Macht der Narrative (Storytelling) – Wie egoistisch sind wir?

Gibt es das Gute im Menschen? In vielen Erzählungen finden sich Beispiele für die egoistische Natur des Menschen. Die meisten Leute glauben, dass andere Menschen von Natur aus selbstsüchtig sind. Doch warum eigentlich? Wenn wir die Menschheitsgeschichte betrachten, dann finden sich einige Belege für Solidarität, Zusammenhalt und Mut. Geschichten, die uns Beispiele dafür geben, wie Menschen in schlimmsten Krisenzeiten zusammenhalten und sich unterstützen.

Das Gute im Menschen

Die Mär vom egoistischen Menschen ist uns tief eingepflanzt

Doch die Geschichte kann uns in einem besseren Licht zeigen, wenn wir sie mit offenem Blick lesen

 

Weder gut noch schlecht 

Kriege, Armut, Klimakrise – Wer die Nachrichten verfolgt, bekommt einen ungeheuren Eindruck von dem, wie egoistisch und schrecklich Menschen sein können. Noch entsetzlicher ist, dass sich gerade in schweren und schwierigen Zeiten jeder und jede von seiner schlechtesten Seite zeigen soll. 

Das ist keine Behauptung, sondern laut Umfragen tatsächlich die Vorstellung vieler Menschen: In Extremsituationen bricht sich die egoistische Natur des Menschen Bahn und treibt ihn bis zum Äußersten, wenn es um das eigene Überleben oder Wohl geht. Und hat nicht schon Hobbes gesagt, “Homo homini lupus” (Der Mensch ist des Menschen Wolf)? 

Dieses Klischee wird von heutigen Wissenschaften angezweifelt. So konnte die Krisenforschung zeigen, dass sich in Notlagen Solidarität und Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft verbreiten. Selbstsüchtiges Verhalten ist dagegen selten. 

 

Was sind Narrative?

Der Begriff "narrativ" lässt sich schlicht als "erzählend" übersetzen. Hierbei geht es nicht um die eigentliche Geschichte, sondern vielmehr um die Art und Weise der Darstellung. Die Form der Erzählung spielt eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht, wie der Inhalt wahrgenommen und von der Zuhörerschaft aufgenommen wird. Zudem kann die Erzählweise auch eine Wirkung entfalten.

 

Studien: Das Gute im Menschen zeigt sich in der Not

Die Universität Delaware sammelte über viele Jahre Informationen zu diesem Thema und besitzt heute die weltweit größte Datenbank zum menschlichen Verhalten in Krisensituationen, Naturkatastrophen & Co.

In einer umfassenden Forschungsarbeit widerlegen die dortigen Wissenschaftler, dass in Krisen ein egoistisches Verhalten die Regel sei (5). Vielmehr bildet es die Ausnahme. 

In den meisten Katastrophenfällen kam es zu einer Welle menschlicher Solidarität, die beeindruckt. In der Mehrzahl waren die Menschen hilfsbereit und uneigennützig. 

Auch innerhalb der Evolutionswissenschaft hat in dieser Hinsicht längst ein Umdenken stattgefunden. Lange Zeit galt das Prinzip "Survival of the Fittest", obwohl nicht einmal Darwin selbst seine Theorie so verstanden haben wollte.

Heute geht man davon aus, dass soziale Intelligenz der Menschheit das Überleben sicherte.

Anders formuliert: In der Frühzeit waren diejenigen am erfolgreichsten, die in der Lage waren, Unterstützung beim Jagen, Sammeln und Notlagen zu organisieren. Wer angesehen war und seine soziale Seite zeigte, setzte auch am meisten Nachkommen in die Welt, so die Theorie. Asoziale Individuen drohten hingegen von der schützenden Gemeinschaft ausgestoßen zu werden.

 

Die Macht der Narrative (Storytelling)

Narrative stellen Erzählungen dar, die uns Einblicke in Menschen, Gesellschaften und Systeme gewähren. Sie fungieren als wichtiger Beitrag bei der Sinnfindung innerhalb von Gemeinschaften. Durch das Erzählen von Geschichten manifestieren wir unser Dasein, bewahren Erinnerungen, kommunizieren miteinander und gestalten unser Leben.

Obwohl ein Narrativ zur Förderung von Veränderungen genutzt werden kann, ist es ebenso imstande, bestehende repressive und ungleiche Systeme zu zementieren.

 

Die herrschenden Narrative bestimmen und fördern, wer Macht ausüben kann und wie

Durch stetige Wiederholung dieser Erzählungen schaffen sie eine Basis für Systeme, die nicht nur Rechte, Privilegien, wirtschaftliche Ressourcen und Chancen beeinflussen, sondern auch politische Maßnahmen.

Wir hören die Narrative aber nicht nur, sondern wir kreieren sie auch selbst und verbreiten sie weiter (zum Beispiel über Social Media). Besonders wenn es darum geht, Machtgefüge zu verändern und eine Veränderung im System zu bewirken, sind Narrative von höchster Relevanz.

