Kritik an der offiziellen Psychotherapie #2
Leiden, Störung, Anderssein
Im Folgenden stelle ich dar, was ich an der Haltung der offiziellen (auch: akademischen) Richtlinien-Psychotherapie (RPT) problematisch finde. Oftmals zeigt sich diese Haltung nicht ausdrücklich, sondern nur indirekt; sie kann aber, so meine ich, aus ihrem wissenschaftlichen Anspruch, aus Veröffentlichungen, Fallbesprechungen, dem alltäglichen therapeutischen Handeln sowie aus Klagen von Patient:innen erschlossen werden.
Leiden, Störung, Anderssein
Immer abwechselnd werde ich als erstes jeweils meine Kritik formulieren und darauf folgend meine Haltung schildern, wie sie meinem Psychotherapie-Blog zugrunde liegt. Wenn du dich auf meinem Youtube-Kanal und auf meinem Blog bewegst, werden dir meine Einstellungen sowie meine menschliche und moralische Grundhaltung nach und nach deutlich werden. Für eine Veränderung der RPT in diesem Sinne trete ich ein.
Ich wünsche mir von den Fachleuten einen kritischen Diskurs, der zum Teil tiefgreifende Änderungen nach sich ziehen sollte. Ich bin mir bewusst, dass viele Berufskolleg:innen sehr kompetent, effizient und emotional zugewandt arbeiten.
Diese werden sich durch meine Kritik hoffentlich bestätigt fühlen. Wer sich in meiner Kritik wiedererkennt, dem mag diese als Anlass zu einer Deliberate Practice, zur kritischen Selbstreflexion, dienen (vgl. Psychotherapeutenjournal 3/2022, 241-248).
Leiden
Vermutlich liest du diesen Text, weil du irgendwelche Symptome hast, weil du an etwas leidest oder weil es dir einfach nur beschissen geht. Vielleicht sagst du auch: Ich hab’ da so ein komisches Problem. Oder: Mit mir stimmt was nicht. Ich bin nicht ganz normal.
Dein eigentliches Leiden besteht in irgendeinem negativen Empfinden:
Dir tut etwas weh,
du hast Angst,
du bist immer traurig und niedergeschlagen,
du kannst nicht aufhören zu weinen,
dir fällt es schwer, dich zu konzentrieren,
Erinnerungen kommen in dir hoch und machen dir eine Riesenpanik,
du hast ständig quälende Durchfälle,
du fühlst dich einsam,
du musst 100 Mal hintereinander die Fensterläden kontrollieren und hast keine Zeit mehr für etwas Anderes,
dir fehlt der Antrieb,
du magst nicht mehr leben,
dein häufiges Erröten ist dir peinlich,
bestimmte innere Bilder bedrängen dich.
Was immer es ist, woran du leidest: Es handelt sich um Zustände, die äußerst unangenehm oder kaum noch erträglich sind.
Störung
Andere, zum Beispiel Arbeitgeber, nennen das, was du hast, eher eine Störung: Die Frau Arbeitnehmerin oder der Herr Lohnempfänger hat eine Störung und kann leider nicht arbeiten.
Das stört den Betrieb und den Arbeitsfrieden, weil andere seine Arbeit machen müssen bzw. sie Geld kriegt, ohne es verdient zu haben. Oder aber die Ehefrau hält ihren Mann für gestört, weil er den Abwasch nie macht oder sie einfach nicht versteht.
Dann hofft man auf die Therapeutin und erwartet die Behebung dieser Störung – was meist wortlos geschieht.
Insofern ist der hyperaktive Junge – früher sagte man: Zappelphilipp – in der 4. Grundschulklasse gestört, als er den Ablauf des Unterrichts stört. Also schimpft die Grundschullehrerin, damit er endlich stillsitzt.
Ich kann sie dabei wirklich gut verstehen: Wenn sie zwei von der Sorte in ihrer Klasse hat, kann sie nämlich den Laden zumachen und sich selbst wegen einer Störung krankschreiben lassen.
Andererseits wäre der Junge aber gar nicht auffällig, wenn er herumlaufen und später als Bundesligafußballtrainer am Spielfeldrand das Rumpelstilzchen geben dürfte.
Du merkst also schon: Das Wort Störung ist immer mit einer speziellen Perspektive verbunden. Das heißt, dass es immer einen Jemand oder eine Jemandin gibt, der oder die sich gestört fühlt. Oder es ist der Produktionsablauf, der ungestört vonstatten gehen muss, oder der Badebetrieb im Freibad.
Nehmen wir einmal an, du würdest bei deinem Lieblings-Bäcker einfach mehrmals laut atmen, weil du gerade mehr Luft brauchst – du weißt schon: so wie man es normalerweise nicht tut.
