Deflexion- die 3. Fallgrube unserer Kultur

 

Rückblick: Introjektion, Retroflexion

Rufe dir diese Abfolge nochmals ins Gedächtnis:

  1. Wir verinnerlichen (viel zu viele sowie schädliche) Regeln, Werte, Glaubenssätze etc (= Introjektion).

  2. Um nicht gegen diese Introjekte zu verstoßen, müssen wir Bedürfnisse, Gefühle, Impulse, Körperreaktionen, Ideen, Gedanken etc. retroflektieren, also zurückhalten; dies hat quasi automatisch zur Folge, dass wir diese gegen uns selbst richten.

  3. Wenn wir ständig mit diesen Prozessen beschäftigt wären, würde uns das sehr erschöpfen und frustrieren. Unser Gehirn ist aber klug und effektiv: Wenn anhaltend etwas Belastendes geschieht, ohne dass wir es abstellen können, schiebt es den ganzen Vorgang in irgendein unbeleuchtetes Stübchen und macht die Tür zu. Damit „der Gefangene“ nicht raus kann oder von Neugierigen aufgestöbert wird, stellt es Wächter vor den Kerker. Diese Wächter können ganz unterschiedliche Gestalten annehmen, die allesamt die Aufgabe haben, so zu tun, als ob es dieses Stübchen gar nicht gäbe. Diesen Vorgang nennt man Deflexion - darum geht es in diesem Beitrag.

 


Was ist Deflexion?

Wenn eine Person deflektiert, lenkt sie sich selbst – und Andere – von etwas ab, was eigentlich sehr wichtig für sie ist.

Stell dir vor: Statt endlich dem geliebten Menschen die eigenen Gefühle zu gestehen, ziehst du durch die Gemeinde und besäufst dich. Oder du guckst rührselige Filme an und kannst beim Happy End so richtig losheulen. Für dein eigenes Happy End tust du aber nichts …


Ich bin gerade nicht zuhause …

Deflexion ist so, als wäre bei dir drinnen irgendwie „keiner zuhause“, oder dir fällt plötzlich ein, dass du noch Blumen pflücken könntest – das langersehnte Ziel aber verlierst du gänzlich aus den Augen, obwohl es zum Greifen nahe ist.

(Bild: Canva/ MM)


Wenn der führende Läufer kurz vor dem Ziel niederkniet, die Konkurrenten an sich vorbeiziehen lässt und so auf seine Medaille verzichtet, um dir einen Heiratsantrag zu machen, wäre das schon eine Riesen-Aktion, die vielleicht dein Herz erweicht, so dass du ihn erhörst.

Dabei handelte es sich jedoch nicht unbedingt um schädliches Deflektieren; denn der Läufer verzichtet ja bewusst und willentlich auf das eine Ziel (Medaille), um ein viel wichtigeres zu erreichen (dich!).

Boykottierst du dich selbst?

Wenn aber ein Mensch immer wieder kurz vor Erreichen eines wichtigen Ziels stehenbleibt und „Blümchen pflückt“, boykottiert er sich auf diese Weise selbst. Diesen Selbst-Boykott bemerkt er aber genau deshalb nicht, weil die verschiedenen deflexiven Strategien, die du gleich kennen lernen wirst, sehr effektive Wächter sind.

(Bild: Canva/ MM)

Zweck dieser Strategien ist es nämlich, unempfindlich für das krankmachende Introjizieren und Retroflektieren zu werden, so dass diese ungehindert ablaufen können.

Auch bei der Deflexion gilt: Ein bisschen davon ist notwendig, damit nicht alles, was passiert oder geschehen könnte, in dir riesengroß wird und dich lähmt. Aber wenn Deflexion dich daran hindert, dich mit lebenswichtigen Dingen zu beschäftigen, schadet sie dir.

Welche Deflexionen gibt es?

Ich erzähle dir einfach mal von verschiedenen Leuten in meiner Praxis, die das Deflektieren richtig gut konnten. Findest du dich darin wieder?