 

Geschichten sind menschlich

Das Erzählen von Geschichten ist ein tief verwurzelter Bestandteil der menschlichen Natur. Im Gegensatz zu der analytischen und wissenschaftlichen Perspektive, die sich auf klare und abgegrenzte Fakten stützt, geht es beim narrativen Denken um einen größeren Kontext – um den Zusammenhang, die Bedeutung und den Sinn.

Beide Denkweisen bieten jedoch einen einzigartigen Zugang zur Welt und ermöglichen es, diese auf unterschiedliche Weise zu verstehen. Vgl. Moderne Mythen – Über die Funktion von Mythen früher & heute

In unserer Kultur spielt das analytisch-wissenschaftliche Denken eine herausragende Rolle, da es uns ermöglicht, Dinge berechenbar zu machen und sie in den Griff zu bekommen. Diese Vorliebe geht so weit, dass ausschließlich wissenschaftlich belegbare Erkenntnisse als wahrhaftig betrachtet werden. (vgl. Entmenschlichte Menschenbilder – die Grenzen der Naturwissenschaft)

Dieser Ansatz hat uns zweifellos weit gebracht. Gleichzeitig begegnen uns jedoch auch komplexe und vielschichtige Aspekte des Lebens – wie zum Beispiel Liebe – die wir als unbestreitbar wahr empfinden, obwohl sie hochgradig subjektiv und nicht präzise messbar sind.

 

Narrative schaffen Sinn

Bewusst oder unbewusst nutzen wir täglich Geschichten, um unsere Wahrnehmungen zu ordnen.

  • Indem wir Einzelereignisse oder Fakten in einen Zusammenhang stellen, geben wir ihnen Bedeutung und interpretieren Geschehnisse, Situationen und Ereignisse durch Geschichten. Vgl. auch: Was ist Verstehen?

  • Unser Gedächtnis wird durch Geschichten unterstützt. Vgl. auch Biografische Selbstreflexion

  • Fakten spielen in der Alltagskommunikation eine untergeordnete Rolle, da Geschichten das bevorzugte Mittel zur Übermittlung von Informationen sind.

 

Bekannte Egoismus-Mythen und ihre wahre Geschichte

Wir alle kennen Geschichten, die von der bösen Natur des Menschen erzählen. Bei genauerer Nachforschung stellt sich jedoch heraus, dass bekannteste Beispiele eigentlich gar kein Beweis sind – wenn man denn die ganze Geschichte kennt. 


Das Milgram Experiment

Gerne wird der Versuch von Stanley Milgram aus den 1960ern herangezogen, um ein Beispiel für den Egoismus und die Grausamkeit des Menschen zu nennen. 

Die Teilnehmer des Experiments mussten auf Anweisung einer Autoritätsperson andere mit Elektroschocks bestrafen, wenn diese nicht die gewünschten Lerneffekte zeigten.

Was viele nicht wissen: Milgram selbst schrieb darüber als "effektives Theater":

  1. Erstens wussten nämlich alle Teilnehmer, dass es sich um ein Experiment handelte.

  2. Zweitens ahnten einige Probanden, dass die Stromschläge nicht echt waren.

Tatsächlich gab ca. die Hälfte von ihnen im Nachhinein an, dass sie die Szene nicht für real hielten oder als unglaubwürdig einschätzten (1). Zudem gilt die Studienmethode von Milgram nach heutigen Standards weder als wissenschaftlich korrekt noch als repräsentativ.


Das Stanford-Prison-Experiment

Das berühmte Stanford-Prison-Experiment wurde 1971 durchgeführt. Dafür wurden Wärter und Gefangene per Los bestimmt und in ein Gefängnis gepackt. Das Resultat: die Wärter hätten ihre Macht über die Gefangenen sadistisch ausgelebt.

Besondere Bekanntheit erreichte diese Studie durch Verfilmungen, in denen vor allem die Wärter offenen Sadismus an den Tag legen. So wie im Film verlief das Experiment aber gar nicht: nur ⅓ der Wärter zeigte entsprechendes Verhalten, alle anderen achteten die Würde der Gefangenen.

Auch in diesem Fall wissen viele leider nicht, dass diese Studie aufgrund mehrerer Mängel nicht wissenschaftlichen Qualitäten standhielt. Hinterher gaben verschiedene Versuchsteilnehmer an, sie hätten ihr Verhalten gespielt, weil sie dazu vom Versuchsleiter aufgefordert wurden oder bestrebt waren, die Erwartungen der Forscher zu erfüllen. Viele von ihnen bezeichneten die Studie als „zielgerichtetes Impro-Theater“ (4).

2001 wurde das Experiment wiederholt. Dabei kam es zu keiner Eskalation. Stattdessen entstand ein Solidaritätsgefühl zwischen Wärtern und Gefangenen – der Unterschied zum Erstversuch: Den Wärtern wurden keine Anweisungen gegeben. Sie wurden überhaupt nicht von außen beeinflusst (3). 


