Risiken der Exposition
Konfrontationstherapie kann zu Neuverstärkung führen!
Das Napalkov-Phänomen
Der Fall: Panikattacken!
Lotte H. sitzt in meiner psychotherapeutischen Praxis. Sie ist Lehrerin, konnte aber über 6 Monaten ihren Beruf nicht mehr ausüben, weil sie an starken Panikattacken leidet. Panik ergreift sie, sobald ihr auf der Straße eine Gruppe von Kindern oder Jugendlichen entgegenkommt. Das Viertel, in dem sich ihre Schule befindet, vermeidet sie. Als sie das letzte Mal in dem Schulgebäude war, ist sie zusammengebrochen und mit einem Notarztwagen in die Notaufnahme gebracht worden. Dort habe man ihr eröffnet, dass sie einen Panikanfall gehabt habe.
Die Klinikbehandlung
Daraufhin begab sie sich in eine 5-wöchige stationäre Behandlung, die sie vor zwei Monaten regulär beendete. Die Therapie sei erfolgreich gewesen, so dass sie jetzt wieder zum Dienst gehen könne.
Auf meine fragende Bemerkung, dass es ihr jetzt anscheinend besser gehe, antworte sie: Wissen Sie, Herr Mehrgardt, ich kann das alles jetzt wieder. In der Klinik habe ich es mithilfe einer Konfrontationstherapie geübt …
Aber …?, hake ich nach.
Aber …, beginnt sie zögernd - es scheint ihr etwas peinlich zu sein. Aber irgendwie geht es mir überhaupt nicht gut. Ich bin ständig angespannt, habe starkes Herzklopfen, bin nervös … ich weiß ja, dass mir nichts passiert, und ich kann das ja jetzt auch alles wieder, aber in die Schule zu gehen, kostet mich unendlich viel Kraft. Ich kann abends nicht einschlafen, wache häufig auf - und kann an nichts anderes mehr denken … dass ich nämlich am nächsten Morgen wieder da hin muss!
Expositionsbehandlung
In der Klinik ist mit Lotte uA eine Exposition durchgeführt worden. Das bedeutet, dass sie sich unterschiedlichen Auslösern ihrer Panik aussetzen musste. Um sie langsam zu “habituieren”, geschah dies in Abstufungen: zunächst Fotos von Schulen, dann Fotos von Klassenräumen und später therapeutische Ausflüge in eine nahe gelegene Kleinstadt, wo sie ein Schulgebäude aufsuchen musste. Auch den schlimmsten Auslösern - ein ganz bestimmter Reiniger-Geruch sowie inmitten von lärmenden Kindern stehen - musste sie sich stellen. Sie hatte jedes Mal maximale Panikzustände. Da sie aber ihrem Therapeuten vertraute und wusste, dass die Panik nachließ, hielt sie stand. Gleichwohl litt sie jedes Mal Höllenqualen, wie sie sich ausdrückte, insbesondere weil sie das Gefühl hatte zu ersticken. Sie sei froh, dass sie das alles überstanden habe, und sie wolle nie, nie wieder eine Panikattacke erleben müssen!
Die Theorie
… dahinter besagt, dass
das Vermeidungsverhalten die Löschung einer Panik verhindert und zwecks Panikbewältigung gelöscht werden muss,
deshalb Exposition - also das Aufsuchen der angstauslösenden Situation - bei vielen Ängsten, Panikstörungen und Zwängen das Mittel der Wahl ist.
Was ist mit Lotte passiert?
Patientinnen wie Lotte habe ich immer wieder erlebt: In ihren Behandlungen wurden sie erfolgreich einer Exposition unterzogen, indem sie Fahrstuhl fuhren, über Brücken gingen, Tunnel durchquerten, Hunden begegneten, das Haus verließen, eine Spinne über ihre Hand laufen lassen mussten.
Auch Patienten mit Zwangsstörungen können maximale Panik erleben, wenn sie ihre Kontrollgänge, Gedankenschleifen und Rituale nicht ausführen können. Mit ihnen wird eine sogenannte Reaktionsverhinderung durchgeführt: Deren Exposition besteht dann darin, dass sie die beruhigenden Rituale und Kontrollen nicht mehr ausüben sollen.
Wenn die Patientinnen gemäß der Theorie erleben, dass bei der Exposition nichts Schlimmes passiert, können sie das Vermeidungsverhalten aufgeben, und die Panik wird gelöscht.
Dabei wird jedoch oft übersehen, dass die mitunter massiven Panikanfälle, die sie in der Therapie durchleiden, selbst so aversiv und unerträglich sind, dass die Panik dadurch verstärkt wird. Es entsteht eine immense Erwartungsangst, dh es entwickelt sich eine starke Angst vor der Angst.
Napalkov gibt es nicht (mehr) ...?
Das sogenannte Napalkov-Phänomen war zu Zeiten meines Studiums Gegenstand von Lehrbüchern und Ausbildungen. Nach und nach scheint es aus Büchern, Seminaren und den Köpfen von Fachleuten verschwunden zu sein.
Also scheinen heutzutage nur noch wenige Fachleute den Begriff Napalkov-Effekt zu kennen, wie einige Recherchen in heutigen Lehrbüchern sowie Befragungen von Kollegen bestätigen.
Der Napalkov-Effekt besagt:
Eine starke Panikattacke kann zu einer Neuverstärkung der Panikstörung führen, wenn diese mit massiven physiologischen Begleiterscheinungen einhergeht und als existenziell bedrohlich erlebt wird.
Somit beinhaltet eine Expositionsbehandlung in der Verhaltenstherapie ein Risiko, über das jedoch kaum gesprochen, geschweige denn beforscht wird!
Das heißt demnach:
Wenn im Rahmen einer Expositionsbehandlung intensive Panikattacken erzeugt werden, kann diese Behandlung traumatisierend wirken und eine anhaltende Erwartungsangst und Übererregung auslösen.
Der Therapie-"Erfolg", dass die Patientin wieder das Haus verlassen oder Fahrstuhl fahren kann, wird somit teuer erkauft.
Bevor du als Patient oder als Behandlerin demnächst eine Exposition durchführen (lassen) willst, beachte bitte diese Schlussfolgerungen:
Was kannst du tun?
Vorab sollte ein aufklärendes Gespräch über die Gefahr einer Neuverstärkung der Panik geführt werden!
Starke Panikreaktionen sollten in der Exposition vermieden werden.
Eine stabile und vertrauensvolle therapeutische Beziehung ist notwendige Vorbedingung einer Exposition.
Es sollte eine Neubewertung vorgenommen werden: Vermeidung ist nicht immer schlecht (sie kann sogar überlebenswichtig sein!) - Exposition ist nicht immer gut.
Und vor allem: Vor jeder Exposition muss eine zuverlässige Panik-Bewältigung erlernt werden! Ich halte die Lippenbremsen-Atmung für die beste Methode, weil sie dort ansetzt, wo Panik in jedem Moment neu entsteht.
Hier der Link zur Panikbewältigung: