hinweis“ auf duden.de:
„In der veraltenden, wertenden Bedeutung sollte das Wort normal im öffentlichen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werden. Das gilt besonders dann, wenn es als Gegensatzwort zu (geistig) behindert oder im Sinne von heterosexuell gemeint ist.“ (4)
Gerade die letzte Passage spricht da ein wichtiges Stück Lebenswirklichkeit an. Trotzdem ist Normalität ein Wertbegriff für einen empfundenen Zustand, den wir besonders gerne haben.
Das Normale & das Natürliche – Begriffsgeschichte
Ein ganz anderer Blick auf das Normale eröffnet sich, wenn wir uns die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes ansehen.
Das Wort normal kommt aus dem Altgriechischen und wurde in der antiken Medizin in Verbindung zur Natur gedacht: das Normale war das Naturgemäße.
Natur wurde aber damals (wie auch heute) doppeldeutig verstanden. Natur meint:
Die durchschnittliche, natürliche Beschaffenheit (deskriptive Normalität)
Der gesunde Idealzustand des Körpers (normative Normalität)
Auch im Lateinischen „normalis“, zu Deutsch „nach dem Winkelmaß, nach Regel gemacht“, das vor allem in der Handwerkskunst gebräuchlich war, besteht diese enge Verbindung zum Natürlichen fort.
Zusammenhang von Normen & Normalität
Eine Norm ist ein Standard, der festlegt, welches Verhalten, welche Werte oder welche Eigenschaften innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft akzeptabel oder wünschenswert sind.
Der Begriff “Normalität” bezieht sich auf den Zustand oder das Verhalten, das mit den festgelegten Normen übereinstimmt. Sie ist das Produkt von Normen. Sie drückt aus, was als gewöhnlich oder üblich angesehen wird. Normalität ist also das Ergebnis des Vergleichs von individuellen oder kollektiven Verhaltensweisen mit den bestehenden Normen.
Normal war das Unregelmäßige im Regelmäßigen
Und es gibt noch einen weiteren entscheidenden Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch: Natur implizierte im antiken Weltbild immer auch Unregelmäßigkeiten. Anomalien waren typischer Bestandteil der Normalität. Ausnahmen gehörten zur Regel.
Die Maßeinheit der Medizin für das Normale waren die natürlichen Selbstheilungskräfte (vis medicatrix naturae): normal und anormal waren nicht statisch, sondern dynamisch und funktional verbunden.
„Nicht wir – die Naturkräfte sind die Ärzte“, heißt es daher in den Hippokratischen Schriften. Auch die strikte Trennung von körperlicher und psychischer Gesundheit gab es in der antiken Medizin nicht.
Was heißt normal heute?
Heute ist das anders. Gerade die normative Bedeutung ist im modernen Verständnis vorherrschend.
So wird in der Psychologie Normalität als erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten definiert, das im Gegensatz zum unerwünschten, störenden Verhalten steht.
In der Soziologie steht normal für Selbstverständliches innerhalb der Gemeinschaft, was soziale Regeln und Verhalten betrifft.
Um Abweichungen von der Normalität überhaupt definieren zu können, muss eine Norm (Richtschnur) gesetzt werden. Das hat aber nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun, sondern mit aktiver Gestaltung und Konstruktion.
“Normalität ist ein schönes Ideal für diejenigen, die keine Fantasie haben.” – Carl Gustav Jung
Die 4 Definitionsmethoden des Anormalen
Viele Wissenschaften versuchen der Definition von Normalität auf die Spur zu kommen, indem sie das Pferd von hinten aufzäumen.
Es wird also zunächst versucht das Anormale zu definieren, um daraus einen Normalitätsbegriff zu entwickeln. Normalität ist also nur indirekt fassbar:
Statistische Ebene:
mathematischer Ansatz, wonach das Häufigste normal ist, die kleinere Zahl für Anormales steht.
Problem: Je mehr Variablen, desto ineffektiver wird die Methode und die statistische Häufigkeit lässt sich in Frage stellen.
Biologische Ebene:
naturalistischer Ansatz nach funktionalen Kriterien.
Problem: Unser Wissen über Naturgesetze und biologische Prozesse ist unvollständig. Sind neue Entdeckungen dann Abweichungen oder Normalitäten, die bisher unbekannt waren?
Soziale Ebene:
soziologischer Ansatz, mit Fokus auf gesellschaftlicher Akzeptanz.
