In der Depression – Die Verfremdung der Lebenswelt

Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen

Depression: Verfremdung der Lebenswelt

In der Depression verändert sich der Welt- und Selbstbezug eines Menschen fundamental.

Dabei spielen Gefühle eine besondere Rolle.

Die Entrückung der Welt

Eines der rätselhaftesten Dinge, die in einer Depression geschehen, ist die unmerkliche, aber allmählich fortschreitende Veränderung der Art und Weise, wie ich die Welt sehe und auf sie eingestimmt bin.

Depressionen erzeugen eine verfärbte bzw farblose Perspektive. Viele Betroffene sprechen von einem grauen Schleier, der alles unmerklich umhüllt. Oder von einer unsichtbaren Wand, die sie von der Welt und anderen trennen. Einige sprechen von einem Gefühl, von der Umwelt abgeschnitten zu sein.

Im Grunde, sind das alles keine bloßen Metaphern, sondern eine erlebnisnahe Erklärung, was in einer Depression passiert. Depressionen verändern nicht ein paar Gedanken oder Gefühle. Depressionen verändern meine wesenhafte Erfahrungsstruktur: den Rahmen, in dem ich denken, fühlen und wahrnehmen kann.

Mein Denken und Empfinden im Alltag – das ich gar nicht bewusst in Frage stelle, weil es so selbstverständlich ist, das den Hintergrund meines Erfahrungshorizontes bildet – verläuft sich immer mehr ins Negative.

 

Verfremdung der Lebenswelt in der Depression

 

In der Depression wandelt sich meine vertraute Lebenswelt zu einer fremden, unsicheren Dimension. Die Selbstverständlichkeit ist weg.

Ich fühle mich nicht als Teil dieser Welt voller Sinnlosigkeiten. Gerade darum fällt es mir als Betroffene auch schwer, Worte für diese Unwirklichkeit zu finden. Sie ist so fundamental unterschiedlich zur Alltagswelt, dass sie Denken und Sprache un-fassbar erscheint.

Bitte nicht mit psychotischen Zuständen verwechseln. Es geht hier um den motivationalen, affektiven Weltzugriff, nicht um Halluzinationen. vgl. auch: Depression: gestörtes Zeitgefühl – Zeitverlust oder Stillstand

Tatsächlich beschreiben viele Betroffene eine unterschwellige Surrealität, die Wahrnehmung wirkt dumpf und alles irgendwie fern und unzugänglich. In der Depression wandelt sich das Erleben von Wirklichkeit und Bedeutung auf radikale Art und Weise.

 
Die Seele ist ganz unten” - die Depression ist für mich wie das Gefühl in einer Luftblase auf dem Grunde des Meers zu sinken, der Druck um mich herum wird immer größer, doch ich habe noch immer genug Luft zum Atmen. Ich kann nicht entweichen, wenn ich entweiche, werde ich untergehen.
— Andrea Kaltofen
 
Transformation existenzieller Gefühle

Transformation existenzieller Gefühle

Gemäß Matthew Ratcliffe (7) verändern Depressionen die existenziellen Gefühle von Betroffenen.

Ein Wandel der Grundgefühle, als Grundlage meines Zugangs zur Welt und ihrer Bedeutung, bringt einen Wandel in Wahrnehmung, Verhalten, Fühlen und Denken mit sich. Der Möglichkeitsraum deformiert sich und nimmt verfremde Bedeutungsformen an.

Die Optionen von depressiven Menschen, zu denken, zu handeln und überhaupt zu erleben, sind nach diesem Ansatz krass reduziert – zumindest einseitig reduziert.

Ich kann in einer Depression schlicht und ergreifend bestimmte Bezüge nicht mehr herstellen, weil ich mich in einem anderen Modus des Weltzugriffs befinde.

 

Unheimlich ist vor allem der Aspekt…

dass ich ein Bewusstsein davon habe, dass mir etwas abhanden gekommen ist. Ich weiß als Mensch mit Depressionen, dass etwas Wesentliches verloren ist.

Etwas, das ich zum Leben brauche, wie die Luft zum Atmen.

Doch ich kann es nicht benennen, nicht geistig fassen, nicht definieren…ich kann nur erleben, wie schrecklich es ist, diese verlorene Essenz nicht mehr zu erfahren.