Der Herr der Fliegen (die wahre Geschichte)

Der von 1954 stammende Roman "Herr der Fliegen“ von W. Golding ist ebenfalls ein bekanntes Beispiel für den Egoismus des Menschen und seine antisoziale Natur. 

Im fiktionalen Roman zeichnet Golding die soziale Entwicklung einer Gruppe von 6- bis 12-Jährigen, die schlagartig von Kultur und Zivilisation abgeschnitten sind, indem sie auf einer einsamen Insel stranden. Nach und nach verliert sich das sozial Erlernte und die Kinder werden immer gewalttätiger.

Der Historiker Rutger Bregman (3) hat lange recherchiert, um zu ergründen, ob jemals eine ähnliche Geschichte tatsächlich vorgefallen ist. Einen Beleg dafür fand er nicht.

Dafür eine andere wahre Geschichte: 6 Schüler erlitten in den 1960ern im Tonga-Archipel Schiffbruch und strandeten auf einer kleinen Insel. Erst nach 15 Monaten wurden sie entdeckt und gerettet. 

Was war passiert? Jedenfalls nichts von dem, was im Herrn der Fliegen oder ähnlichen Geschichten beschrieben wird. Stattdessen hatten sich die Jungs auf der Insel gut eingerichtet – mitsamt Gemüsegarten, improvisierten Musikinstrumenten, Sportplatz und Gemeinschaftsregeln. 


 

Warum hält sich der Mythos vom egoistischen Menschen so hartnäckig?

1) Neoliberalismus

Der Neoliberalismus basiert auf dem Konstrukt, dass das Handeln der meisten Menschen von reinem Eigeninteresse geprägt ist. Auf dieses Menschenbild wurden und werden schon seit Jahren Universitäten, Lehrpläne, Märkte und Jobs ausgerichtet. Diese wiederholte Erzählung hat Folgen auf unsere Wahrnehmung, Fühlen und Verhalten.

2) Medien / News

Außerdem interessieren sich Menschen viel mehr für schlechte Geschichten als für gute. Klar, ein Film oder ein Buch über eine Gemeinschaft, in der man einander unterstützt und alles harmonisch abläuft, wird keine Rekorde knacken. Da ist es natürlich viel spannender und kurzweiliger, wenn Intrigen und Krisen im Spiel sind. 

Das Gleiche gilt für die Nachrichten. Wir lesen zwar unzählige Schlagzeilen über schreckliche Dinge, die in der Welt geschehen – doch über die Abermilliarden von Menschen, die einen völlig normalen und guten Alltag verbringen, lesen wir nichts.

3) Negativitäts-Verzerrung

Zudem ist unsere menschliche Neigung zur Negativität-Verzerrung ist tief in unserer evolutionären Entwicklung verankert (3). Negative Gefühle, Eindrücke etc. beeinflussen unsere Psyche stärker als Positives. Dieser Automatismus dient dem Selbstschutz: lieber vorsichtig sein, als zu nachlässig. (vgl. kognitive Verzerrungen)

 

Möglicher Ausweg

Eine neue Erzählung über den Menschen

Verschiedene Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Denn je fester wir davon überzeugt sind, dass andere Menschen egoistisch handeln, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir uns tatsächlich so selbstsüchtig verhalten. 

Bregman ist davon überzeugt, dass die Zeit für eine neue Erzählung gekommen ist. Eine Erzählung, welche die Menschheit nicht als selbstsüchtiges Monster darstellt, sondern ihre altruistische Seite betont.

Dazu will ich anmerken: Sicherlich ist eine einseitige Sicht auf uns und unsere Geschichte nicht richtig. Wir triefen weder vor Selbstsucht noch vor Egoismus. Und so finden sich in der Menschheitsgeschichte zahlreiche Belege für beides.

 

Fazit: Mensch & Narrative

Wer bestimmt, welche Erzählung vom Menschen wir glauben? Zum größten Teil wir alle zusammen (öffentliche Wahrnehmung) – doch stark beeinflusst von der medialen Berichterstattung.

Das Verhalten von Menschen in Krisensituationen spiegelt den Zustand der Gesellschaft wider. Wenn das Gemeinwesen als stabil und gerecht wahrgenommen wird, ist der Zusammenhalt in Notzeiten größer. Wenn jedoch der Eindruck vorherrscht, dass die Gesellschaft ohnehin ungerecht ist, nimmt die Solidarität in Krisenzeiten ab.


Quellen:

1) Wikipedia: Milgram-Experiment
2) Harald Willenbrock - Unser wahres Ich
3) Rutger Bregman: The real Lord of the Flies. In: The Guardian. vom 9. Mai 2020
4) Sebastian Herrmann: Das wichtigste Gefängnis-Experiment steht unter Betrugsverdacht
5) Ulrich Schnabel: Bewältigung von Krisen – Wenn es darauf ankommt
6) Bundeszentrale für politische Bildung

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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