KRITIK AN DER OFFIZIELLEN PSYCHOTHERAPIE #2 – Therapie als Begegnung

 

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Psychotherapie ist Begegnung. Menschliche Begegnung ist stützend, nahrhaft, wärmend. Wenn sie dies nicht ist, handelt es sich um Ent-Gegnung, also um das Vorenthalten einer Begegnung. Ich habe meine Patient:innen oft am Ende einer Therapie gefragt, was ihnen wichtig war, was ihnen geholfen hat. Während ich sogleich an hocheffiziente Expositions-Stunden dachte oder an reinigende Emotionsausbrüche, an tiefschürfende Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse, antworteten fast alle eher wie folgt: Geholfen hat mir, dass Sie an mich geglaubt haben. Oder: Ich fühlte mich von Ihnen immer respektiert und gemocht.

Anfangs war ich stets ein bisschen enttäuscht, dass nicht meine ach so wirkmächtigen Methoden und meine Kreativität, ja sogar: Genialität, es waren, die zu Fortschritten geführt haben. Erst als ich meine Motive infrage stellte und mich von diesen zu distanzieren lernte, bemerkte ich: Die erhaltenen Antworten waren ja noch viel toller!

Und sie stehen im Einklang mit wissenschaftlichen Befunden aus vielen Studien: Es sind nicht die Methoden, es sind nicht die Therapieschulen, die helfen, sondern die sogenannten Therapeuten-Variablen wie: Bestätigung, emotionale Zuwendung, Ermutigung, Glaube an Heilung, Respekt …

 

Leiden

Was folgt aus meiner Kritik für die Psychotherapie und für die Haltung der Psychotherapeutin?

Sie sollte dein Leiden als solches ernst nehmen. Sie sollte darin nicht in erster Linie eine Störung irgendeines Ablaufes sehen, sondern deine existenzielle Not und deine empfundene Ausweglosigkeit. Deine Symptome sollten für sie nicht Zeichen von Defiziten und Krankheit sein, sondern vorrangig Signale, die als Warnlampen fungieren, als Wegweiser dienen und auf Veränderung drängen. Sie sollte akzeptieren, dass dein Leiden nicht durch dein falsches Verhalten oder deine schlechten Entscheidungen in die Welt gekommen ist, dass die Geschichte deines Leidens weder verrückt noch unlogisch ist, sondern dass sich diese vielmehr anhand einer innewohnenden Psycho-Logik entfaltet hat.

Sie sollte zudem wissen, wie bedeutsam für dich eine klare persönliche Begegnung ist. Sie ist sich bewusst, dass du vielleicht viel Zurückweisung erlebt hast und jetzt von ihr Halt und Bestätigung benötigst. Ihr ist klar, dass deine Erkrankung höchstwahrscheinlich mit sozialer Ausgrenzung und Verunsicherung einhergeht: dass dir nicht nur dein Leiden-als-solches, sondern auch dein Leiden-am-Du – dazu später mehr – zu schaffen macht.

 

Störung

Die ideale Psychotherapeutin stellt sich schützend zwischen dich und den an euch herangetragenen gesellschaftlichen Auftrag, deine Störung – bitteschön! und zwar schnell! – zu beenden und für dein reibungsloses Funktionieren und deine sozialversicherungsfreundliche Wiedereingliederung zu sorgen. Sie begibt sich gemeinsam mit dir auf die Suche nach einem für dich gangbaren, eigenen Weg und Ziel. Auch wenn dieses Ziel nicht mit dem Auftrag der Entstörung vereinbar ist, unterstützt sie dich in deinem ureigenen Heilungsprozess und ermutigt dich, dich dafür einzusetzen und eventuell nach außen abzugrenzen.

 

Anderssein

Dein Behandler weiß, dass du dich ihm unterlegen fühlst, dass du ihm Kompetenz und Macht, vielleicht sogar Weisheit zuschreibst. Er akzeptiert es, weil er sieht, dass du an die Hand genommen werden möchtest, so wie dein Vater es früher getan hat oder hätte tun sollen. Andererseits drängt er dir seine Hand nicht auf: Wenn du sie nicht brauchst oder willst, findet er das in Ordnung.