 

Fundamentale Selbst- & Weltentfremdung 

Ratcliffe schreibt von einer Verarmung des Hintergrundsinnes, einer Reduzierung von Erfahrungsqualitäten. Besser verständlich wird das Gemeinte, wenn man sich verdeutlicht, wie Gegenstände und Menschen unter “normalen” Umständen wahrgenommen werden.

Sie sind für mich wirklich, weil ich sie nicht nur sinnlich erfasse, sondern unmittelbar mit ihren Möglichkeiten und Bedeutungszusammenhängen.

Die Welt ist quasi wie ein Spielfeld, mit einer Fülle an Aktionen, Reaktionen und Begebenheiten, die mir offen stehen. Das unterscheidet sie wesentlich von einer bloßen Ansammlung von Dingen.

Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn sind miteinander verbunden.

Anders in der Depression: Fällt der Möglichkeitssinn weg, verwandelt sich meine Welt in etwas ungreifbares, irreales. Damit verliert sich für mich auch eine spezifische Zugriffsmöglichkeit auf die Welt. Sie wird sinnlos und bedeutungslos. Und damit unwirklich, genauso wie ich selbst als Person.

An Depressionen zu leiden, heißt: sich plötzlich in einem Leben zu befinden, das bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten, gewisse Qualitäten des menschlichen Erlebens, gar nicht mehr beinhaltet. 

 
Alles hat eine neue Bedeutsamkeit. Die Umgebung ist anders, nicht etwa grobsinnlich - die Wahrnehmungen sind der sinnlichen Seite nach unverändert – vielmehr besteht eine feine, alles durchdringende und in eine ungewisse, unheimliche Beleuchtung rückende Veränderung.
— Jaspers
 

Depression als Verlust folgender Möglichkeitsarten (Ratcliffe)

  1. Bedeutsamkeitserfahrungen, Sinnerfahrungen (vgl. Anhedonie)

  2. Handlungsrelevanz

  3. Zeitbewusstsein (Sinn für Veränderbarkeit)

  4. interpersonale Zugänglichkeit (Zwischenmenschlichkeit, menschliche Verbundenheit) – Vgl. Depressionen beim Partner: Extreme Folgen für die Beziehung

 

Existenzielle Angst in der Depression

Depressionen gehen sehr häufig mit Angst einher. Als existenzielles Gefühl, das mein Selbst- und Weltverhältnis prägt, bringt die Angst einen extremen Möglichkeitsverlust mit sich, steigert aber auch die Präsenz, die gefühlte Anwesenheit von (negativen) Möglichkeiten.

Der systemische Therapeut Jannis Puhlmann schreibt dazu: “Dort, wo andere Möglichkeiten der Bedeutsamkeit fehlen, breitet sich die Möglichkeit der Bedrohung atmosphärisch in der Lebenswelt aus.” (3)

Es geht im Grunde um die Umkehrung von dem, was allgemein unter Urvertrauen zu verstehen ist. Die Welt wird sinnlos, gefährlich und unberechenbar - wie sollte ich mich hier sicher fühlen können?

Wie soll ich mich Menschen gegenüber verhalten, die mir so fremd geworden sind, dass sie gleichsam als mögliche Bedrohung innerhalb dieser widrigen Welt erscheinen?

Es gibt kein Entkommen. Gedanken, Erlebnisse und Begegnungen sind eingefärbt in eine latent bedrohliche Atmosphäre, voller Gefahren für mein Selbst, die ich nicht bewältigen kann. Siehe Angst erleben – die phänomenologische Struktur der Angst

Vgl. auch: Existenzängste & Sinnkrise – Zur Bedeutung existenzieller Krisen

 
existenzielle Angst Depression

Das gefährdete Selbst

Die externe Bedrohungslage, die mich bedrängt, ist die eine Facette. Die andere das fragile Selbstgefühl: Ich erlebe mich grundsätzlich als unfähig.

Die einfachsten Tätigkeiten fallen mir schwer, mein ganzes Sein ist gelähmt und erstarrt. Ich bin kaum noch zu einer Aktivität in der Lage.

Das alles zeugt davon, dass ich nicht auf mich selbst vertrauen kann. Und damit auf gar nichts mehr, dass mir irgendeine Form von Halt oder Schutz geben könnte.