Vielleicht schaut dich der verhalten aufgebrachte Herr neben dir vorwurfsvoll an, mit der stillschweigenden Botschaft im Blick: Wo kommen wir denn hin, wenn hier jeder laut atmen würde?! Das stört jetzt aber erheblich den Brötchenverkaufverlauf!
Wenn du dich jetzt fragst, wieso er nicht ungestört Brötchen kaufen kann, wenn du laute Atemgeräusche von dir gibst, weiß ich darauf auch keine Antwort. Wir können nur spekulieren, was im Inneren dieses Herrn, der doch eigentlich ganz normal aussieht, abläuft und was genau ihn denn so stört: Vielleicht hat er vor dem Brötchenkauf im Internet einen Porno angeschaut, und nun erinnert ihn dein hörbares Geatme an seine Hauptdarstellerin, und er ist nun ganz irritiert, weil er findet, dass eine Pornoszene nichts in einem Bäckerladen zu suchen hat.
Ich möchte ihm da beipflichten, ihn aber gleichzeitig darauf aufmerksam machen, dass dein Atmen damit rein gar nichts zu tun hat und dass seine Assoziationen nur in seinem eigenen Kopf stattfinden. Trotzdem wird er vermutlich nicht meinen, dass er selbst, sondern dass du eine Therapie nötig hättest.
Anderssein
Wir können daran sehen, dass nicht nur eine Störung irgendjemanden stören kann, sondern dass auch Anderssein oder eine unübliche Verhaltensweise eine Störung bei oder in einer Person verursachen kann.
Bei diesen Phänomenen handelt es sich aber nicht um wissenschaftliche Kriterien, sondern um gesellschaftliche Bewertungen und Normen! Und natürlich wabern nicht nur dem Bäckerinnenkunden diese Werte und Normen durch Kopf, Brust und Bauch, sondern auch dir und mir.
Das bedeutet, dass du selbst dich vielleicht als eine Störung und als unnormal empfindest. Vermutlich leidest du also nicht nur an deinen Symptomen selbst, sondern auch noch daran, dass du nun nicht mehr ungestört funktionierst und dass du Angst hast, nicht mehr normal zu sein!
Mit anderen Worten: Dein Leiden ist dir peinlich, du empfindest es als Schande, du versuchst es zu verstecken. Du befürchtest, anders zu sein, nicht normal und nicht mehr zugehörig. Ja, wer ein seelisches Leiden hat, fühlt sich immer auch mehr oder weniger sozial diskriminiert und ausgeschlossen.
Das findet nicht nur in deinem Kopf statt; vielmehr ist es ganz konkret erfahrener sozialer Abstand. Auch die Anderen verhalten sich, sobald sie deines Problems gewahr werden, mit Distanzierung: Du musst endlich …!, sagen sie, Du darfst nicht immer …! Du solltest endlich mal …! Wenn du meinem Ratschlag nicht Folge leisten willst, kann ich dir auch nicht helfen!
Fazit: soziale Distanz
Für mich schwingt in derartigen Äußerungen mit: Du bist nicht normal. Du bist unvernünftig! Lass mich in Ruhe! Du bist einfach zu …! Da sich diese Art von Ent-Gegnungen wiederholen, bildet sich eine soziale Norm heraus, etwa: Alle Menschen mit diesem Leiden sind nicht okay.
Schlimmer noch: Sie sind psychisch abnorm. Durch diese Normbildungen vergrößert sich der Abstand des leidenden Menschen zur Gemeinschaft; dann leidet dieser nicht nur an dem Verlust der aktuellen sozialen Beziehungen, sondern darüber hinaus an dem Schwinden seiner Hoffnung auf zukünftige nährende Begegnungen. Diesen Vorgang kann man nicht anders bezeichnen als Distanzierung oder gar Diskriminierung.
Halten wir also fest: Beim Nachdenken über seelische Krankheiten oder Symptome spielen drei Phänomene eine wichtige Rolle. Leiden heißt demnach:
Leiden: Dir geht es schlecht.
Störung: Irgendjemand fühlt sich gestört. Du selbst empfindest dich auch als Störung.
Anderssein: Du erfüllst irgendeine Norm nicht, verletzt eine (unausgesprochene) Regel oder brichst ein Tabu und bist deshalb anders; deine soziale Zugehörigkeit ist eingeschränkt oder gar aufgehoben.
Ich bin der Meinung, dass vermutlich jedes seelische Leiden neben dem ursprünglichen Problem auch noch eben dieses soziale Leiden beinhaltet: Letzteres bezeichne ich als das Leiden-am-Anderen oder als das Leiden-am-Du.
