Wie viel Armut ist normal?
Das Leben in Armut ist von Mangel und Verzicht geprägt. Jeden Tag stehen Betroffene vor der Herausforderung, grundlegende Bedürfnisse zu decken. Doch ohne eine starke Lobby, die ihre Stimmen lautstark vertritt, bleiben ihre Probleme weiterhin ungesehen.
Die Normalität der Armut
Armut ist für die meisten Menschen schwer auszuhalten. Allein ihr Anblick ist so unangenehm, dass wir alle lieber wegsehen, wenn wir einem Menschen, der offensichtlich im Elend lebt, auf der Straße begegnen.
Automatisch wenden wir den Blick ab und blenden damit die Not dieser Menschen direkt aus.
Mir ergeht es nicht anders.
Auch ich kann oft genug kaum hinsehen – weil mich diese Not entsetzt und traurig macht. Weil ich Energie und Aufmerksamkeit für andere Dinge benötige. Weil es so viele Probleme in meinem eigenen Leben gibt, dass ich fürchten muss, an weiteren Belastungen zu zerbrechen.
Doch nur weil wir nicht hinsehen, bedeutet das nicht, dass Armut in Deutschland nicht existiert. Ganz im Gegenteil: Seit Jahrzehnten belegen Studien und Berichte, dass sich die Armut in Deutschland ausbreitet.
Das Schlimmste ist: Armut findet sich nicht nur bei den sog. Randexistenzen, sondern mitten in unserer Gesellschaft. Ebenso wie bei psychisch oder chronisch kranken Menschen sieht man den Betroffenen die Last und die täglichen Kämpfe nicht (unbedingt) von außen an.
Überhaupt ist Armut kein Smalltalk-Thema, das man mal eben so auf der Straße führt.
Die neue alte Armut
Armut ist heute versteckter als früher, darum bleibt sie oft unerkannt oder wird geleugnet. Teilweise aus Selbstschutz bzw. Angst, teilweise aus Ignoranz und ideologischen Gründen.
Natürlich existieren nicht DIE Armen, sondern etliche Graustufen. Arme Menschen sind entgegen Statistiken und hartnäckigen Vorurteilen eine sehr heterogene Gruppe. Darum sind die Stereotype, die wir mit Armut verbinden, in den meisten Fällen falsch.
Schon 2015 konstatierte Ulrich Schneider (1): „Alle zehn Jahre wird scheinbar eine neue Armut festgestellt.
1970er Jahren (…) die Armut der Frauen, der Pflegebedürftigen und der älteren Menschen.
In den 1980er Jahren (…) die Armut der Arbeitslosen,
in den 1990er Jahren (…) Menschen (…), die zwar Arbeit hatte, aber trotzdem arm war.
Um die Jahrhundertwende sprach man von der »Infantilisierung der Armut«, nämlich von der Armut der Kinder.
In den Folgejahren bildete man den Begriff der »Abgehängten« (....). Für diese Menschen fand man die Kennzeichnung »Prekariat«, weil sie eine länger anhaltende Armutskarriere durchlaufen.
Im Frühjahr 2012 (…) dann eine Konzentration der Armut bei den 18- bis 24-Jährigen und den 55- bis 64-Jährigen (...)
während der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2013 wieder dort landete, wo man vor achtzehn Jahren war: nämlich bei den älteren Menschen. (...)
2015 gelten illegale und erwerbsgeminderte Jugendliche als »wirklich« arm.“
Ich ergänze: In den vergangenen Jahren haben Sozialverbände zwar Kinderarmut, Alleinerziehenden-Armut und Altersarmut (hier v.a. weibliche Armut) wieder in den Fokus gerückt, doch die Medien und Politik konzentrieren sich auf „Bürgergeldempfänger“, die selbst verschuldet arm seien und nur dem Arbeitsmarkt zugeführt werden müssten.
