Philosophie und Psychologie – Was ist psychische Krankheit?

Wie verhalten sich Philosophie und Psychologie zueinander? Manche Experten sind der Ansicht, zwischen Philosophie und Psychologie hätte sich ein Konkurrenzverhältnis entwickelt: denn trotz gemeinsamer Geschichte unterscheiden sie sich wesentlich in Ausgangslage, Methodik und Interpretation von Welt und Mensch.

Philosophie und Psychologie: Verhältnis

Psyche in der Philosophie

Mensch und Seelenleben sind ein genuines Thema der Philosophie.

Leider scheinen das Psychologen und Psychotherapeuten vergessen zu haben. Oder sie brauchen dringend Nachhilfe, was die Konzeption und Grundlagen ihrer Disziplin betreffen.

Vgl. auch: Was ist Philosophie? sowie Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik

Gemeinsame Geschichte von Philosophie und Psychologie

Bis ins 19. Jahrhundert hinein gab es keine Trennung von Philosophie und Psychologie. Aus gutem Grunde. In der Antike beschrieb Sokrates die Philosophie als Seelenfürsorge. Platon erklärt in "Der Staat”, wie Philosophie den Weg zur psychischen Gesundheit beschreitet. Und von Epikur ist überliefert: „Wer jung ist, soll nicht zögern, zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen ist es zu spät, sich um seine seelische Gesundheit zu kümmern.“ Auch sehr viel später, nämlich im 17. Jahrhundert, schrieb der Arzt J. C. Bolten darüber, dass eine psychologische Therapie den Philosophen überlassen werden sollte.

Philosophie und Psychologie als Seelenkunde

Wie nahe die Philosophie der “Seelenkunde” steht, betonten auch viele berühmte Psychologen.

Zum Beispiel Carl Gustav Jung, der berühmte Schüler Freuds, der die philosophische Kompetenz von Psychotherapeuten betonte und glaubte, dass Mediziner ohne philosophische Kenntnisse keine Psychotherapie durchführen können: 

„I can hardly draw a veil over the fact that we psychotherapists ought really to be philosophers or philosophic doctors or rather that we already are so“ (Jung, 1954)

Die Philosophie hat psychologische Konzepte schon immer beeinflusst und tut es weiterhin. Die Liste lässt sich endlos erweitern: Alfred Adler war ein Fan von Nietzsche und Kant, Viktor Frankl berief sich auf Kierkegaard und Jaspers, Jacques Lacan orientierte sich an Platon und Heidegger … und so weiter und so fort. Damals galt die Psychologie als Bestandteil der philosophischen Reflexionen.

 

Philosophie und Psychologie trennen sich

Die Trennung von Philosophie und Psychologie erfolgte erst in den 1850er und 1860er Jahren. In jener Zeit musste sich die Psychologie nämlich etablieren, um nicht von den aufstrebenden Naturwissenschaften ins Abseits gedrängt zu werden. Von da an orientierte sich die ursprüngliche Geisteswissenschaft an naturwissenschaftlichen Idealen – mit dem Ziel, psychische Phänomene objektiv zu erfassen.

 
Trennung von Philosophie und Psychologie

Psychophysik statt philosophische Psychologie

Als Begründer der akademischen Psychologie kann der Philosoph & Psychologe Wilhelm Wundt (1832–1920) gelten. Wundts sinnesphysiologische Untersuchungen wurden von Zeitgenossen als bahnbrechende, wissenschaftliche Leistung angesehen.

Die Psychophysik kam auf und mit ihr das Experiment als Methode.

Das erforderte jedoch eine Distanzierung zum Denken der meisten Philosophen, welche die Seele als komplexes Gebilde mit Steuerungskraft verstanden, das auf ungeklärte Weise die verschiedensten Fähigkeiten des Menschen verbindet.

Gleichzeitig blieb genau das ausgeklammert, was die akademische Psychologie seit ihren Anfängen so gerne messen wollte: die menschliche Seele.

 

Der Behaviorismus in der Psychologie

An der naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Psychologie änderte sich auch nichts, als die Verhaltenswissenschaften Einzug hielten. Viel schlimmer sogar, der Behaviorismus sah sich als reine Naturwissenschaft, die menschliches Verhalten vorhersagen könnte.