Problem: Die zeitliche Variabilität von Gesellschaftsnormen. Ab welchem Zeitpunkt genau wird etwas anormal? Was ist mit Übergangsphasen und Paradigmenwechsel mit Mischformen?
Subjektive Ebene:
psychologischer Ansatz. Normal ist das, was sich für eine Person in sich stimmig anfühlt.
Problem: Subjektivität und Selbsttäuschung
Inklusion & Exklusion – Normalität & Macht
Doch wer bestimmt eigentlich, was normal ist und was nicht?
Über die Entstehung von sozialen Normen und Normalität haben sich schon viele große Geister den Kopf zerbrochen, darunter Philosophen wie Thomas Hobbes oder Soziologen wie Niklas Luhmann.
Auch der Poststrukturalist Michel Foucault (1926-1984) befasste sich eingehend mit dem Normalitätsbegriff und den implizierten Ausschlusskriterien.
Er fragte sich, wer genau innerhalb einer Gesellschaft über den Sozialisationsprozess des Normalismus entscheidet.
Macht ist für Foucault der entscheidende Faktor für das Menschenbild & die Alltagswirklichkeit
Nicht nur für jeden Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft, sondern auch für das gesamte Sozialgefüge.
Die Machthabenden bestimmen letztlich, wer zur Abweichung gehört und wo ausgeschlossen wird, wer für Anormalitäten zuständig ist, wohin Gelder fließen u.s.w. Das hat weitreichende Folgen für die Lebensführung und Möglichkeiten ganzer Gruppen.
Das Dilemma der Normalität ist oft gleichzeitig ein Dilemma der Sichtbarkeit – das, was nicht sichtbar oder nicht Teil des Diskurses ist, wird als abnormal klassifiziert. Das hat direkten Einfluss auf unsere gesellschaftlichen Normen, die dynamisch und kontextabhängig sind.
Erich Fromm über Normalitäten
Vor diesem Hintergrund erklären sich auch kritische Aussagen, wie die des Psychoanalytikers Erich Fromm (1900–1980):
„Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten. Das ist nicht bloß eine witzige Formel.
Der Mensch, der krank ist, zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie nicht in Konflikt kommen können mit den Mustern der gestörten Kultur, sondern dass sie in dieser Kultur Krankheitssymptome erzeugen.
Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfände, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage.
Aber sehr viele Menschen, das heißt: die Normalen, sind so angepasst, die haben so sehr alles, was ihr eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, sind so zum Instrument, sind so roboterhaft geworden, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden." (5)
Ausblick: Was ist normal?
Manche Philosophen, Soziologen und Psychologen vermuten, dass unsere statisch-normatives Verständnis von Normalität damit zu tun hat, dass wir uns weit von der ursprünglichen Natur entfernt haben.
Wir leben nicht mehr in der Natur und wir empfinden uns (im Gegensatz zum antiken Weltbild) als getrennt von ihr.
Vielleicht hilft es, wenn wir uns die ursprüngliche Bedeutung von Normalität wieder bewusst machen: normal ist das, was in der Natur vorkommt – Regelmäßiges und Unregelmäßiges sowie Gewohntes und Ungewohntes.
Und womöglich hilft eine neue, achtsame Perspektive auf ein Leben mit der Natur, innerhalb ihrer Grenzen und Freiräume, die Vieldeutigkeit in der Normalität wieder zu entdecken. Ganz nach dem Zitat von Richard von Weizsäcker:
„Es ist normal, verschieden zu sein.
Es gibt keine Norm für das Menschsein.“
Zudem ist Normalität nicht nur ein Maßstab für soziale Akzeptanz, sondern auch ein Spiegel unserer Werte, die wir ständig überprüfen und kritisch reflektieren sollten. Nur so können wir einen Raum schaffen, in dem das, was anders ist, als Teil der menschlichen Erfahrung anerkannt wird.
Quellen:
1) Spektrum Online Lexikon der Psychologie: Normalität
2) Historisches Wörterbuch der Philosophie (u:wiki)
3) Das Philosophie-Buch: Große Ideen und ihre Denker: Großen Ideen und ihre Denker (Big Ideas)
4) DUDEN Wörterbuch: normal
5) Die Zeit: Die Kranken sind die Gesündesten – Interview von Micaela Lämmle und Jürgen Lodemann mit Erich Fromm