Da wäre zunächst …

 

Die Hypnotiseurin

Hilda hat die Angewohnheit, ohne Punkt und Komma zu reden. Wenn sie Personen einführt, die nur am Rande mit dem zu tun haben, was sie eigentlich zu sagen hat (oder hätte, wenn es ihr bewusst wäre …), erzählt sie deren ganze Lebensgeschichte, führt deren Familienstammbaum auf. Wenn sie von einem Café berichtet, in dem ihr etwas Bedeutsames mitgeteilt wurde, zählt sie erst einmal die Reihe der Betreiber auf, erzählt von den Schulproblemen des ältesten Kindes der jetzigen Besitzerin usw. Sie kommt und kommt einfach nicht auf den Punkt.

Anfangs wartest du als freundliche Zuhörerin noch auf das Wichtige, das sie ja angekündigt hat.
Zunächst wirst du müde, kannst dich nicht mehr konzentrieren. Dann spürst du eine Unruhe in dir, deine Beine kribbeln, deine Ohren klingeln, du kannst nicht mehr folgen, und schließlich wird dein Gehirn ganz bregenklütterig (wie wir im Norden zu einem „Matschgehirn“ sagen). Du schaltest dann ab, schläfst ein oder stellst innerlich die Einkaufsliste für morgen zusammen.
Am Ende bescheinigt dir Hilda aber noch, dass es ganz toll war, dass du so aufmerksam zugehört hast …

 

Der Reporter

Vor vielen Jahren hat mir ein Mann – seinen Namen habe ich vergessen – von seiner Zeit in der Fremdenlegion erzählt. Er berichtete mir sehr ausführlich, wie er mit seinen Leuten Dörfer von Einheimischen zerstört und die Bewohner äußerst brutal niedergemetzelt hat. Ich möchte das nicht in allen Einzelheiten wiedergeben, weil es auch für mich sehr belastend war. Einerseits gab er glaubhaft an, an heftigsten Schuldgefühlen, flash backs und vielen weiteren psychischen und körperlichen Symptomen zu leiden. Andererseits war seine Vortragsweise völlig sachlich und ohne sichtbare emotionale Bewegung. Sein Gehirn hatte offenbar „beschlossen“, jegliche emotionale Verbindung zu diesen Erinnerungen zu kappen.
Ich war entsetzt und teilte ihm dies auch mit. Ohne eine solche Ehrlichkeit wäre mir eine Therapie mit ihm nicht möglich gewesen. Dieser Patient erschien allerdings nicht zu weiteren Sitzungen und versuchte, wie ich später hörte, sein Problem mit Alkohol zu „lösen“. (Ich weiß weder, ob ich mit ihm hätte arbeiten können, noch, ob man eine solche Schuld wirklich bearbeiten kann.)

 

Die Unsichtbare

Solche Menschen habe ich oft – nicht nur in Therapien – erlebt: Unsichtbare können sehr gesellig sein, emotional aufgeschlossen, an Anderen interessiert, nachfragen, Empathie und Zuneigung zeigen. Mit solchen Menschen kannst du dich wunderbar und tiefgehend unterhalten. Du fühlst dich wahrgenommen und ermutigt, dich zu öffnen.
Nach der Begegnung hast du das Gefühl, dass ihr einander nahegekommen seid – bis du dir dann die Frage stellst:

Habe ich eigentlich etwas von ihr erfahren??

Beate war eine solche Frau. Sie war eine sehr gute Freundin aus meiner Düsseldorfer Zeit. Es war schön, mit ihr zusammen zu sein. Warmherzig war sie und zugewandt. Jedoch gab sie sich niemals zu erkennen. Niemals erfuhr ich von ihr, was sie selbst in diesem oder jenem Moment fühlte, was ihr guttat, was sie nicht mochte. Alles schien für sie okay zu sein. Sie schien keine Bedürfnisse zu haben, geschweige denn diese auszusprechen. Sie setzte keine Grenzen, wollte niemals etwas anderes als das, was der Andere zu unternehmen vorschlug.
Als ich ihr eröffnete, dass ich nach Lübeck umziehen werde, freute sie sich für mich. Ich weiß bis heute nicht, ob sie traurig war. Oder vielleicht wütend. Wir haben keinerlei Kontakt mehr, und ich weiß nicht einmal, ob ich das wirklich bedauere; denn später wurde mir klar, dass sie trotz unserer Vertrautheit eine Fremde für mich geblieben war.

