Depression als Krankheitsbild – deskriptiv statt kausal

Eine beschreibende Diagnose von psychischen Krankheiten ist keine kausale Erklärung. Doch der Unterschied scheint weder Patienten noch Fachleuten wirklich klar zu sein. Eine Studie befasste sich mit der Darstellung von Depressionen auf den wichtigsten Gesundheits-Websites und kam zu einem kritischen Ergebnis.

Depressionen sind eine beschreibende Diagnose

Die meisten Diagnosen in der Psychiatrie sind lediglich „Krankheitsbilder“, sie beschreiben nur die Symptome – die Frage nach der Ursache bleibt hier ausgeklammert (vgl. Vom Symptom zur Diagnose – Checkliste Depression). Dennoch werden in den psychopathologischen Fachdisziplinen Diagnosen so vermittelt, als wären sie konkrete Entitäten – also Ursachen.

Das gilt auch für Depressionen. Sie werden so versprachlicht bzw. dargestellt, als wären sie Symptomauslöser (mehr zu dieser Fehlannahme weiter unten im Text). Die Forscher wollten nun wissen, ob und wie die wichtigsten Gesundheitsorganisationen zu dieser falschen Darstellung beitragen.

 

Zirkelschlüsse der Psychiatrie

Diese Verschiebung zwischen den Kategorien nennt man Zirkelschluss: psychiatrische Diagnosen werden oft in einem zirkulären Zusammenhang formuliert, als ob sie die Grundlage für die Symptome wären:

Depressionen sollten als eine ähnliche Diagnose wie Kopfschmerzen betrachtet werden. Beides sind medizinische Diagnosen, aber keine erklärt, was die Symptome verursacht.

Wie Kopfschmerzen sind Depressionen die Beschreibung eines Problems, das viele verschiedene Ursachen haben kann.

Eine Depressionsdiagnose erklärt die Ursache der depressiven Stimmung ebenso wenig wie eine Kopfschmerzdiagnose die
Ursache der Kopfschmerzen.
— Dr. Jani Kajanoja, Facharzt für Psychiatrie
 

Auch Fachleute irren

Diesen Irrtum begehen aber nicht nur Laien, sondern eben auch Fachleute, die bei Gesundheitsinstitutionen tätig sind. Die Forscher widmeten sich den englischsprachigen Internetseiten von renommierten internationalen Gesundheitsinstitutionen. Dabei untersuchten sie diejenigen, welche die größte Reichweite im Internet besaßen – also von den meisten Menschen gefunden und gelesen werden.

Zu diesen Organisationen gehörten u. a.:

  • Weltgesundheitsorganisation (WHO),

  • American Psychiatric Association (APA),

  • National Health Service (NHS) in Großbritannien

  • Harvard- und Johns Hopkins-Universitäten

 

Keine einzige Website machte deutlich, dass Depressionen eine Symptombeschreibung sind

Stattdessen präsentierten sie Depressionen auf ihren Internetseiten als eine Erkrankung, die bestimmte Symptome hervorruft, obwohl das nicht dem offiziellen wissenschaftlichen Konsens entspricht.

Depressionen als eine einheitliche Störung darzustellen, die depressive Symptome verursacht, ist ein Zirkelschluss, der unser Verständnis für das Wesen psychischer Probleme verwischt und es den Menschen erschwert, ihre Not zu verstehen
— Kajanoja

Die Menschen scheinen dazu zu neigen, eine Diagnose für eine Erklärung zu halten, auch wenn sie es nicht ist. Es ist wichtig, dass Fachleute diesen Irrglauben durch ihre Kommunikation nicht noch verstärken und den Menschen stattdessen helfen, ihren Zustand zu verstehen“, betonte Professo Valtonen (University of the Arts Helsinki).

 

Was sind denn jetzt Depressionen?

Im Grunde Zustandsbeschreibungen, nicht mehr und nicht weniger. Bleischwere Beine, das Gefühl der Abgestorbenheit, Dissoziationen und Ängste sind keine Symptome der Depression. Vielmehr sind sie die Depression selbst. Depressionen entfalten sich in Depressionssymptomen.

D. h. Depressionen existieren nicht unabhängig von ihren Symptomen. Ein Knochenbruch bleibt ein faktischer Knochenbruch, selbst wenn er keine Schmerzen, Schwellungen etc. hervorruft. Doch Depressionen gibt es ohne ihre Symptome nicht.

 

Eine Ursache der Problematik:

Die Heterogenität von Depressionen

Depressionen kommen nicht in Reinform vor. Zwar existieren die sogenannten Hauptsymptome (wie Traurigkeit, Anhedonie, Antriebslosigkeit) und weitere Beschwerden (Selbstmordgedanken, Verlust des Selbstwertgefühls, Ängstlichkeit usw.), trotzdem ist das Krankheitsbild extrem vielfältig.