Die Verhaltensforschung betont die Bedeutung von Umweltreizen und Reaktionen, die auf diese Reize folgen. Lernen wird dabei als Veränderung des Verhaltens durch klassische Konditionierung, operante Konditionierung oder behaviorale Modellierung betrachtet.

Ein Ausläufer davon findet sich heute zum Beispiel in der modernen Verhaltenstherapie.

 

Philosophische Kritik:

Reduktionismus und Szientismus in der Psychologie

Gegen solche reduktionistischen Ideen in der akademischen Psychologie protestierten bekannte Philosophen wie Wilhelm Dilthey oder Edmund Husserl.

Während von Dilthey der Satz überliefert ist: "Die Natur können wir erklären, die Seele wollen wir verstehen", holte Husserl zu einem regelrechten Rundumschlag aus. Er kritisierte den “Psychologismus” seiner Zeit, die Absichten zeigte, auch Ethik und Logik empirisch umzudeuten.

 

Humanistische Psychologie im 20. Jh.

Die Philosophie blieb trotzdem lange Zeit ein Randphänomen. Sowohl innerhalb der Medizin als auch anderen Wissenschaften. Allerdings änderte sich das kurzfristig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg also. In jener Zeit kam die Bewegung der humanistischen Psychologie in den USA auf und verbreitete sich von dort aus in Europa.

Die humanistische Psychologie hatte ein besonderes Hauptanliegen. Sie kritisierte das sogenannte kartesianische Weltbild und die moderne Gesellschaftsstruktur, die sie als krankmachend verstand.

Die humanistische Bewegung wollte eine Alternative zu den Zwängen und Einschränkungen der Gesellschaft bieten: In Form von menschlicher Begegnung, die wiederum dem Einzelnen Sinnfindung, Selbstverwirklichung und Ganzheit ermöglicht.

Neben den soziologischen und kulturellen Missständen der Zeit ging die Kritik aber auch an das Selbstverständnis der Wissenschaft: Aus philosophischer Sicht ist sie zu positivistisch (=sinnlich wahrnehmbar oder überprüfbar) geraten. Auch lehnte die naturwissenschaftlich geeichte Psychologie von vornherein sämtliche experimentellen Methoden ab, zu denen die humanistischen Ansätze gehören.

Ein wirklicher Paradigmenwechsel hat sich also weder in der Gesellschaft noch im Wissenschaftsverständnis niedergeschlagen.

 

Diskurse über humanistische Methoden nicht öffentlich

Humanistische und philosophische Ansätze innerhalb der Psychologie bzw. Psychotherapie werden – wenn überhaupt – nur in wissenschaftlichen Diskursen thematisiert und ausgearbeitet.

Fernab von den Menschen, die es eigentlich betrifft – den Patienten selbst.

 

Richtlinien Psychotherapie heute

Ergebnis: philosophisch-humanistische Methoden werden von den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland abgelehnt. In der psychotherapeutischen Versorgung sind lediglich 3 unterschiedliche Verfahren anerkannt:

  • Die Tiefenpsychologie nach Freud,

  • die Verhaltenstherapie nach Beck

  • und seit neuestem immerhin die systemische Therapie.

Eigentlich echt merkwürdig. Denn es ist nicht so, als hätte die humanistische Bewegung überhaupt keine Wirkung erzielt. Viele Elemente und Methoden der philosophischen Ansätze flossen in moderne psychotherapeutische Konzepte mit ein. Ein Beispiel ist die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) nach Hayes.

 

Das Menschenbild ist ausschlaggebend

Ist das jetzt ein Problem, wenn doch ein paar Ideen der humanistischen Ansätze übernommen und in anerkannte Konzepte integriert wurden? Ja, es bleibt ein Problem.

Denn: Humanistische Therapieverfahren charakterisieren sich nicht in einem alternativen Behandlungsansatz, sondern durch ein alternatives Menschenbild.

 

Philosophie als Korrektiv der Psychologie

Das philosophische Menschenbild

Die Philosophie soll hier keinen Gegenentwurf zu den Naturwissenschaften darstellen, sondern eine sinnvolle Korrektur und Ergänzung.