 

Herr Aberer und Frau Gehtnichtweil

Immer wenn ich Jan aufforderte, einen neuen Schritt auszuprobieren, pflegte er etwa so zu reagieren:

Ja, aber das habe ich schon versucht!
Variante B: Ja, aber das geht nicht, weil …!
Variante C: Ja, aber was bringt mir das?!
Variante D: Ja, aber das ist doch albern!)

Unausgesprochen war bei Jan die Botschaft enthalten, dass das nichts gebracht habe und dass er das deshalb nicht noch einmal probieren müsse.
Ich hätte jetzt auf diesen Zug aufspringen können, indem ich geantwortet hätte: Ja, aber (!) probiere es doch noch einmal!

Zu Anfang meiner beruflichen Karriere habe ich öfters versucht, Aberer zu überreden, meinen Vorschlag anzunehmen und einfach mit mir gemeinsam zu schauen, was passiert. Bei jedem Versuch meinerseits erfolgte ein neues

Ja, aber …!

Irgendwann verstand ich, dass es eine Erinnerung oder ein Gefühl geben musste, an welches auf keinen Fall gerührt werden durfte.

Das Ja, aber …! ist nämlich ein universales und niemals zu widerlegendes Argument, wenn ein Thema im emotionalen Sperrgebiet liegt.

Ich lernte auch, dass dieses Ja, aber …! auf keinen Fall geknackt oder überlistet werden darf; denn als Behandler weiß man nie, welches schlimme Erlebnis möglicherweise „dahinter“ lauert.

 

Eine Fallgeschichte

Mit Jan habe ich mich anfangs verstrickt:
- Du könntest deinem toten Freund einmal einen Brief schreiben und ihm deinen Zorn mitteilen.
- Ja, aber was soll mir das denn bringen?!
- Probiere es doch mal aus!
- Ja, aber das habe ich doch schon gemacht …
- Gibt es denn irgendetwas, was du ihm gerne noch gesagt hättest?
- Ja, aber geht doch nicht, weil er ja tot ist!
- Wir könnten uns gemeinsam vorstellen, dass er dort auf dem Stuhl vor dir sitzt …?
- Ja, aber ich rede doch nicht mit einem Stuhl!

So hätte es ewig weitergehen können. Kurz darauf habe ich kapiert, dass Jan dieses Spiel besser beherrschte als ich, und gab auf.

Also ließ ich von dieser Idee ab, was vermutlich gut war; denn die – verdrängte – Geschichte dahinter war sehr bedrohlich für Jan, so dass er sie nicht allzu abrupt ans Licht seines Bewusstseins gelangen lassen konnte.

Als unsere therapeutische Beziehung sich mehr und mehr gefestigt hatte und zu einem tragfähigen Boden geworden war, konnte er sich allmählich auf eine Begegnung mit dieser unerledigten Geschichte einlassen: Jan hatte nämlich mit der Partnerin seines Freundes eine kurze Affäre gehabt. Für alle völlig überraschend hatte sich dieser etwas später durch einen Sprung von einer Autobahnbrücke suizidiert, und Jan wusste weder, ob dieser Freund davon gewusst hatte, noch ob Jans Verrat an ihm Grund seines Suizides gewesen war.

Jan lebte seitdem mit einem tiefen Schuldgefühl, welches aber durchzogen war von einer Riesenwut auf den Freund, der ihn und alle anderen einfach mit ihren Gefühlen und Fragen alleingelassen hatte.
Immer wenn dieses Knäuel an widersprüchlichen und heftigsten Emotionen an die Oberfläche zu kommen drohte, verfiel Jan nach einer kurzen Erregungsphase in eine tiefe Depression. Um sich vor dieser (leider erfolglos) zu schützen, sperrte sein Gehirn alles damit Zusammenhängende in ein Verlies und warf den Schlüssel weg.

Übrigens hat Jan, als er so weit war, tatsächlich diesen Brief geschrieben – ohne jede Diskussion. Damit konnte die Auseinandersetzung mit diesem dunklen Thema beginnen, und Jan arbeitete sich stückchenweise aus der Tiefe seiner Depression wieder empor.

 

Der Politiker

… daraufhin habe ich meiner Frau klipp und klar gesagt – und das sollte in einer solchen Situation doch selbstevident sein! –, dass sie doch nicht etwa allen Ernstes glaubt, was mich übrigens an Herrn Hebedank, einen alten Wegbegleiter, erinnert, der eben genau dies immer schon, und da komme ich an den Anfang zurück, gesagt hat und im Grunde genommen sind unsere Kinder ja auch nicht ganz so unbeteiligt, was sie aber vielleicht unter Umständen noch gar nicht so richtig, wie es ja nicht selten bei Einzelkindern vorkommt, ich meine damit – ich betone das – auch meine Frau, und dazu stehe ich voll und ganz!

Rolf war so ein Patient, der in etwa auf diese Weise sprach. Jede Zuhörerin war beeindruckt von seiner Eloquenz, aber niemand verstand, was er sagen wollte. Es handelte sich, wie sich bald zeigte, um ein Versteckspiel: Rolf war ein gebildeter Mann, der sich im Beruf durchsetzen konnte und Erfolg hatte. Sobald es aber um wichtige soziale Beziehungen ging, bekam er eine irre Angst, abgelehnt und verlassen zu werden.

Diese irrationale Angst hatte eine lange Geschichte, die ihre Wurzeln besonders in den inquisitorischen Befragungen durch seinen Vater hatte, der nach jedem Mittagessen eine Befragung abhielt, in welcher der Sohn auf Herz und Nieren geprüft wurde, ob er den Schulstoff nicht nur verstanden hatte, sondern auch in allen Variationen anzuwenden wusste.

Rolfs Ausweg aus diesen selbstwertschädlichen Verhören bestand darin, zu lernen, mit vielen wohlklingenden Worten NICHTS zu sagen.
Als wir diesen Zusammenhang erkannt hatten, bat ich Rolf, einem Experiment für diese und die nächsten Gruppensitzungen zuzustimmen:

Er solle, erklärte ich ihm, nur noch Sätze mit maximal 5 Wörtern bilden. Dabei sollte er jeden Satzes mit einem Ich … (oder Mir/ Mich…) beginnen. Rolf ließ sich auf diesen Versuch ein - und begann, wirklich ETWAS zu sagen …

Es gibt sehr viele dieser Strategien

Diese werden sicherlich meist eher reflexhaft oder unbewusst angewendet, haben aber alle die Funktion, von einem wichtigen Thema abzulenken, welches für die betreffende Person ausweglos, unlösbar und/ oder mit sehr heftigen negativen Gefühlen verknüpft ist.


An meine Berufskolleg*innen

Bedenke bitte, dass diese Deflexionen eine schützende Funktion haben!

Sie sind nicht einfach nur: Widerstand, mangelnde Therapie-Motivation, Vermeidungsverhalten, neurotische Kontaktunterbrechung, Verdrängung, Persönlichkeitsstörung oder fehlende Compliance! Sie sind vielmehr Lösungsversuche von subjektiv unlösbaren Erfahrungen.

Wenn es dir gelingt, deiner Patientin sicheren Halt zu geben, wird sie solche Deflexionen nach und nach nicht mehr benötigen.

Einige weitere Varianten

… findest du in meinen Beiträgen über Depressionen (Depressionen #4).

 

Wodurch entstehen Deflexionen?

Wie hängen Introjektion, Retroflexion und Deflexion zusammen?

Auf den Zusammenhang zwischen den drei Fallgruben habe ich bereits hingewiesen – hier sei er nochmals kurz wiederholt:

  • Das Introjizieren, das Erlernen von Regeln, dient der gesellschaftlichen Kontrolle von Emotionen, Gedanken und Handlungen. Nicht nur heftige, bedrohliche Gefühle, die mit Wut, Zorn, Aggression, Gewalt, Sex, Hässlichkeit und körperlichen Vorgängen zu tun haben, werden durch Introjekte beschnitten, sondern sogar fast jedes klare Mitteilen von positiven wie negativen Emotionen.

  • Um diese Regeln bedienen zu können, müssen wir körperliche, gedankliche und emotionale Prozesse abmildern oder ganz zurückhalten, indem wir diese Energien retroflektieren und so gegen uns selbst richten.

  • Um nicht ständig mit unseren Retroflexionen und der damit verbundenen Frustration beschäftigt zu sein, lenken wir uns mittels verschiedener Deflexions-Strategien ab.

Deflexion als Selbstschutz

Der Vorgang der Deflexion bildet zusammen mit solchen Mechanismen wie (je nach Therapie-Richtung:) Verdrängung, Vermeidung, Widerstand, Kontaktunterbrechung, Dissoziation, Derealisation etc eine Kategorie von Formen des Selbstschutzes und/ oder der Betäubung.
Natürlich kosten diese Mechanismen einen Preis, sprich: erzeugen Symptome; aber ihr Sinn und Zweck ist auf das Überleben-Können oder die Beendigung von Leiden gerichtet.

Deflexion als Lösungs-Ersatz

Deflexionen treten auf, weil eine Spannung nicht auflösbar oder eine mögliche Lösung mit Strafe verknüpft ist.

Nehmen wir bspw an, eine Trauernde sei voller Liebe, aber auch Wut gegenüber dem Verstorbenen. Eine Auflösung eines solchen Gefühls-Chaos wäre möglich, wenn sie dem Pfarrer oder Freunden davon erzählen dürfte. Sie spürt aber, dass die Reaktionen der Anderen freundlich ermahnend oder verurteilend ausfallen würden und versucht deshalb, die negativen Emotionen unterm Deckel zu halten.

Irgendwann findet sie einen Weg der Ablenkung, Betäubung oder Ausblendung, der ihr hilft. Allerdings besteht der Preis darin, dass ihr Trauerprozess steckenbleibt und Symptome des Leidens hervorbringt. ZB ist sie dann nicht in der Lage, eine neue Beziehung einzugehen. Oder sie hat ständig belastende Träume von dem Toten.

 

Warum macht Deflexion krank?

Gute und schlechte Deflexionen

Wir müssen andauernd deflektieren, damit wir den Fokus auf Wichtiges lenken können, ohne ständig abgelenkt zu werden. Viele Bewusstseinsinhalte können im Hintergrund ablaufen und ermöglichen so eine konzentrierte Beschäftigung.

Solange es alltägliche Dinge sind, die wir beiseiteschieben, kann Deflexion der geistig-psychischen Ökonomie dienen. Auch wenn du einen heftigen Streit, den du mit deiner Partnerin am Frühstückstisch hattest, zur Seite legst, um deinen Job machen zu können, handelt es sich wohl um eine gesunde Art der Deflexion.

Das gilt aber nur, solange du anschließend ein klärendes Gespräch suchst, ganz einfach weil dir deine Beziehung ungeheuer wichtig ist. Würdest du nach der Arbeit erstmal dein Auto waschen, dann einen Freund auf ein Feierabendbierchen treffen, schließlich noch, weil du das seit langem erledigen wolltest, bei deinem Versicherungsmakler eine Glasbruch-Versicherung abschließen und dann, zuhause angekommen, genüsslich pfeifend in die Badewanne steigst, während deine Partnerin immer saurer wird, erhöht sich deine Chance, bald wieder Single zu sein.

 

Auch für die Deflexion gilt ähnlich wie für Introjektion und Retroflexion:
Gesund kann sie sein, wenn …

  • du dich bewusst dafür entscheidest, ein wichtiges Thema aufzuschieben, um es dann

  • später (aber zeitnah!) konstruktiv und mutig anzugehen.

 

Woran bemerkst du eine Deflexion?

Leider ist es schwierig, das eigene Deflektieren als solches zu entlarven. Schließlich handelt es sich um fest eingefahrene Gewohnheiten. Oft kann man das mit einer Deflexion verbundene Denken oder Handeln ja auch ganz gut begründen.

Denke mal an Herrn Aberer und Frau Gehtnichtweil ! Die Hypnotiseurin denkt in der Regel ja nicht, dass sie von etwas Wichtigem ablenkt, sondern dass alle Zuhörerinnen begeistert an ihren Lippen hängen. Der Reporter kommt mit seiner Sachlichkeit ja irgendwie ganz gut durchs Leben, und der Politiker hat ja gerade wegen seines Nichts-Sagens Erfolg. Frau Unsichtbar wird überall gern gesehen und hegt vielleicht ganz tief innen die Hoffnung, eines Tages auch einmal von jemandem fürsorglich behandelt zu werden.

Wir können es auch so formulieren: Deflexion ist selbstverstärkend.
Man spürt ja nicht, dass man sich eben dadurch von der Lösung seiner Probleme abhält.

