KRITIK AN DER OFFIZIELLEN PSYCHOTHERAPIE #4 – WIE ICH ES SEHE
Heilung – der gemeinsame Weg
In diesem Beitrag möchte ich zusammenfassen, was die auf www.mindroad.de vertretene Grundhaltung besser macht als die der offiziellen Richtlinien-Psychotherapie. Mit einigen Beispielen veranschauliche ich den Unterschied zur offiziellen Sichtweise.
Du findest hier zudem zwei Audio-Dateien, in denen ich in Kurzform versuche zu beschreiben, was für mich Psychotherapie ist, und zwar …
o einen Beitrag für Hilfesuchende sowie
o einen Beitrag für Psychotherapeutinnen, psychiatrisch tätige Pflegekräfte und Psychiater und für interessierte Laien und Betroffene.
Leiden und Symptome
Leiden-an-sich und Leiden-am-Anderen (Leiden-am-Du)
Das Leiden betrachte ich nicht als Störung, die im gesellschaftlichen Auftrag zu beheben ist. Die Symptome des Hilfesuchenden werden vielmehr als Anzeichen dafür betrachtet, dass der Patient sich in einer für ihn ausweglosen Situation befindet. Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Leidens gerade an dieser Stelle des Lebens: Warum tritt es gerade jetzt auf? Auf welchen inneren oder äußeren Konflikt weist es hin? Enthält es einen Sinn, eine Botschaft, einen Appell?
Neben dem Leiden-an-sich – den oftmals quälenden Symptomen wie Angst, Panik, Traurigkeit, belastenden Zwängen, psychosomatischen Beschwerden – betrachten wir auch das Leiden-am-Anderen: Fast alle Patientinnen erleben sich wegen ihrer Erkrankung als anders, unnormal, minderwertig und sozial ausgeschlossen; sie schämen sich und versuchen, ihre Symptomatik zu verstecken, und isolieren sich infolgedessen noch mehr.
Deshalb reicht es nicht aus, die Symptome zum Verschwinden zu bringen; ebenso wichtig ist, den verloren gegangenen Kontakt zu den Mitmenschen wieder aufzubauen. Dazu bedarf es der Unterstützung und Ermutigung, zumal oftmals ein Weiter-so wie vor der Erkrankung nicht mehr möglich ist: Beziehungen müssen verändert werden, äußere Bedingungen den neu erkannten Bedürfnissen angepasst, neue Verhaltens- und Denkweisen erlernt, Regeln neu definiert, Gewohnheiten und soziale Rollen ersetzt, Gewichte neu verteilt werden. Nicht immer reicht es aus, sich neu anzupassen; oft ist es vonnöten, anzuecken, unbequem zu sein, zu rebellieren. Das ist für den Patienten neu und verunsichernd.
Symptom als Signal
Wir haben uns darin trainiert, ein seelisches oder körperliches Symptom als Hinweis auf eine Krankheit zu verstehen, welche diesem zugrunde liegt. Ein Symptom verweist also stets auf etwas vermeintlich Schlechtes, Störendes und sollte zusammen mit der Krankheit weggemacht werden:
Wenn ein Lehrer Kopfschmerzen hat, nimmt er eine Tablette. Kopfschmerzen sollte es nämlich nicht geben, sie sind eine Störung. Eine Partnerin, die beim Geschlechtsverkehr Schmerzen hat, weil ihre Scheide zu trocken ist, nimmt vielleicht ein Mittel, das Vaginal heißen könnte oder Lubriflux und schön flutschig klingt. Eine Frau mit einer wiederkehrenden Depression hat erneut Symptome; also geht sie zum Psychiater, um sich diese mit einem Antidepressivum wegmachen zu lassen.
o Beispiel 1 – der Lehrer: Aber könnte es nicht sein, dass die Kopfschmerzen des Lehrers einen Sinn haben? Wenn er sich genauer beobachtete, würde er etwa bemerken, dass die Kopfschmerzen immer nur nach dem Unterricht im Klassenraum der 7 c auftreten, und er würde sich fragen, was vielleicht mit dem Raum nicht stimmt: Es könnte bspw Ausgasungen geben, oder die CO2-Konzentration ist zu hoch. Oder er würde überlegen müssen, warum er im Kontakt mit einer bestimmten Schülerin so angespannt ist: Sie kleidet sich vielleicht aufreizend, und er weiß nicht, wohin er gucken kann. Vielleicht hat er auch vor ihrem Vater Angst, seit dieser ihn bei einem Elternabend massiv beschimpft und beim Direktor angeschwärzt hat. Der Direktor hatte sich ihn zur Brust genommen, statt sich hinter ihn zu stellen.
Der Lehrer kann jetzt vielleicht lernen, dass seine Symptome eigentlich Signale sind, welche ihn auf etwas hinweisen, zB: Immer wenn ich mich überfordere (oder eine Aufgabe, ein Schüler … mich überfordert), bekomme ich Kopfschmerzen. Dann muss und kann ich etwas ändern!
o Beispiel 2 – die Ehefrau: Die Frau, die Schmerzen beim Sex hat, würde möglicherweise feststellen, dass nicht die Trockenheit ihrer Scheide das eigentliche Problem ist, sondern dass die Liebe zwischen ihr und ihrem Mann in den letzten Jahren irgendwie eingetrocknet ist.