Schließlich kann eine biologistische Psychologie vieles nicht erklären, das im Menschen vorgeht. 

Sie kann lediglich von einer äußeren Perspektive beschreiben. Genauso verhält es sich mit den Hauptströmungen der Psychologie: sie beschreiben psychische Zustände von einer äußeren Warte aus (3.-Person-Perspektive), die vieles ausklammert, das gerade wesentlich für menschliche Phänomene ist.

Okay, das ist auch der Sinn von empirischen Wissenschaften, die sich auf messbare Faktoren und Daten stützen. Sie sollen beschreiben, Wissen ordnen und kategorisieren. So kann die Biologie zwar erklären, wie lebende Organismen aufgebaut sind, doch über das Leben an sich kann sie nichts aussagen.

Die behavioristische und kognitionswissenschaftliche Psychologie kann wiederum Verhaltensmuster und typologische Denkfiguren erhellen, doch über das eigentliche psychische Erleben selbst ist damit wenig gesagt. 

Stattdessen bleiben fundamentale Fragen offen.

 

Psychische Krankheiten in der Philosophie

Die Philosophie sieht psychische Krankheit nicht als einen Schicksalsschlag an, der einen Menschen plötzlich von außen trifft. Psychische Krankheiten sind auch kein selbstverschuldeter Fehler, keine individuelle Panne oder einfach nur Pech.

Sie sind oft Ausdruck von Grundlagen, die eng mit der menschlichen Existenzform einhergehen. Die praktisch jeder Mensch durchleben kann, wenn nur genügend Faktoren zusammenkommen. 

Psychisch krank zu sein, das ist eine spezifische Daseinsform des Mensch-seins, die schon immer in seinem Wesen angelegt ist (mehr dazu: menschliche Vulnerabilität oder Vulnerabilitäts-Stress-Modell)

Ein Risiko quasi, das grundsätzlich bei jedem Menschen vorhanden ist, weil es mit seiner (anthropologischen) Natur einhergeht.

 

Die Vielfalt der Seinsweisen

Eine strikte Unterscheidung in kranke und gesunde Menschen, wie sie heute noch stattfindet, ist nicht nur kurzsichtig und ethisch fraglich, sondern auch völlig überflüssig.

Mit der Philosophie lassen sich psychische Erkrankungen wie „Abwandlungsformen“ des In-der-Welt-seins verstehen: Geisteskrankheiten sind dann Möglichkeiten unserer Existenz unter ganz bestimmten Bedingungen. 

 

Begriffe Gesundheit und Krankheit

Wie Wolfgang Blankenburg bemerkte, ist die Charakterisierung von Krankheit über Negation, immer einer bestimmten Perspektive geschuldet: nämlich der des “gesunden” Menschen und seiner Auffassung von Gesundheit, Normalität oder Wirklichkeit. So kommt es, dass die meisten Menschen Krankheit als ein Defizit auffassen. Das Kranke hat weniger Wert als das Gesunde.

Psychische Krankheiten sind allerdings ein Phänomen, das über die Geschichte hinweg immer wieder auftrat und damit keine Ausnahmeerscheinung. (vgl. Geschichte der Depression)

Die Phänomenologie zum Beispiel setz daher auf eine dialektische Bestimmung von Krankheit. Vgl. auch Phänomenologie (Philosophie): Definition

 

Psychisch krank sein bedeutet dann schlicht und ergreifend: anders sein als psychisch gesund

Gesundheit und Krankheit lassen sich nicht ohne einander denken und definieren. Dieses Anders-sein in der Krankheit, diese Fremdheit, die jede psychische Krankheit ausstrahlt und ausdrückt, ist in allen Menschen angelegt.

 
Philosophie über Gesundheit und Krankheit

Was ist an dieser Einsicht so besonders?

Die Ausgangslage ändert sich und damit die Wahrnehmung. Das humanistische Menschenbild teilt die Menschheit nicht qualitativ in Klassen von Gut oder Schlecht.

Es ermöglicht vielmehr eine Vielfalt von Daseins-Entwürfen, die alle ihre Berechtigung haben. 

 

Welche Bedeutung hat das, was ist, für den betroffenen Menschen?