Doch von diesen “arbeitslosen” Bürgergeldempfängern…
ist jeder 4. ein Kind,
über 50 % studieren, gehen zur Schule, pflegen Angehörige oder erziehen kleine Kinder
und viele sind chronisch krank
„Armut gehört inzwischen zur Normalität“
Wer es selbst nicht (mit)erlebt, kann sich kaum vorstellen, wie anstrengend, frustrierend und trist das Leben für Menschen hierzulande ist, wenn sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Relative Armut heißt:
jeden Cent zweimal umdrehen und ständig über Kleinstbeträge grübeln
kein Urlaub, keine Erholung und keine Ausflüge
keine Geburtstagsgeschenke oder Geburtstagsfeiern
keine ausgewogene Ernährung, bei Kindern oft kein Frühstück
Ständige öffentliche Diskriminierung (in der Arztpraxis, bei der ARGE, beim Einkaufen, in der Arbeit, in der Nachbarschaft usw.)
Auf den Punkt: Armut in Deutschland bedeutet permanente Sorgen und Angst, Enttäuschungen und Frust, Überforderung und Krankheit.
Vgl. Was ist Armut? sowie Armut & Depression: die gesundheitliche Ungleichheit
Bürgergeld – Ausbeutung mit Euphemismen
Die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld ändert nichts, das System bleibt asozial: Die Beiträge für das sogenannte Existenzminimum sind für ein Leben in Menschenwürde so niedrig gehalten, dass man zwar nicht verhungert, aber vor sich hinvegetieren muss.
Der Regelsatz liegt derzeit für Singles in München bei 591 Euro. Ein absoluter Witz – vor allem, weil noch allerlei komplexe Rechnungen für Betroffene hinzukommen: Miet-Differenz, Stromkosten, kaputter Kühlschrank, Essen u. v. m. werden nicht vom Amt übernommen. Da bleibt nichts für gesunde Ernährung, Bildung, Ausflüge, Sparen etc.
Schleichend werden alle rechtlichen Erfolge in der Sozialhilfe wieder ausgemerzt:
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Wer eine zumutbare Arbeit oder Maßnahme ablehnt, dem wird der Regelsatz um 30 % für 3 Monate gekürzt – das gilt auch für versäumte Termine. Werden nach Meinung des Sachbearbeiters sogar mehrere „Pflichtverletzungen“ begangen, kann das Bürgergeld sogar komplett bis zu 2 Monate einbehalten werden.
Kleine Rückschau: Im Jahr 2019 das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Leistungskürzungen von 60 % aufwärts nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Danach durften die Jobcenter das Sozialgeld nur noch um maximal 30 % kürzen. Doch auch das ist noch zu viel...(und vor allem sind Strafen die völlig falsche Methode, um Menschen dauerhaft zu motivieren)
Stell dir vor, ich beziehe Bürgergeld und bekomme monatlich 500 Euro, um alle Lebenshaltungskosten zu decken. Wenn ich ein Angebot der ARGE ablehne – weil ich es zum Beispiel sinnlos finde, als studierte Germanistin einen Schreibkurs für Bewerbungen zu machen – erhalte ich in den nächsten 3 Monaten zur Strafe nur noch 350 Euro. Das ist sehr sehr viel Geld und verschlechtert meine Lage auf sämtlichen Ebenen extrem.
Überhaupt: von einem Existenzminimum lässt sich nichts mehr abziehen, es ist ja bereits das absolute Minimum zum Leben. Aber das interessiert niemanden – vor allem diejenigen Leute nicht, die ohnehin nicht betroffen sind.
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Bei einer Beschäftigungszeit von über 6 Stunden sind nun 3 Stunden Pendelzeit zumutbar.
Nehmen wir an, ich arbeite 8 Stunden am Tag. Früher hätte ich sagen können, dass eine Pendelzeit von maximal 2,5 Stunden für mich nicht zumutbar ist, wenn ich mehr als 6 Stunden arbeite. Jetzt wird erwartet, dass ich bis zu 3 Stunden pendle – ich muss also Stellen annehmen, die weiter entfernt liegen.
Allerdings ist Pendeln kein Pipifax, sondern eine zeitaufwendige, stressige und finanzielle Belastung. Je nach persönlichem Hintergrund sogar extrem belastend. Ich habe quasi kein Recht mehr, meinen Arbeitsweg und -ort selbstbestimmt auszuwählen.
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Bestimmte Ersparnisse oder Vermögenswerte durften nach der Neuregelung 12 Monate nicht abgezogen werden. Das war ein großer Erfolg, denn Betroffene waren nicht gezwungen, ihre Ersparnisse aufzubrauchen und hatten so Ressourcen, um wieder aus dem Sozialbezug herauszukommen.
Jetzt hat sich die Schonfrist auf 6 Monate verkürzt. Wenn ich Bürgergeld beantrage und 15.000 Euro gespart habe, werden mir nach einem halben Jahr die (ohnehin schon mickrigen) Regel-Leistungen gekürzt. Ich muss also meine Ersparnisse komplett einteilen, um über die Runden zu kommen, anstatt es zu meinem Vorteil irgendwie nutzen zu können.
Die Folge sind Unzufriedenheit, finanzielle Sorgen und Angst, sozial / existenziell weiter abzurutschen. Das kostet Kraft, die mir im Alltag und bei der Suche nach einem anständig bezahlten Job fehlt.
Das Ganze ist wirklich dumm! Natürlich sollte niemand, der viel Geld auf der hohen Kante hat, einen Anspruch auf Bürgergeld haben. Doch Menschen, die nur ein kleines finanzielles Existenzpolster haben, dieses auch noch zu nehmen, hat keine positiven Effekte. Im Gegenteil wächst auf diese Weise die Zahl der dauerhaften Bürgergeldempfänger.
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Erinnert an den Umgang mit freigelassenen Sträflingen: Einmal pro Monat sollen sich Betroffene (wenn sie nicht ihre Kinder betreuen oder gerade in einer anderen Maßnahme sind) bei der ARGE persönlich vorstellen. Wird der Termin nicht eingehalten, kommt es zu 30 % Kürzungen.
Natürlich gibt es viel mehr Termine, die man wahrzunehmen hat. Es kommen noch unzählige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinzu, die mehr oder weniger unsinnig sind.
Das ist aber längst nicht alles, denn bereits länger gilt: Wenn ich Bürgergeld beziehe, muss ich jederzeit erreichbar sein. Ich habe weder ein Recht auf spontanes Verreisen noch wo ich mich aufhalte. Ich darf mich höchstens 3 Wochen im Jahr von meinem Wohnort entfernen (zum Beispiel für Urlaub), aber nur, wenn mir das die ARGE gnädigerweise genehmigt.
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Die sogenannten “Totalverweigerer” werden weiterhin in unterbezahlte 1-Euro-Jobs gedrängt. Es darf aber jetzt auch Bürgergeld-Bezieher treffen. Wer diese “sozialversicherungsfreie Arbeitsgelegenheiten“ ablehnt, muss mit Sanktionen rechnen.
Die neuesten Änderungen im SGB II werden von verschiedenen Sozialverbänden als Rückschritt angesehen. Zu Recht: Die Neuregelungen untergraben die Ziele der Bürgergeldreform, indem sie Sanktionen verschärfen und die Rechte der Leistungsberechtigten einschränken, statt auf soziale Sicherheit und Respekt zu setzen.
Im Klartext: mehr Druck und mehr Kontrolle anstatt bessere Qualifizierungen und gezielte Unterstützung.
Evtl. interessant für dich: Hartz Plus Studie des Vereins Sanktionsfrei
Geholfen ist mit dieser Anti-Sozialpolitik jedenfalls nicht den Menschen, sondern den Personen, Unternehmen und Organisationen, die von Arbeitskräften im Niedriglohnsektor profitieren und so schwindelerregende Gewinne einkassieren.
Von der Freiheit, Träume zu haben
Immer wieder ist vom Bildungsaufstieg die Rede. Dabei wird ausnahmslos verschwiegen, dass bei diesen Geschichten Fleiß und Talent nicht genügen, sondern immer Glück und Unterstützung eine wesentliche Rolle spielen.
Das wissen auch alle, die “da unten” aufwachsen. Die Kids bekommen genau zu spüren, welche Zukunft ihnen blüht. Darum träumt man ja von einer Karriere als Sportler, Reality Star oder Influencer, das sind die einzigen Traumaufstiege, die überhaupt möglich erscheinen.
