Die Lebenswelt nach Husserl und Ratcliffe
Die Lebenswelt ist ein traditioneller, phänomenologischer Ansatz, um Zugang zum Erleben des Menschen zu finden. Lebenswelt meint nicht die Umwelt, nicht den Lebensraum um mich herum, sondern mein selbstverständliches Verhältnis zur Welt.
Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen
Die Lebenswelt in der Phänomenologie
Lebenswelt ist der zentrale Begriff in Husserls Phänomenologie. Darauf bauen auch neuere Ansätze auf: In diesem Beitrag erkläre ich Ratcliffes Theorie der existenziellen Gefühle, die Affekten, Stimmungen und Emotionen eine Schlüsselrolle im Selbst- und Welterleben zuschreibt.
„Die ‚Wirklichkeit’, das sagt schon das Wort, finde ich als das Seiende vor und nehme sie, wie sie sich mir gibt, auch als Da-seiende hin.“
Was ist die Lebenswelt?
Die Lebenswelt eines Menschen bildet die Basis, auf der alles Denken, Fühlen und Handeln aufbaut. Das, was für mich und alle anderen selbstverständlich da ist. Mir in meinem Sein so vertraut ist, dass ich es nicht in Frage stelle oder großartig darüber nachdenke.
Meine Lebenswirklichkeit setzt sich aber nicht aus materiellen Objekten und Menschen zusammen und sie ist mir auch nicht bewusst gegeben.
Husserl meinte damit vielmehr die gewohnte Weltzugehörigkeit, eine habituelle Grundannahme, die ich nicht reflektiere, die vorbegrifflich sind, die das Fühlen und Denken über und in meiner Welt prägen.
Die Lebenswirklichkeit des Menschen
Die Lebenswelt umfasst das ganze „So-sein“ eines Menschen, leiblich, sinnlich und praktisch. Das soziale Umfeld gehört ebenso zur Lebenswelt wie die Natur, Tiere, Gesellschaften, Kultur, Tradition, Verhaltensnormen, Gesetze etc.
Husserls Phänomenologie
Husserls Leitspruch lautete: Zurück zu den Sachen selbst!
Seine Vision war es, die Welt so zu verstehen, wie sie auch vom handelnden Menschen selbst erfahren wird. Dieses Konzept fordert einen radikalen Perspektiven-Wechsel.
Husserl ging es quasi um Alltagskonzepte, mit denen ein Mensch täglich Probleme und Geschehnisse auffasst und deutet. Dabei dachte er sich den Anfang der Erkenntnisgewinnung im Unmittelbaren, in der “Intentionalität” des Bewusstseins, was die Spaltung von Objekt und Subjekt aufheben sollte.
Gleichursprünglichkeit von Selbst und Welt
Für ihn war das Verhältnis von Welt und Bewusstsein komplementär. Das bedeutet, Welt und Ich ergänzen einander und sind füreinander konstitutiv. Husserl betonte, es gibt keinen Vorrang von Welt oder Selbst, sondern eine “Gleichursprünglichkeit”. Das eine kann nicht ohne das andere gedacht und erfahren werden.
Um das zu erreichen, führte Husserl methodische Verfahren ein, die unter dem Begriff phänomenologische Reduktion zusammengefasst werden. Zentrale Ausgangslage von Husserls Philosophie ist die “natürliche Einstellung zur Welt”, der unbewusste Glaube, dass Wirklichkeit objektiv sei. Diese Annahme ist als "Generalthesis der natürlichen Einstellung zur Welt" bekannt.
Um zu den Dingen selbst zurückzugelangen, fordert Husserl die bewusste Ablösung von Vorwissen über die Welt. Diesen Prozess nannte er Epoché: Sie sollte helfen, die Phänomene in der Welt abgelöst von eigenen Interessen und Konzepten zu betrachten. Wem dies gelingt, der kann die Welt als eine sinnvolle Beziehung zum Bewusstsein wahrnehmen. Husserl sprach von Wesensschau (eidetische Reduktion).
Mit diesem Konzept wollte Husserl eine Alternative zur modernen Wissenschaft bieten, der er unterstellte, sich in einem Elfenbeinturm zu bewegen und zu versuchen, Physik und Mathematik außerhalb der Alltagswelt zu begründen.