Er selbst aber – und das finde ich ungeheuer wichtig! – nimmt dich anders wahr: als gleichrangigen und -wertigen Menschen, auf Augenhöhe mit ihm selbst. Er sieht sich selbst weniger als Wissenden und Behandelnden, der dir den richtigen Weg aus deinem Dilemma weist oder gar vorschreibt. Vielmehr versteht er sich als persönliches Gegenüber, als Mensch, der dir mit fachlicher Kompetenz begegnet, dich begleitet, dich ermutigt, die nötigen Schritte zu gehen. Er antwortet dir persönlich und ver-antwortet dir gegenüber sein Tun. Er reicht dir seine Hand, überlässt sie dir auch für eine gewisse Zeit; sobald du aber alleine gehen kannst, lässt er deine Hand los.

Dabei muss er dir diese seine Haltung nicht wortreich beschreiben. Vielmehr fühlst du seine Wertschätzung, seinen Respekt für dein Sosein. Wenn du es nicht fühlst, heißt dies nicht automatisch, dass er es dir gegenüber nicht hat. Aber das mag für dich ein guter Anlass sein, mit ihm darüber zu reden.

 

Sicherer Rahmen statt distanzierter Abstinenz

Natürlich darf dies andererseits nicht heißen, dass der professionelle Rahmen sich auflöst und deine Therapeutin dir ausführlich ihre eigenen Probleme schildert! Das könnte ja heißen, dass sie dich – so wie es deine Eltern früher vielleicht taten – in die Rolle der Zuhörerin, Vermittlerin, Helferin drängt (und dich dafür vielleicht auch noch mit viel Lob ködert!?). Nein, es geht bei dieser Veranstaltung namens Psychotherapie um dich! Nicht um sie!

Das berufsethische Prinzip der Abstinenz besagt, dass sich deine Behandlerin davon enthalten soll, die Sitzungen zu ihrem eigenen Wohl zu missbrauchen, indem sie etwa ihre Bedürfnisse stillt, dein Auto ausleihen oder ihr Kleinkind von dir hüten lassen will, Lob und Zuwendung von dir einfordert, ihre Macht zur Schau stellt oder ihre Telefonate während der Stunde erledigt.

Manchmal kommt es sogar vor, dass ein Psychotherapeut eine sexuelle Beziehung mit seinem Gegenüber aufnimmt oder auch nur zulässt – das ist nicht nur ein Behandlungsfehler, sondern eine gravierende Straftat; in aller Regel endet diese dramatisch für die Patientin!

Abstinenz muss anderseits aber nicht ausschließen, dass deine Therapeutin dich berührt, dich in den Arm nimmt, wenn du Trost brauchst, oder dir hilft, freier zu atmen, indem sie auf deinen Brustkorb drückt. Wir Psychotherapeutinnen haben manchmal zu viel Angst davor, einfach nur menschlich zu reagieren, und merken gar nicht, wie sehr unser Gegenüber dies als Abwertung, als Zurück- oder Zurechtweisung erfährt.

Eine Patientin mit langjähriger und vielfältiger Therapie-Erfahrung hat einmal vor einer Gruppe von Behandlern geklagt: Ist es denn so furchtbar für euch Therapeuten, uns Patienten einfach mal in den Arm zu nehmen? Sind wir denn aussätzig!? Seht ihr nicht, wie sehr wir eure Zuneigung brauchen, weil wir uns selbst nicht lieben können?

 

Gegenseitiges Lernen

Und nicht zuletzt bedeutet Psychotherapie als Begegnung, dass deine Therapeutin auch von dir lernt! Sie muss sich auf dich, dein Sosein, dein Weltbild, deine Geschichte, deine Grenzen einlassen. Im positiven Fall ist sie bereit, mit dir zusammen einen unbekannten Weg zu suchen, zu erfinden und zu gehen. Außer dem sicheren Rahmen stellt sie dir dann zur Verfügung

· ihr Wissen über theoretische Zusammenhänge und über hilfreiche Behandlungsmethoden,

· ihre Erfahrung mit vielen anderen leidenden Personen und

·  ihre Fähigkeit und Bereitschaft, dich auf deinem individuellen Weg zu begleiten.

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

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Hoffnungslosigkeit (Philosophie) – Bedeutung & Merkmale

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Risiken der Exposition