Soziale Aufstiege durch Bildung sind die große Ausnahme. Traurig, aber wahr: Die Chancen für eines der ca. 3 Millionen Kinder in Deutschland, die in Armut aufwachsen, aus diesem Leben zu entkommen, sind verschwindend gering. Die paar Ausnahmen, die mal in den Medien kursieren, sind eben genau das: die Ausnahme von der Regel.
Vgl. auch Bildungsexpansion: keine Lösung – sowie Kinderarmut & Bildung: Kein Schutz vor Armut
Und das ist nicht erst seit heute so.
Schon seit vielen Jahrzehnten wachsen hier Kinder zu Erwachsenen heran, die nichts anderes kennen als eine Welt voller Mangel, Ausgrenzung und Erschöpfung. Vgl. Was Armut mit Kindern macht
Wie soll sich jemand für gesunde Ernährung interessieren, der von klein auf gezwungen ist, billige gepanschte Lebensmittel zu essen?
Wie soll sich jemand für Bildung begeistern, der in einer heruntergekommenen Schule in überfüllten Klassen sitzt und von Lehrkräften als faul etc. abgestempelt wird?
Wie soll jemand, der immer wieder Diskriminierung erfährt, den Mut und die Energie gewinnen, kluge Pläne für einen “sozialen Aufstieg” zu schmieden?
Wie sollen betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene unter diesen Bedingungen jemals das Selbstbewusstsein entwickeln, ein wichtiges Mitglied dieser Gesellschaft zu sein?
Vgl. auch Klassismus in Deutschland und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft
Die asoziale Mitte
Doch in Medien, den vornehmen Kreisen der Mittelschicht und in der Politik rümpft man das feine Näschen und empört sich über die “wachsende” Unmoral:
zu viele Menschen (Fachkräfte) werden “plötzlich” dauerhaft krank – die sind wohl alle zu empfindlich oder verwöhnt?
zu wenige wollen eine Ausbildung bzw. es gibt immer weniger Bewerber mit geeigneten Qualifikationen – diese faule Jugend, die einfach nicht arbeiten will!
die Wahlbeteiligung sinkt – das liegt bestimmt an der falschen Einstellung der Bürgerschaft in den “unteren Schichten”. Woher kommt diese Politikverdrossenheit nur?
die Kommunikation verroht – daran können natürlich nur AFD und Migration Schuld sein! Vorher herrschte reinste Höflichkeit in der Gesellschaft.
die Solidarität schwindet – ja, was fällt den Leuten ein, sich mehr und mehr gegen Machtverhältnisse und Unterdrückung aufzulehnen! Das war nämlich der eigentliche Kitt für die hochgelobte “Solidarität” in den vergangenen Jahrhunderten.
die jungen Leute können / wollen nicht arbeiten usw. – Frechheit, welche Arbeitskräfte sollen sich denn dann ausbeuten lassen?
Fazit: Wir müssen hinsehen!
Durchweg wird ignoriert, dass Betroffene von (relativer) Armut wirklich in einer anderen Welt leben müssen, in der eben nicht dieselben Ressourcen, Freiheiten und Optionen greifbar sind.
Diese Ignoranz ist Teil des Teufelskreises. (Vgl. den Teufelskreis der Armut)
Quellen:
1) Ulrich Schneider: Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen, Westend Verlag, Frankfurt a.M., 2015, S. 109 f.
2) Der Paritätische: Newsletter 02/10/24 – Fachinfo: Geplante Änderungen im Bürgergeldgesetz – Umsetzung der "Wachstumsinitiative"
3) Christiane Florin: Sozialethiker Andreas Mayert – „Armut gehört inzwischen zur Normalität“ (Deutschlandfunk)
4) Simon Overberg: Bürgergeld Änderungen 2025 – Tabelle der gesetzlichen Neuerungen (Bürgergeld Verein für soziales Leben e.V.)
5) Wolfgang M. Schmitt, Ann-Kristin Tlusty: Selbst schuld! Mit Beiträgen von Christian Baron, Dietmar Dath, Aladin El-Mafaalani, Sarah-Lee Heinrich, Özge İnan, Şeyda Kurt uvm., Hanser Verlag 2024