Husserl merkte an, moderne Physik besitze kein abgehobenes Fundament, fernab der Alltagswelt, sondern gehe von vorwissenschaftlichen Annahmen über die Welt aus:
„Auch objektive Wissenschaft stellt nur Fragen auf dem Boden dieser ständig im Voraus, aus dem vorwissenschaftlichen Leben her, seienden Welt.“
Der leib-seelische Zugang zur Lebenswelt
In der Phänomenologie (Definition) spielt für die Konstitution der Lebenswelt, die Leiblichkeit eine tragende Rolle. Der menschliche Leib bzw. das Selbstverhältnis zum Leib ist doppeldeutig.
Einerseits besitzen wir einen objektiv wahrnehmbaren Körper, unsere eigene Physis, die wir sinnlich wahrnehmen können. Andererseits ermöglicht mir der Leib in seiner innerpsychischen Bedeutung erst, grundlegende Dinge wie Zeit, Raum und Mitmenschen zu erfahren.
Der Leib ist Medium der Erfahrung. Ich kann mich nie von ihm trennen oder unabhängig von ihm wahrnehmen und denken. In diesem Sinne habe ich nicht nur einen Körper, sondern bin mein Leib.
Husserl erläutert die Doppeldeutigkeit der Leiblichkeit über den Tastsinn:
Wenn sich meine Hände beide gegenseitig befühlen, lässt sich jede Hand für sich nicht nur anfassen (passiv, Körper), sondern ist gleichzeitig das Fassende (aktiv, Leib). Während ich mit der einen Hand fühle, dass sie angefasst wird, spüre ich mit der anderen, dass ich mit meiner Hand anfasse.
Als Erlebnismedium ist der Leib Fixpunkt für die räumliche, zeitliche und soziale Orientierung sowie Wahrnehmung in der Welt. (vgl. auch Merleau-Pontys Leibphänomenologie)
Die Welt ist mir unmittelbar & unzweifelhaft gegeben
Ich muss die Welt nicht erst in meinem Verstand bewusst konstruieren. Stattdessen baut die menschliche Wahrnehmung auf mehreren Voraussetzungen auf: frühe Erlebnisse, kulturelles Wissen, Normen, Sprache, Typologien usw. Die Welt ist in meinem Bewusstsein schon vorhanden.
Gemeint ist das selbstverständlich Gegebene im Alltag, das Bedeutungszusammenhänge bildet, die eine bewusste Wahrnehmung überhaupt erst ermöglichen.
Die Lebenswelt ist kein Privatraum, der im Gegensatz zur Außenwelt steht
Sie ist viel mehr intersubjektiv. Menschen teilen ihre Lebenswirklichkeit miteinander. Allein das ist ein Fakt, der zu meiner Lebenswelt gehört, den ich still voraussetze und der in meinem Erleben stets mitwirkt. Die Lebenswelt ist eine natürliche Einstellung zum Selbst, zu anderen Menschen und zur Welt im Allgemeinen, die jeder Erfahrung zugrunde liegt.
Möglichkeitsräume & Erfahrungspotenziale
In der Nachfolge Husserls haben sich viele Phänomenologen dafür interessiert, wo der Ursprung für die natürliche Einstellung liegt. Sie denken sich unser Verhältnis zur Lebenswelt als eine Erfahrung von Möglichkeiten und Bedeutungszusammenhängen (vgl. Ratcliffe auf der Seite Bücher über Depressionen).
Ein Gegenstand, den ich ansehe, ist damit nicht nur ein bloßes, physisches Objekt, sondern hat Bezug zu anderen Sinnverweise bzw. Möglichkeiten.
Ein schönes Bild dafür bietet der Begriff Möglichkeitsraum oder Netzwerk. Menschen bewegen sich in einem Möglichkeitsraum, gespickt von dynamischen Hinweisen für Handlungen, Wahrnehmungen und Bedeutungen.
Und jedes Mal, wenn ich eine Möglichkeit ergreife oder nicht, begebe ich mich in ein neues Blickfeld aus einem Netz voller neuer Möglichkeiten und Bedeutungen. Die Lebenswelt erfahre ich dynamisch, im Fluss.
Stimmungen und Gefühle als Seinsweisen
Möglichkeitsnetze sind immer mit Bedeutungen und Sinnzusammenhängen verknüpft, die wiederum von Stimmungen und Gefühlen getragen werden. Dabei handelt es sich nach phänomenologischem Verständnis weder um innere noch um äußere Phänomene, sondern ein Dazwischen.
Ich kann von Stimmungen oder Gefühlen berührt und ergriffen werden und zugleich andere Menschen mit meiner Stimmung anstecken und beeinflussen.