Gut kann es also sein, wenn dich dein Gegenüber mit der Nase draufstößt: Was willst du eigentlich sagen? Hast du denn schon mit deiner Frau über euer Problem gesprochen? Du lenkst schon wieder ab! Usw.

Hoffentlich hast du eine mutige Freundin, die sich traut, so mit dir umzugehen, die nicht immer nur Bestätigung von dir will, sondern auch mal etwas riskiert, weil sie an deinem Wohl interessiert ist!

 

Was hilft gegen Deflexionen?

Das ist doch ganz einfach, könnte man sagen, du musst dir deine Deflexionen bewusst machen und entscheiden, welche hilfreich für dich ist und welche nicht!

Wenn es doch nur so leicht wäre …!! Aber gut, letztlich geht es darum, wieder zu Bewusstsein zu gelangen, sich selbst wahrzunehmen.

Mit etwas Übung und vielleicht (professioneller?) Hilfe kann man durchaus …

Sich seiner selbst bewusst werden

Vielleicht findest du unter den folgenden Beispielen einige Anregungen, die zu dir passen könnten.
Schau auch in meinen Beiträgen über Depression nach: Auch dort findest du einige Experimente, die du ausprobieren kannst:

5-Wort-Sätze

Hilda (die Hypnotiseurin) habe ich gebeten, immer nur maximal 5 Wörter zu sprechen und dann einen Punkt und eine kleine Pause zu machen. Sobald sie mehr als 5 Wörter oder Nebensätze produzierte, stoppte ich sie.

Später kam die Aufgabe hinzu, mit dem Wörtchen Ich zu beginnen und eine emotionale Bewertung abzugeben. (Sie sollte zB nicht sagen: Die Sonne scheint, sondern: Ich freue mich über den Sonnenschein!)

Genau darum ging es bei ihr nämlich, dass sie sich nicht traute, etwas zu beurteilen, zu wollen, gut oder schlecht zu finden oder gar sichtbar traurig zu sein. Und was sie besonders ängstigte, war eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit, die immer wieder in jede Erzähl-Lücke zu drängen versuchte. Sie hatte gelernt, darüber „hinwegzuerzählen“.

Spiegel-Ich

Reporter wie den Fremdenlegionär, von dem ich oben berichtet habe, gibt es viele.

Auch Nadine hatte die Angewohnheit, sehr sachlich über eine ungeheuer schlimme Demütigung zu sprechen, die sie im Alter von 13 Jahren erlebt hatte. Sie redete so, als wäre es eine Fremde, über die sie berichtete.

Also platzierte ich einen Spiegel vor ihr und forderte sie auf, beim Sprechen immer wieder die Person im Spiegel zu betrachten. Was drücken ihre Augen aus?, fragte ich sie dann. Oder: Was erlebt diese Person gerade? Wie geht es ihr?
Dann wieder wies ich sie auf die Mimik oder Gestik ihres Spiegelbildes hin und forderte sie auf, diese Ausdrucksweisen nachzuahmen.

Wenn du auch eine Reporterin wie Nadine sein solltest, kannst du dir deine eigene Geschichte von einem guten Freund vorlesen lassen. Betrachte ihn dabei und frage ihn, wie er sich fühlt (oder fühlen würde, wenn er diese Person wäre).

Geboren-Werden

In gewisser Weise war Beate, deren Unsichtbarkeit ich oben beschrieben habe, gar nicht von dieser Welt. Sie existierte eigentlich gar nicht. Sie machte es jedem recht, wollte für alle da sein, fragte, kümmerte sich, hörte zu. Aber sie selbst trat nicht in Erscheinung.

Sie musste also neu zur Welt kommen.

Ich denke gerade an eine Patientin, die sehr ähnlich war wie Beate. Der Einfachheit nenne ich sie ebenfalls Beate:

Bei jedem ihrer Kommentare, jedem Verstehen ihrerseits stellte ich ihr Fragen wie diese:
- Was möchtest du?
- Wie geht es
dir damit?
- Was fühlst
du?
- Möchtest
du deine Pause lieber mit A oder B verbringen?
- Was macht
dich daran ärgerlich?
- Was wünschst
du dir von C? Usw.

