Das Gewissen — Definition & Bedeutung
Meine depressiven Episoden sind oft begleitet von einem schlechten Gewissen, das sich zur Scham steigert. Irgendwie fühle ich mich schuldig, wenn ich nicht wie gewohnt teilhaben und beitragen kann, in der Partnerschaft, in der Familie, im Freundeskreis, im Beruf, in der Gesellschaft. Irgendwie habe ich dann ein schlechtes Gewissen. Fast immer. So dass ich schon mal dachte: „Kann man das nicht mal abstellen, das Gewissen mit seinem eindringlichen Ruf?!“
Hier kannst du Dr. Josef Bordat in einem Radiobeitrag zum Thema hören: Das gewisse Etwas: Gewissen als Kern der Person auf Radio horeb.
Gewissen und Normativität
Mir wurde im Zuge der Beschäftigung mit dem Gewissen klar, dass man es zwar nicht abstellen kann – das wäre grundsätzlich auch nicht gut, trotz manch skrupulöser Verstrickung –, dass man es aber bilden kann – und auch muss. Denn das Gewissen selbst ist leer, es ist ein Raum, in dem der innere Prozess stattfinden kann, der zum Urteil über richtig und falsch, gut und schlecht führt.
Das Gewissen ist der Gerichtssaal, sein Mandat der Urteilsspruch, aber die Normen, auf welche dieser und damit jenes sich stützt, denkt sich der innere Richter nicht selbst aus. Das wäre pure Beliebigkeit. Es geht vielmehr um die Verinnerlichung und Anwendung von – möglicherweise subjektiv modifizierten, aber dennoch im Grundsatz anerkannten – objektiven Normen, die für sich genommen einen Wert haben und die man daher zur Geltung bringen will.
Wer in dieser Hinsicht hohe Ansprüche hat, sieht sich öfter vor den Kadi des inneren Gerichtshofs gezerrt.
Also ist es eigentlich ein gutes Zeichen, wenn sich das Gewissen regt. Allerdings muss man von Zeit zu Zeit die objektiven Normen prüfen, nach denen es geformt ist. Es kann nämlich durch bestimmte widrige Umstände – etwa eine Depression – und deren eigene Normativität deformiert werden, so dass es auch dann Alarm schlägt, wenn es eigentlich nicht um etwas Falsches oder Schlechtes geht, sondern lediglich um falsche Erwartungen an das angeblich Gute und Richtige, Erwartungen, denen man nicht gerecht wird (und in einer Depression auch nicht gerecht werden kann).
Ironischerweise erlebe ich mich als jemand, der in den dunkelsten Stunde ganz besonders hohe Ansprüche an sich selbst richtet – jeder kleinste Fehler (ethisch wie epistemisch) wird zur größten Katastrophe. Wenn die von der Depression geprägten strengen Normen zu sehr einengen, reagiert das Gewissen darauf entsprechend sensibel, d.h. bei Nichteinhalten einer dieser „Du sollst“- oder „Du darfst nicht“-Regeln meldet es sich – mit schlechtem Gefühl. Daher dieses ständige schlechte Gewissen.
Ich will noch einmal etwas weiter ausholen, denn der Begriff des Gewissens hat es verdient, näher betrachtete zu werden. Das Gewissen ist schlicht zu wertvoll, um es zu verwerfen, trotz seiner nervenden Angewohnheit, uns dauernd zu mahnen.
Es sollte vielmehr darum gehen, es richtig einzusetzen, was voraussetzt, den Begriff des Gewissens richtig zu verstehen.
Was ist das Gewissen?
(Wortgeschichte)
Um sich der Bedeutung eines Begriffs anzunähern, ist es zumeist hilfreich, sich zunächst die Geschichte des Wortes anzusehen. Die Etymologie ist umso mehr ein Fingerzeig, je vielschichtiger ein Konzept heute gebraucht wird. Es lassen sich so die Spuren zurückverfolgen zu den unterschiedlichen Verwendungskontexten, die den Begriff auf ihre spezifische Art mitgeprägt haben. Das gilt auch für den Begriff „Gewissen“.
Das Wort „Gewissen“ kommt vom althochdeutschen „giwizzani“, aus dem sich das mittelhochdeutsche Wort „gewizzen“ entwickelte. „Giwizzani“ ist eine Lehnübersetzung für den lateinischen Begriff „conscientia“; dieser wiederum ist eine Übersetzung des griechischen „syneidesis“. Das Wort „giwizzani“ taucht um das Jahr 1000 in einer Glosse Notkers III. auf. Notker (Beiname Teutonicus, „der Deutsche“) war ein Benediktinermönch und gilt als einer der Väter der deutschen Sprache. In seinem Kommentar zu Psalm 69, Vers 20 („Du kennst meine Schmach und meine Schande.
Dir stehen meine Widersacher alle vor Augen.“) versucht er, das lateinische „conscientia“ („Bewusstsein“, „Gewissen“; wörtlich: „Mit-Wissen“, „Mit-Wisserschaft“) treffend ins Deutsche zu übertragen.