Jan Slaby warnt zu Recht davor, Gefühle kognitivistisch zu begreifen (Bsp. als Form von Überzeugungen und Urteilen), vielmehr sind sie “zentrale Vollzugsformen der personalen Existenz selbst.” (8)
Im Klartext: Gefühle besitzen einen qualitativen Kern, der Spektren von Möglichkeitsräumen und möglichen Handlungsoptionen erschließen oder verschließen kann.
Die Umwelt ist nie leer, sondern immer schon angefüllt mit Qualitäten, die ausdrücken, auffordern, auf mich einwirken. Stimmungen sind ganzheitlich: Sie sind wie eine Einstimmung von Selbst und Welt auf eine gemeinsame Basis.
Ratcliffes Theorie der existenziellen Gefühle
Slaby und andere greifen auf Ratcliffes Theorie der existenziellen Gefühle (feelings of being) zurück, die dieser als Möglichkeits- und Erfahrungshorizonte auffasst.
Als bestes Beispiel für existenzielle Gefühle kann das Gefühl der Realität gelten (Realitätssinn, Wirklichkeitssinn): Das unbewusste und selbstverständliche Wissen, dass die Welt um mich herum keine Illusion ist, sondern wirklich. Das Gegenteil nennt sich in der Psychopathologie Derealisation.
Existenzielle Gefühle sind die affektive Orientierung meiner Existenz, aufgrund der ich zu gewissen Verhaltensweisen in bestimmten Situationen tendiere oder nicht (vgl. Heideggers Befindlichkeiten).
Möglichkeitshorizonte erschöpfen sich aber nicht in einer bloßen Anzahl an (imaginierten) Handlungsmöglichkeiten. Ratcliffe meint mit Möglichkeitsarten bestimmte Erfahrungshorizonte, die mir als Mensch gegeben sind.
Eine Situation als sinnvoll oder wichtig zu erleben, setzt voraus, dass ich prinzipiell die Fähigkeiten dafür besitze, diese Möglichkeitsart wahrzunehmen (5): “Es handelt sich bei ihnen jeweils um Weisen »sich in der Welt vorzufinden«.”
Die Selbstbezüglichkeit von Gefühlen
Ein Gefühl ist nichts, was ich passiv über mich ergehen lasse. Wenn ich mich vor etwas fürchte, dann habe ich gleichzeitig ein Bewusstsein von meiner eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit. Furcht gibt es nur vor dem Hintergrund dieser Verfassung, denn sonst hätte ich keine Furcht.
Nach phänomenologischer Gefühlstheorie sind existenzielle Gefühle kein Krankheitszeichen, sondern eine Grundausstattung des Menschen. Gefühle sind demnach der entscheidende Weltzugriff einer Person, in die alles Denken, konkrete Empfinden und Handeln eingebettet ist.
Fazit: Lebenswelt nach Husserl & Ratcliffe
Gemäß der philosophischen Phänomenologie erleben Menschen die Welt atmosphärisch eingefärbt von existenziellen Gefühlen bzw. grundlegenden Stimmungen, die sämtliche Erfahrungen prägen.
Existenzielle Gefühle bzw. Stimmungen sind nichts, was sich in einem separierten Innenraum abspielt, sondern fest mit mir und meiner Umwelt verbunden. Sie sind vorbegrifflich und präreflexiv, die Basis für Wahrnehmung und Sinnverständnis.
Gefühle und existenzielle Gefühle sind keine bloßen mentalen Entitäten, sondern immer auch leiblich erfahrbar. Sie sind nicht Entweder-Oder, sie sind immer beides zugleich. Es gibt keine Gefühle außerhalb des Leiblichen und keinen Leib, ohne Gefühle.
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Die Lebenswelt ist für einen Menschen kein bedeutungsfreier, wertneutraler Raum voller Dinge. Die Lebenswelt ist eine Struktur von Möglichkeitsräumen, angefüllt mit Bedeutungen und Sinnverweisen.
Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen
Quellen:
1) J. Slaby: Matthew Ratcliffes phänomenologische Theorie existenzieller Gefühle. In: Emotionen, Sozialstruktur und Moderne, Wiesbaden 2012
2) Thomas Fuchs: Zur Phänomenologie der Stimmungen. In: Stimmung und Methode, Tübingen 2013
3) Metzler Lexikon der Philosophie
5) M. Ratcliffe: Existenzielle Gefühle. In: Affektive Intentionalität, 2011
6) Dan Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger, 2007
7) J. Slaby: Existenzielle Gefühle und In-der-Welt-sein. In: Emotionen, Springer, 2019