Es tritt also zu dem ursprünglichen Leiden-an-Sich hinzu und bewirkt dessen Potenzierung. Zu dem Thema Leiden-am-Du kannst du in späteren Texten mehr lesen.
Die RPT als Psychotechnik
Die offizielle Psychotherapie neigt in mehrfacher Hinsicht dazu, diese Problematik eher zu verstärken als zu lindern, nämlich indem sie …
dir mittels einer Diagnose zu verstehen gibt, dass du (qualitativ) anders bist,
dein Leiden ebenfalls als zu reparierende Störung betrachtet,
von den Behandelnden eine so weitgehende Abstinenz (= Vermeidung einer persönlich-emotionalen Beziehung) verlangt, dass eine heilende menschliche Begegnung sehr erschwert wird.
Insofern ist die RPT tendenziell beurteilend, manipulierend, distanzierend und nicht selten diskriminierend. Sie behandelt dich so, als wärest du ein defektes Auto, ein kaputtes Gerät oder bestenfalls ein interessantes gadget.
Im nächsten Text (Therapie als Begegnung) erläutere ich dir, wie ich die Sache mit der Störung und der Abstinenz sehe.
Therapie als Begegnung
Psychotherapie ist Begegnung. Menschliche Begegnung ist stützend, nahrhaft, wärmend. Wenn sie dies nicht ist, handelt es sich um Ent-Gegnung, also um das Vorenthalten einer Begegnung.
Ich habe meine Patient:innen oft am Ende einer Therapie gefragt, was ihnen wichtig war, was ihnen geholfen hat. Während ich sogleich an hocheffiziente Expositions-Stunden dachte oder an reinigende Emotionsausbrüche, an tiefschürfende Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse, antworteten fast alle eher wie folgt: Geholfen hat mir, dass Sie an mich geglaubt haben. Oder: Ich fühlte mich von Ihnen immer respektiert und gemocht.
Anfangs war ich stets ein bisschen enttäuscht, dass nicht meine ach so wirkmächtigen Methoden und meine Kreativität, ja sogar: Genialität, es waren, die zu Fortschritten geführt haben. Erst als ich meine Motive infrage stellte und mich von diesen zu distanzieren lernte, bemerkte ich: Die erhaltenen Antworten waren ja noch viel toller!
Und sie stehen im Einklang mit wissenschaftlichen Befunden aus vielen Studien: Es sind nicht die Methoden, es sind nicht die Therapieschulen, die helfen, sondern die sogenannten Therapeuten-Variablen wie: Bestätigung, emotionale Zuwendung, Ermutigung, Glaube an Heilung, Respekt …
Leiden
Was folgt aus meiner Kritik für die Psychotherapie und für die Haltung der Psychotherapeutin?
Sie sollte dein Leiden als solches ernst nehmen. Sie sollte darin nicht in erster Linie eine Störung irgendeines Ablaufes sehen, sondern deine existenzielle Not und deine empfundene Ausweglosigkeit. Deine Symptome sollten für sie nicht Zeichen von Defiziten und Krankheit sein, sondern vorrangig Signale, die als Warnlampen fungieren, als Wegweiser dienen und auf Veränderung drängen.
Sie sollte akzeptieren, dass dein Leiden nicht durch dein falsches Verhalten oder deine schlechten Entscheidungen in die Welt gekommen ist, dass die Geschichte deines Leidens weder verrückt noch unlogisch ist, sondern dass sich diese vielmehr anhand einer innewohnenden Psycho-Logik entfaltet hat.
Sie sollte zudem wissen, wie bedeutsam für dich eine klare persönliche Begegnung ist. Sie ist sich bewusst, dass du vielleicht viel Zurückweisung erlebt hast und jetzt von ihr Halt und Bestätigung benötigst.
Ihr ist klar, dass deine Erkrankung höchstwahrscheinlich mit sozialer Ausgrenzung und Verunsicherung einhergeht: dass dir nicht nur dein Leiden-als-solches, sondern auch dein Leiden-am-Du – dazu später mehr – zu schaffen macht.
Störung
Die ideale Psychotherapeutin stellt sich schützend zwischen dich und den an euch herangetragenen gesellschaftlichen Auftrag, deine Störung – bitteschön! und zwar schnell! – zu beenden und für dein reibungsloses Funktionieren und deine sozialversicherungsfreundliche Wiedereingliederung zu sorgen.
Sie begibt sich gemeinsam mit dir auf die Suche nach einem für dich gangbaren, eigenen Weg und Ziel. Auch wenn dieses Ziel nicht mit dem Auftrag der Entstörung vereinbar ist, unterstützt sie dich in deinem ureigenen Heilungsprozess und ermutigt dich, dich dafür einzusetzen und eventuell nach außen abzugrenzen.