Den Stamm „wizzani“ nimmt Notker von „wizzan“ („wissen“), die Vorsilbe „gi-“, die später zu „ge-“ wird, deutet einerseits darauf hin, dass es um die Gesamtheit des Wissens gehen soll (so wie „Gebirge“ die Gesamtheit der Berge meint oder „Gewässer“ die Gesamtheit von allem, was Wasser hat oder führt), also ein allumfassendes Wissen im Sinne des „Bewusstseins“ gemeint ist;
andererseits scheint das Präfix auf eine Intensivierung des Wissens hinzudeuten, also darauf anzuspielen, dass das Wissen des Gewissens ein besonders sicheres, klares Wissen ist, ein im Grade gesteigertes, potenziertes Wissen, ein sehr genau gewusstes Wissen (so wie „Gewitter“ eine starke Form von Wetter ist und der „Gedanke“ das Konzentrat des Denkens).
Subjekt und Objekt
– Gewissen im Kontext des Glaubens
Schon vom Wort her lässt sich der Grundkonflikt um das Gewissen als „Mit-Wissen“ erkennen. Womit genau teilt man sein Wissen – mit einem autonomen, sich selbst bestimmenden Selbst (Subjektivismus) oder mit einer heteronomen Ordnung, die dem Selbst als Bestimmungsgröße vorgegeben ist (Objektivismus)?
Gewissen als die Gesamtheit des Wissens deutet eher auf dieses, Gewissen als Intensivierung des Wissens eher auf jenes. Bereits im Wort „Gewissen“ zeigt sich die Brisanz der Auseinandersetzung um die Bedeutung des Begriffs.
Gewissen wird im frühen christlich-abendländischen Denken (ausgehend von Paulus) als von Gott in den Menschen eingestiftete Erkenntnis des Naturrechts verstanden, welches allen Menschen gegeben ist (Christen wie Nicht-Christen) und das auch – so zumindest die katholische Interpretation – von der prinzipiellen moralischen Mangelhaftigkeit (Sündenfall) nicht soweit korrumpiert werden konnte, dass es nicht mehr einsatzbereit wäre.
Es bleibt objektiv bestimmt, da von Gott durchwirkt und von der (Teilhabe-)Vernunft durchdrungen, ist aber subjektiv im Gebrauch, was u. a. bedeutet, dass man als Mensch auch in der Lage ist, den Gebrauch zu verweigern.
Gewissen – wenn es überhaupt eine Bedeutung haben soll – darf niemals nur ein anderes Wort für „Präferenz“ (Subjektivismus) oder für „Norm“ (Objektivismus) sein, sondern muss eine Instanz ausbilden, die zwischen beiden Extremen einen Ausgleich schafft.
Um diese Instanziierung bemühen sich nach der Krise des Gewissens in der Philosophie im 20. Jahrhundert vor allem die Psychologie und die Theologie.
Gewissen als Thema der Psychologie
Nicht nur in Theologie und Philosophie, auch in der Psychologie ist es ein Schlüsselkonzept. Kants Idee einer Selbstbestimmung und Selbstbefragung des Menschen in moralischen Angelegenheiten hat vor allem
die Psychoanalyse (das Verhältnis von Über-Ich und Ich bei Sigmund Freud),
die Entwicklungspsychologie (als die Stimme des Selbst bei Piaget und Kohlberg)
und ferner auch die Soziologie (vor allem Parcons und Luhmann) beeinflusst.
Die Aspekte des Gewissens, die in der Psychologie im Ausgang von Freud angesprochen werden, gleichen denen, die sich aus der Ideengeschichte herausarbeiten lassen: Das Gewissen ist eine unverfügbare, höhere Instanz („Über-Ich“), zugleich aber mit unmittelbarer Bedeutung für mich und meine Persönlichkeit („Über-Ich“).
Vgl. Persönlichkeitsmodelle » Menschenbilder: Freud, Rogers, Perls
Daraus folgt, dass sich in der Psychologie „die lebendige Funktionalität von Gewissen zum einen im Maß der Ich-Treue (Selbstkonsistenz) des Urteils, zum anderen in demjenigen der personalen Relationalität zwischen Selbstbehauptung und Anpassung an bestehende Normen und Ansprüche fassen lässt“, wie Roland Mahler in Gewissen und Gewissensbildung in der Psychotherapie schreibt.
Der Hauptwert psychologischer Gewissenstheorien liegt denn auch darin, damit den klassischen Begriff des zwischen Subjekt und Objekt oszillierenden Gewissens positiv tradiert und für die Ethik konserviert zu haben. Auch die Kompatibilität mit religiösen Deutungen des Gewissens ist ganz deutlich gegeben, etwa bei Jung und Fromm, vor allem aber bei Frankl.
Das Gewissen bei Freud
Sigmund Freud unterscheidet in der Seele des Menschen 3 wirkende Instanzen: das unbewusst-triebhafte Es, das vom normativen Über-Ich autoritär kontrolliert wird, welches seinerseits das Ich als die individuelle, reife Persönlichkeit herauszubilden hilft, dadurch, dass es diesem als zu überwindendes Hindernis im Weg steht und damit in der Negation („Unreife“) eine Orientierung verschafft, die der Reifung der Person Richtung und Ziel vorgibt.