 

Existenzielle Einsamkeit in der Depression

Viele Betroffenen spüren eine tiefgreifende Vereinsamung in der Depression. Nicht nur ich bin in mir selbst fremd, sondern auch die anderen werden mir fremd. Phänomenologen sprechen in diesem Zusammenhang von De-Intersubjektivität (Resonanzverlust, Verlust der Zwischenmenschlichkeit).

Intersubjektivität spielt bereits bei Husserl eine große Rolle für den Realitätssinn (Transzendenz des Faktischen). Nach Ratcliffe (3) könnte genau das der Punkt bei Derealisationserfahrungen sein.

Ich habe weder ein vertrautes Gefühl für meine Person, noch für menschliche Begegnungen an sich.

 

Verlust der zwischenmenschlichen Bindung

Anstatt wie gewohnt mit anderen Small Talk zu führen, verliere ich in der Depression die leichte Vertrautheit, die ganz grundsätzlich zwischen Menschen besteht.*

*Sensorisch und intellektuell erkenne ich andere natürlich als Menschen und weiß auch, dass ich selbst ein Mensch bin. Doch menschliche Verbundenheit kommt nicht zustande, weil ich wie eine Maschine registriere “Aha, da ist ein Mensch” (intellektueller Analogieschluss), sondern weil ich als belebtes Wesen mit anderen Lebewesen empathisch in Interaktion trete.

Grundlegende Erfahrungshorizonte als vorstellbare und mögliche Erfahrungen sind mir in der Depression nicht mehr gegeben. Begegne ich anderen Menschen, eröffnet sich mir nicht das mir bekannte Möglichkeitsfeld zur Interaktion, sondern eine völlig andere Wirklichkeitserfahrung:

Ich bin so wesenhaft anders, dass jede Interaktion unvorstellbar wird (Verlust der zwischenmenschlichen Resonanz). Ich fühle eine Distanz zu den anderen, die sich mir bei jeder Begegnung unmittelbar und schmerzlich aufdrängt.

Vgl. auch Einsamkeit in der Depression – existenziell einsam sein

 

Existenzielle Ohnmacht in der Depression

Selbstbezug und Handlungsvermögen sind eng miteinander verschränkt (1). Die Verbindung bildet der Leib bzw. die Leiblichkeit. Über sie erfolgt der Weltbezug dialektisch: Ich bin als Mensch bewegt und bewege selbst etwas. Die Aktivität ist also grundlegend für mein spezifisch menschliches Sein (7).

Doch auch das veränderte sich in einer Depression fundamental.

Ich kann nicht (mehr)…im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin nicht mehr fähig, einfachste Handlungen auszuführen, gewöhnliche Gedanken zu denken, positiv zu fühlen u.s.w.

Vgl. dazu auch: Korporifizierung des Leibes (körperliche Anzeichen bei Depression)

Ich fühle mich nicht nur gehemmt und versteinert. Ich bin gehemmt, versteinert und (be)schwer(t). So sehr, dass ich nur noch eine vegetative Existenz führe. Als wäre meine Lebenskraft auf die niedrigste Stufe des Seins reduziert.

 

Fazit: Verfremdung der Lebenswelt

Matthew Racliffes Interpretation depressiver Seinszustände hat einen deutlichen Mehrwert gegenüber klassischen psychologischen Darstellungen: Sein Ansatz kommt der Erfahrungswelt betroffener Menschen nach meinem Empfinden weitaus näher.

Sicherlich können seine Schlussfolgerungen nicht das ganze Phänomen “Depression” erklären, aber das sollen sie auch gar nicht.


Quellen:

1) J. Slaby: Matthew Ratcliffes phänomenologische Theorie existenzieller Gefühle. In: Emotionen, Sozialstruktur und Moderne, Wiesbaden 2012
2) Thomas Fuchs: Zur Phänomenologie der Stimmungen. In: Stimmung und Methode, Tübingen 2013
3)Jannis Puhlmann: Depression und Lebenswelt
4) Metzler Lexikon der Philosophie
5) M. Ratcliffe: Existenzielle Gefühle. In: Affektive Intentionalität, 2011
6) Dan Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger, 2007
7) J. Slaby: Existenzielle Gefühle und In-der-Welt-sein. In: Emotionen, Springer, 2019

Dieser Text ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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