Anderssein
Dein Behandler weiß, dass du dich ihm unterlegen fühlst, dass du ihm Kompetenz und Macht, vielleicht sogar Weisheit zuschreibst. Er akzeptiert es, weil er sieht, dass du an die Hand genommen werden möchtest, so wie dein Vater es früher getan hat oder hätte tun sollen. Andererseits drängt er dir seine Hand nicht auf: Wenn du sie nicht brauchst oder willst, findet er das in Ordnung.
Er selbst aber – und das finde ich ungeheuer wichtig! – nimmt dich anders wahr: als gleichrangigen und -wertigen Menschen, auf Augenhöhe mit ihm selbst. Er sieht sich selbst weniger als Wissenden und Behandelnden, der dir den richtigen Weg aus deinem Dilemma weist oder gar vorschreibt.
Vielmehr versteht er sich als persönliches Gegenüber, als Mensch, der dir mit fachlicher Kompetenz begegnet, dich begleitet, dich ermutigt, die nötigen Schritte zu gehen. Er antwortet dir persönlich und ver-antwortet dir gegenüber sein Tun. Er reicht dir seine Hand, überlässt sie dir auch für eine gewisse Zeit; sobald du aber alleine gehen kannst, lässt er deine Hand los.
Dabei muss er dir diese seine Haltung nicht wortreich beschreiben. Vielmehr fühlst du seine Wertschätzung, seinen Respekt für dein Sosein. Wenn du es nicht fühlst, heißt dies nicht automatisch, dass er es dir gegenüber nicht hat. Aber das mag für dich ein guter Anlass sein, mit ihm darüber zu reden.
Sicherer Rahmen statt distanzierter Abstinenz
Natürlich darf dies andererseits nicht heißen, dass der professionelle Rahmen sich auflöst und deine Therapeutin dir ausführlich ihre eigenen Probleme schildert! Das könnte ja heißen, dass sie dich – so wie es deine Eltern früher vielleicht taten – in die Rolle der Zuhörerin, Vermittlerin, Helferin drängt (und dich dafür vielleicht auch noch mit viel Lob ködert!?). Nein, es geht bei dieser Veranstaltung namens Psychotherapie um dich! Nicht um sie!
Das berufsethische Prinzip der Abstinenz besagt, dass sich deine Behandlerin davon enthalten soll, die Sitzungen zu ihrem eigenen Wohl zu missbrauchen, indem sie etwa ihre Bedürfnisse stillt, dein Auto ausleihen oder ihr Kleinkind von dir hüten lassen will, Lob und Zuwendung von dir einfordert, ihre Macht zur Schau stellt oder ihre Telefonate während der Stunde erledigt.
Manchmal kommt es sogar vor, dass ein Psychotherapeut eine sexuelle Beziehung mit seinem Gegenüber aufnimmt oder auch nur zulässt – das ist nicht nur ein Behandlungsfehler, sondern eine gravierende Straftat; in aller Regel endet diese dramatisch für die Patientin!
Abstinenz muss anderseits aber nicht ausschließen, dass deine Therapeutin dich berührt, dich in den Arm nimmt, wenn du Trost brauchst, oder dir hilft, freier zu atmen, indem sie auf deinen Brustkorb drückt. Wir Psychotherapeutinnen haben manchmal zu viel Angst davor, einfach nur menschlich zu reagieren, und merken gar nicht, wie sehr unser Gegenüber dies als Abwertung, als Zurück- oder Zurechtweisung erfährt.
Eine Patientin mit langjähriger und vielfältiger Therapie-Erfahrung hat einmal vor einer Gruppe von Behandlern geklagt: Ist es denn so furchtbar für euch Therapeuten, uns Patienten einfach mal in den Arm zu nehmen? Sind wir denn aussätzig!? Seht ihr nicht, wie sehr wir eure Zuneigung brauchen, weil wir uns selbst nicht lieben können?
Gegenseitiges Lernen
Und nicht zuletzt bedeutet Psychotherapie als Begegnung, dass deine Therapeutin auch von dir lernt! Sie muss sich auf dich, dein Sosein, dein Weltbild, deine Geschichte, deine Grenzen einlassen. Im positiven Fall ist sie bereit, mit dir zusammen einen unbekannten Weg zu suchen, zu erfinden und zu gehen. Außer dem sicheren Rahmen stellt sie dir dann zur Verfügung
ihr Wissen über theoretische Zusammenhänge und über hilfreiche Behandlungsmethoden,
ihre Erfahrung mit vielen anderen leidenden Personen und
ihre Fähigkeit und Bereitschaft, dich auf deinem individuellen Weg zu begleiten.
Mehr findest du hier: Auswege bei Depressionen sowie hier auf der Website in meiner Kategorie Psychotherapie-Blog