Das Über-Ich, das sich aus elterlichen Vorgaben und gesellschaftlichen Normen konstituiert, ist für Freud aber nicht nur der „Sparringspartner“ der reifenden Persönlichkeit eines Menschen (des Ich), sondern nichts anders als sein Gewissen. Das Individuum entsteht bei Freud also durch Abgrenzung vom Gewissen, durch Überwindung der Forderungen, die es stellt.
Das Gewissen bei C. G. Jung
Diesen Gedanken nimmt Carl Gustav Jung auf, räumt dem „Sparringspartner“ Gewissen aber eine Art „besonderes Rückschlagsrecht“ ein: Will das Individuum sein Gewissen überwinden und damit im freudschen Sinne „reifen“, so ist es das Wesen des Gewissens als unbewusster Teil der Psyche, hier Widerstand zu leisten und sich gegen die bewusste Intention des Menschen zu behaupten. Aufgrund dieser Widerstandskraft, die sich nicht nur gegen den menschlichen Willen und gegen konkrete Handlungsabsichten „durchzuboxen“ weiß, meint Jung, im Gewissen die Vox Dei zu vernehmen, die „Stimme Gottes“.
Das Gewissen bei Fromm
Auch bei Erich Fromm ist das Gewissen zunächst eine Ausdrucksform des Gehorsams gegenüber der elterlichen Autorität im Sinne des Über-Ich, der man gefallen will, die dann aber mit zunehmender Reife im Zuge der Persönlichkeitsentwicklung einer Achtung vor anerkannten moralischen Autoritäten weicht, denen man folgen will.
Das Gewissen bei Frankl
Intensive Studien über das Gewissen hat Viktor Emil Frankl, der Begründer der Logotherapie, angestellt. Für ihn ist die moralische Freiheit ein Ausdruck des menschlichen Lebenssinns, wobei er zwischen einer Freiheit von (etwa von jenen Trieben und Instinkten, die Freud Es nannte) und einer Freiheit zu unterscheidet. Diese Freiheit ist eine Freiheit zum Gewissensgebrauch und zur Verantwortungsübernahme.
Frankls „Vorletztheit“ des Gewissens
Das Gewissen steht für Frankl über dem Menschen (das entspricht Freuds Über-Ich), es ist somit nur im Sinne einer religiösen Bezugnahme erfahrbar, eben weil es als ein das „Menschsein transzendierendes Phänomen“ anzusehen und daher nur „von der Transzendenz her“ zu durchdringen ist, wie er in Der unbewußte Gott. Psychotherapie und Religion darlegt.
Wer dieses Menschenbild betrachte, könne „das Phänomen des Gewissens dann nicht bloß in seiner psychologischen Faktizität, sondern in seiner wesentlichen Transzendentalität begreifen“, was für Frankl entscheidend ist, denn „erst der transzendente Charakter des Gewissens lässt uns den Menschen und lässt uns im Besonderen seine Personalität überhaupt erst in einem tieferen Sinne verstehen“.
Ein „irreligiöse Mensch“ interpretiere daher aufgrund der fehlenden Transzendenzdimension seines Denkens das Gewissen falsch, als „Fakt“, der ihm die letzte Gewissheit über gut und böse gibt. Das aber – und hier wird man vom Juden Frankl an die christliche Position erinnert – sei ein Irrtum: „Der irreligiöse Mensch ist also derjenige, der sein Gewissen in dessen psychologischer Faktizität hinnimmt; derjenige, der bei diesem Faktum als einem bloß immanenten quasi haltmacht – vorzeitig haltmacht, können wir sagen: denn er hält das Gewissen für eine Letztheit, für die letzte Instanz, vor der er sich zu verantworten hat. Das Gewissen ist aber nicht das letzte Wovor des Verantwortlichseins; es ist keine Letztheit, sondern eine Vorletztheit“.
Denn: Ganz oben steht für Frankl der Transzendenzbezug, auch in Fragen der Ethik, die damit der religiösen Orientierung zugewiesen wird – sei diese konfessionell geprägt oder diffus auf das gerichtet, was den Menschen, seine Vernunft und auch die Orientierungsleistung seines Gewissens übersteigt.
Frankl übernimmt damit Freuds Einteilung der Seele in einerseits eine unverfügbare und andererseits eine höchstpersönliche Sphäre, kehrt aber – wie Jung – die Stoßrichtung bei der Gewissens- und Persönlichkeitsbildung um: nicht die Überwindung des Unverfügbaren, sondern dessen verantwortungsbewusste Achtung machen den sinnvollen Gebrauch des Gewissens aus.
Wer den Wert, aber zugleich die „Vorletztheit“ des Gewissens beachtet, kann mit dem eingangs beklagten schlechten Gewissen besser umgehen, vor allem dann, wenn er sich die „Letztheit“ des höheren Lebensziels aktiv vor Augen stellt, wie dies im religiösen Glauben geschieht.