Die Partnerin zieht nunmehr diese Schlussfolgerung: Meine Scheide zeigt mir an, ob ich mich in meiner Partnerschaft gerade wohl fühle oder ob ein schwelender Konflikt zu lösen ist. Also ist nicht Vagisan die Lösung, sondern ein Gespräch mit meinem Mann oder eine Paartherapie!
o Beispiel 3 – die depressive Patientin: Eine Patientin wacht eines Morgens völlig niedergeschlagen auf. Ihr fehlt jeglicher Antrieb, obwohl sie gut und lange geschlafen hat. Sie kennt das, vor Jahren hatte sie eine schwere Depression. Früher hätte sie Angst gekriegt, weil sie sich gesagt hätte: Jetzt geht das schon wieder los! Was stimmt mit mir schon wieder nicht? Die Therapie hat überhaupt nichts gebracht! Es wird nie wieder gut werden!
Heute sieht sie aber – das hat sie in der Therapie gelernt – in ihrer Depression ein Signal, einen Hinweis: Ich habe offenbar wichtige Gefühle nicht zum Ausdruck gebracht. Ich habe meine Wut darüber zurückgehalten, dass meine Verwandten sich einfach zur Familienfeier bei uns eingenistet haben. Jetzt hockt die ganze Bagage im Wohnzimmer und wartet darauf, dass ich aufstehe und Frühstück mache! Während sie die letzten Sätze denkt, spürt sie, wie sich Wut in ihr breit macht. Sie ist jetzt ziemlich aufgeregt. Sie weiß, dass sie runtergehen und ein klärendes Wort mit ihrer Sippe sprechen muss. Sie hat Angst davor, aber sie kann das. Heutzutage muss sie ihre Angst und ihr Aufgeregtsein nicht mehr vor den anderen verstecken: Sollen die doch ruhig sehen, dass ich erregt und unsicher und auch wütend bin!
Die therapeutische Beziehung
Die Beziehung zwischen Patient und Therapeutin ist vielfältiger Weise anders und heilsamer als in der offiziellen Psychotherapie. Ich fasse zusammen:
Begegnung
Die Therapeutin sieht ihren Patienten als gleichwertig an, auf gleicher Stufe mit ihr stehend. Er ist in eine Sackgasse geraten, aus der er zur Zeit keinen Ausweg kennt.
Die Erkenntnisfähigkeit der Therapeutin ist nicht größer als die ihres Gegenübers. Vielmehr ist der Patient der wahre Fachmann seiner selbst. Sie respektiert ihn und gesteht ihm seine eigenen Perspektiven zu. Sie ist davon überzeugt, dass eine nötige Änderung am besten dann gelingt, wenn sie dessen Sosein, auch wenn es ihn in dieses Dilemma geführt hat, wertschätzt. Sie bietet ihm einen sicheren Raum, in welchem er experimentieren und auch mal übertreiben kann. Die Therapeutin gewährleistet eine Beziehung, die einen sicheren Rahmen auch für eine stützende und Halt gebende emotionale Begegnung darstellt. Sie stellt ihr fachliches Wissen und ihre Erfahrung in der Anwendung von konkreten Methoden zur Verfügung; sie ist aber in der Lage, von ihrem Vorhaben und ihrer Sichtweise abzurücken, wenn sie bemerkt, dass diese nicht erfolgversprechend sind.
Wenn die Behandlung mal ins Stocken gerät, sucht sie mit dem Hilfesuchenden gemeinsam nach neuen Wegen, ohne ihn mittels beschuldigenden Zuschreibungen oder einer verschärften Diagnose zu bestrafen. Sie ist mutig darin, gemeinsam mit dem Patienten auch ihr eigenes Verhalten und den methodischen Ansatz in Frage zu stellen und gegebenenfalls zu ändern.
Emanzipation
Psychotherapie soll ermutigen, einen eigenen Weg zu finden oder zu erfinden. Manchmal sind vorgegebene Wege, also Methoden, hilfreich. Oft stehen aber am Ende einer Behandlung nicht Wieder-Anpassung oder Ent-Störung, sondern eine eigene Lösung, die vielleicht kreativ, unangepasst, ungehorsam und mitunter auch ein wenig ver-rückt ist, d. h. nicht der Norm entsprechend.
Es geht darum, sich zu befreien: von lebensfeindlichen Regeln und Gewohnheiten, von Normen, von Ansprüchen anderer, von krankmachenden Bedingungen auf der Arbeit. Aber immer beginnt diese Entwicklung damit, dass sich die Patientin von ihrem Therapeuten emanzipiert! Denn wo sonst, wenn nicht in dem sicheren Experimentierraum der therapeutischen Beziehung selbst, kann Emanzipation eingeübt werden?