Die Ausprägung der Erkrankung variiert von Person zu Person – und das oft sehr stark:

(vgl. Depressionsarten und Depressionssymptome)

  • bei manchen Menschen treten Depressionen einmalig auf

  • gleichzeitig kämpfen viele Betroffene mit wiederkehrenden depressiven Episoden (vgl. rezidivierende depressive Störung)

  • Auch können Depressionen chronisch verlaufen

  • Depressionen sind ebenso Bestandteil anderer psychischer Erkrankungen (z. B. PTBS, Psychosen)

„So gibt es nach den Vorgaben des DSM-5 und den Gesetzen der Kombinatorik nicht eine ›Major Depression‹, sondern mindestens 227 mögliche Varianten. Aufgrund dieser Heterogenität kann die betreffende Diagnose theoretisch an 2 Personen vergeben werden, die nur ein einziges, in ihrer subjektiven Wahrnehmung womöglich sogar nebensächliches Symptom gemeinsam haben.“ (3)

 

Das Störungsbild der Depression

Was sind Störungsbilder?

Krankheitsbilder / Störungsbilder sind (in der psychiatrischen Medizin) eine Beschreibung von Symptom-Gruppen, die zusammen auftreten und eine spezifische Krankheit charakterisieren. Ein Störungsbild wird für gewöhnlich nach festgelegten Kriterien in Diagnosemanualen klassifiziert. Diese definierten Merkmale sind jedoch keine naturwissenschaftlichen Erklärungen.

Auffällig ist, dass viele verschiedene Störungsbilder sich symptomatisch überlappen. Weiterhin gibt es für psychische Störungen kein anerkanntes Modell, das Ursache (Ätiologie) und Verlauf (Pathogenese) erklären kann.

(Vgl. meine Anmerkungen zum Vulnerabilitäts-Stress-Modell)

 

Depressionsbeschreibungen sind Konstrukte

Störungsbilder sind nicht endgültige oder absolute Darstellungen von psychischen Krankheiten. Sie sind keine Abbilder der Realität, sondern eine vorläufige Beschreibung, die uns helfen soll, das seelische Leiden zu verstehen.

(Vgl. Philosophie und Psychologie: Was ist psychische Krankheit?)

Diese Beschreibungen müssen stets unvollständig sein, weil es noch viele Dinge gibt, die wir über diese Krankheiten nicht wissen oder niemals wissen werden.

Doch diese Unvollständigkeit / Unbestimmtheit / Offenheit im Krankheitsbild Depression wird leider oft übersehen, nicht verstanden oder schlichtweg ignoriert.

Und so kommt es, dass nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Fachkreise Depressionen als ontologische Existenzen missdeuten.

 

Klassifikationssysteme fördern Missverständnisse

Der Irrtum, dass psychische Störungen feste und eindeutig abgrenzbare Krankheiten wären, wird vor allem durch Klassifikationssysteme verstärkt. DSM und ICD teilen psychische Störungen in Kategorien ein und erwecken dadurch die Vorstellung, dass diese Störungen wirklich feste und eigenständige Einheiten sind, die sich eindeutig von gesundem Verhalten und anderen Störungen unterscheiden.

Zudem wird suggeriert, dass diese Störungen eine gemeinsame grundlegende Ursache hätten: Psychologie und Psychiatrie streben nämlich seit vielen Jahren danach, sich mit der traditionellen Medizin zu verbinden. Deshalb suchen viele Fachleute nach biologischen Ursachen für psychische Störungen (– selbstverständlich gibt es noch weitere Gründe für die Popularität des Biologismus).

Vgl. auch: Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn

 

Fazit: Krankheitsbild Depression

Wenn es um das Sprechen über Depressionen geht, wird meist so formuliert*, als ob es sich um eine fest umrissene Krankheit handelt, ähnlich wie eine Infektion oder einen Knochenbruch.

Doch bei psychiatrischen Diagnosen ist das nicht ganz richtig. Depressionen sind ihre Symptome, sie sind keine verborgene Wesenheit, die sich hinter den Symptomen verstecken.

*Das ist sprachlich durchaus tricky, auch ich habe auf diesem Blog immer wieder Formulierungen genutzt, die dieses Missverständnis provozieren …mea culpa!!! Ich verspreche diesbezüglich Besserung.

Es geht noch weiter: Obwohl die aktuellen Leitlinien und Theorien ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell vertreten, neigen Fachleute dazu, den biologischen Ursachen mehr Gewicht zu geben als anderen Faktoren.

So vernachlässigen sie häufig, die persönliche Erfahrung der Betroffenen in ihrer Tiefe und Einzigartigkeit zu reflektieren. Ebenso übersehen sie, welchen Einfluss soziale und kulturelle Faktoren auf die Ausbildung und Ausprägung der Symptome haben können.

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Das ist ein echtes Problem!

Schließlich entwickeln sich Depressionen nicht im menschenleeren Raum. Soziale und kulturelle Faktoren beeinflussen immer und ohne Ausnahme, wie Symptome auftreten und wahrgenommen werden.

Vgl. diese Studie zu Lebenslagen seelisch beeinträchtigter Menschen in München mit vielen interessanten Erkenntnissen, die leider kaum bekannt sind.


Quellen:

1) Psylex.de (plusartikel) – Quellenangabe: Psychopathology (2024). DOI: 10.1159/000538458
2) Jani Kajanoja, Jussi Valtonen; A Descriptive Diagnosis or a Causal Explanation? Accuracy of Depictions of Depression on Authoritative Health Organization Websites. Psychopathology 2024; https://doi.org/10.1159/000538458
3) Josua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi: Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand. Epistemologische Prämissen, epidemiologische Daten, transdisziplinäre Implikationen. In: das überforderte Subjekt

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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