Jaspers unterscheidet zwischen 2 Ebenen der Kommunikation:

Daseinskommunikation: „Kommunikation, d. i. das Leben mit den Anderen, wie es im Dasein auf mannigfache Weise vollzogen wird” – das, was wir also im Alltag ständig tun, wenn wir mit anderen Menschen reden.

Existentielle Kommunikation entsteht, wenn sich 2 Selbste über ihre eigene Existenz, ihre Möglichkeiten, Wahrheit, Situation etc. miteinander auf Augenhöhe / ebenbürtig austauschen und sich dadurch verbinden.

Diese Formulierungen klingen jetzt pathetisch. Im Klartext meint existenzielle Kommunikation aber nichts anderes, als

  • sich auf ein tiefgründig ehrliches, offenes und intimes Gespräch einzulassen

  • anfragend, nicht abfragend bzw. urteilend

  • mit Respekt vor den persönlichen Werten und der Würde des anderen

  • Und sich dabei ebenso verletzlich und menschlich zu zeigen wie der andere

 
Existenzielle Kommunikation in der Psychotherapie

Existenzielle Kommunikation in der Psychotherapie

Existenzielle Kommunikation ist in einer Therapie leider nicht selbstverständlich.

Sollte sie aber, wenn sie echte, menschliche Hilfe leisten möchte.

Ein Verstehen von psychischen Krankheiten und ein Nachvollziehen ihrer unheimlichen Macht über Gefühle, Gedanken und Körper ist immer auch ein Verstehen von sich selbst, von den Grundbedingungen des Menschen und dem Mensch-sein. 

Aber der Gesunde, dessen Seele offen geworden ist an den Grenzen, untersucht im Psychopathologischen, was er selber der Möglichkeit nach ist.
— Karl Jaspers

Gerade im therapeutischen Gespräch ist dieses Verstehen wechselseitig aktiv und zeigt, wie eng ich als Mensch mit anderen Menschen in Verbindung stehe: Der hermeneutische Prozess beeinflusst beide Personen

Indem das Gegenüber versteht, kann ich mich als Betroffene auch selbst besser verstehen. Natürlich nicht in dem Sinn, dass mein Zuhörer mit-leidet und vereinnahmt wird, sondern sich für meine Welt öffnen kann und das Erleben nachvollzieht, ohne zu beurteilen

 

Philosophie der Psychologie ist notwendig

Die Philosophie ist also immer schon die Grundlagenwissenschaft der Psychologie und Psychotherapie gewesen. Dabei ist es Aufgabe der Philosophie, psychologische Grundbegriffe, Methoden und Arbeitsweisen auf der wissenschaftstheoretischen und -historischen Ebene zu hinterfragen. Das ist überaus wichtig.

Denn die Wahrnehmung, Interpretationen und Handlungen der Forscher, Ärzte und Therapeuten sind ganz wesentlich davon beeinflusst, was sie selbst unter psychischen Krankheiten verstehen.

 

Mit anderen Worten: ihre Vorannahmen über psychische Phänomene und Prozesse können undifferenziert, uninformiert und falsch sein.

Vgl. weiterführend:

 

Fazit: Philosophie und Psychologie

Genau deshalb ist die Philosophie der Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie notwendig. Und genau das meinte Karl Jaspers, als er schrieb: “Wer meint, die Philosophie ausschalten und sie als belanglos beiseite lassen zu können, wird von ihr in ungeklärter Gestalt überwältigt.”

Selbst, Wirklichkeit, Bewusstsein usw. – alle Begriffe, die in der Psychologie eine tragende Rolle spielen, haben eine lange philosophische Tradition. Und meist kommen die psychologischen Konzepte auch nicht ohne Anleihen aus, die sie aus der Philosophie entnehmen müssen.

Die Philosophie hinter einer psychologischen Theorie oder psychotherapeutischen Methode zu kennen, ist mehr als wichtig. Ich halte es für ausschlaggebend

Es ist der Blick auf Mensch, Welt und Zwischenmenschlichkeit, der die philosophischen Ansätze von den herkömmlichen Therapiemethoden unterscheidet, nicht einfach nur eine alternative Behandlungstechnik.

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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