Stellen wir uns einmal vor, ein Therapeut sagt zu seiner Patientin: Um gesund zu werden, müssen Sie sich von Ihrem Mann trennen! (Meist werden solche Empfehlungen nicht so direkt, sondern durch die Blume gegeben.) Es kann durchaus sein, dass der Therapeut Recht hat; vielleicht ist es für die Patientin wichtig, sich zu emanzipieren. Um den Duden zu zitieren: Es gilt für sie vielleicht nicht nur, sich aus ihrer Rolle gegenüber ihrem Gatten zu befreien, sondern darüber hinaus, sich zu lösen aus den Fesseln des Herkommens, der Weltanschauung, von Vorurteilen usw.[1]
Und jetzt kommt’s:
Als allererstes sollte sie lernen, aus ihrer Rolle der gehorsamen Patientin gegenüber dem Therapeuten herauszutreten. Wie gesagt: Der Therapieraum sollte ein sicherer Experimentierraum für sie sein: Sie haben gesagt, dass ich mich von meinem Mann trennen muss, wenn ich gesund werden will. Ich fühle mich dadurch von Ihnen unter Druck gesetzt! (Klar, wenn eine Patientin es schafft, so etwas zu sagen, braucht sie vielleicht gar keine Therapie …)
Ich hoffe, dass jetzt ihr Gegenüber nicht schnippisch reagiert oder auf seiner Sichtweise (seiner Analyse, seiner Diagnose, seinem Behandlungsplan …) beharrt. Vielmehr sollte er sich freuen, sich mit der Patientin freuen, dass sie es geschafft hat, sich von ihm zu emanzipieren!
Emanzipation als therapeutischer Zweck bedeutet also, nicht nur die Symptome loszuwerden, sondern auch:
o sich von einengenden sozialen Rollen zu verabschieden (Rollen wie zB: der Helfer, die Vermittlerin, der Starke, die Selbstlose …);
o sich von krankmachenden Regeln zu lösen (Sei bescheiden! Du bist nicht so wichtig! Falle nicht auf! Iss deinen Teller immer leer! Du bist ungeschickt! Hüte dich vor Frauen! Die wollen dir nur ein Kind andrehen!);
o sich zu wehren gegen Ausbeutung und Grenzüberschreitung (Stopp! Hör auf damit! Nein, ich möchte nicht schon wieder am Wochenende Überstunden machen!);
o Ge- und Verbote zu überprüfen (Dass Sie meine Chefin sind, gibt Ihnen nicht das Recht, mir zu verbieten, mit meiner Kollegin befreundet zu sein!)
o Wenn eine Patientin gerade lernt, sich zu emanzipieren, kann es sein, dass sie manchmal übers Ziel hinausschießt. Der Psychotherapeut sollte ihr dabei helfen, das richtige Maß (wieder) zu finden. Und manchmal sollte er bereit sein, ihr Sparringspartner zu sein – und das heißt, dass er ab und zu auch mal etwas „abkriegt“!
Erkennen und Handeln
o Gemeinsame Wahrheit: In früheren Beiträgen habe ich begründet, dass es überhaupt keine erkenntnistheoretische oder ethische Grundlage für den Glauben gibt, die Therapeutin wisse genau über Leiden, Genese des Leidens, die richtigen Behandlungsmethoden, die Prognose und den Therapiefortschritt Bescheid. Statt des Paradigmas des Wissens habe ich für eine gemeinsame Wahrheitsfindung plädiert.
o Unvorhersehbarkeit und Behutsamkeit: Die Behandlungsmethoden, so habe ich weiter argumentiert, ergeben sich in meiner Sicht nicht aus empirischen Untersuchungen, sondern aus dem gemeinsamen Prozess zwischen Psychotherapeut und Patientin. Der Therapeut muss dabei auf sein Wissen, seine Erfahrung, seine Methodenkompetenz überhaupt nicht verzichten. Statt aber ins Behandlungs-Paradigma verstrickt zu sein, ist er sich der Tatsache bewusst, dass alle seine Interventionen zu völlig unvorhersagbaren Resultaten führen. Deshalb geht er behutsam vor und vergewissert sich immer wieder im Gespräch mit der Patientin über die Wirkungen seines Tuns. Er weiß, dass alles, was er denkt, sagt und tut, sich zu Tat-Sachen – also tatsächlichen Effekten – verselbständigt, die weit über das von ihm Beabsichtigte und Wahrnehmbare hinausgeht.
o Vorrang des „sicheren Bodens“: Konfrontative Techniken (Bewirken starker emotionaler Reaktionen) wendet er nur so weit an, wie er sich von der Festigkeit des therapeutischen „Bodens“ versichert hat. Die therapeutische Stützung ist also immer vorrangig gegenüber dem therapeutischen Impuls.
o Bewertung des Therapie-Erfolgs: Gegen Ende der Therapie verlässt sich die Therapeutin bei der Frage des Therapie-Erfolges mehr auf die Äußerungen des Patienten und auf die gemeinsame Bewertung als auf standardisierte Fragebögen.
[1] vgl. Duden – das Herkunftswörterbuch, Stichwort emanzipiert