Zunächst antwortete Beate in dieser Art:
- Ich denke, für A ist es besser, wenn …
- Mir ist alles recht.
- Das ist ok für mich.
- Wenn C will, kann er ja …
Usw.

Es war nicht leicht für sie. Einen eigenen Wunsch oder eine Abneigung auszudrücken, war wie eine Fremdsprache für sie. Zunächst vermutete ich, dass sie vielleicht Angst davor haben könnte oder dass die Mitteilung eigener Gefühle in ihrer Kindheit möglicherweise mit Strafe belegt war.

Aber so war es nicht. – Vielmehr existierte diese Möglichkeit für sie überhaupt nicht!
Wie später deutlich wurde, hatte sie von Anbeginn in ihrer Familie die Position der bedürfnisfreien Zuhörerin, Vermittlerin und Helferin. In dieser Rolle fühlte sie sich sicher.
Aber nach und nach bemerkte sie, mit wie vielen Enttäuschungen und Frustrationen sie diese Sicherheit stets erkauft hatte.

Als sie zum ersten Mal sagen konnte: Ich wünsche mir von dir, dass du mir einen Kaffee machst, standen ihr Tränen in den Augen.

Erfüllung finden

Ebenso wie der Politiker Rolf mit vielen wohlklingenden Worten nichts sagte, kann man auch mittels der Verwendung von Füll- oder „Nicht-Wörtern“ nichts sagen.
So machte es Robert, der immer wieder Wörter verwendete wie: eigentlich, im Grunde genommen, wie gesagt, prinzipiell.

Es gelangen ihm wirklich beeindruckende sprachliche Figuren mit der Aneinanderreihung solcher Ausdrücke: Vielleicht kann man eigentlich ja im Grunde genommen eventuell auch wieder den Anderen mitunter verstehen …
So viele Einschränkungen, Relativierungen und Bedenken! Nichts, worauf man ihn festnageln könnte! Ich meinte ja grundsätzlich bloß, man könnte im Prinzip …, schien er sich dann zu rechtfertigen.

Wenn ich dann genauer nachfragte, war es, als versuchte ich ein Stück nasse Seife zu fassen zu kriegen, das mir immer wieder aus den Händen flutschte: Nein, es war einfach nicht möglich, eine klare Aussage oder Stellungnahme zu bekommen!

Patienten wie Rolf und Robert malte ich manchmal ein Gefäß auf ein Blatt Papier. Da ich wusste, dass ich mit Worten nicht weiterkommen würde, bat ich sie um Folgendes:

Zeichne bitte in dieses Gefäß alles hinein, was du heute an Erfüllendem erlebt hast. Benutze dazu eine schöne Farbe oder eine einfache Figur oder ein Symbol. Wenn ein Mensch dir heute zum Beispiel etwas Wärmendes gesagt hat, könntest du ein Strichmännchen mit einer Sprechblase zeichnen, die du mit einem warmen Gelb ausfüllst. Du musst gar nichts erklären. Besser gesagt: Du darfst gar nichts dazu sagen!

Gerade denke ich an Herrn D., der immer sehr deutlich, bedächtig und geradezu vorsichtig sprach. Kaum hatte er die Begrüßung durch eine ältere Gruppenteilnehmerin auf diese Weise gemalt, fing er an zu schluchzen.

 

Und nochmals zum Schluss

Aber ganz ohne geht’s doch auch nicht, oder?

Richtig: Die genannten Vorgänge sind nicht einfach nur schlecht. In gesundem Maße sind sie notwendig und nützlich:

  • Natürlich brauchen wir Regeln. Sinnvolle und klar kommunizierte Regeln und Werte machen das Miteinander einfacher und mindern das Risiko zwischenmenschlicher Unfälle.

  • Wir müssen manchmal leiblich-emotionale Energien zurückhalten. Niemand möchte, dass eine andere Person rücksichtslos ihre Bedürfnisse an einem selbst auslebt.

  • Und auch das Ablenken von etwas Wichtigem kann durchaus angemessen sein. Statt zum Beispiel andauernd mit Frustrationen oder Ängsten beschäftigt zu sein, kann es sinnvoll sein, diese hinter sich zu lassen und neue Wege zu gehen.

  • Nicht zuletzt entstehen kulturelle Werke aus dem Erleben von Scheitern und Misserfolg.

Ich meine aber: Unsere Dressur geht erheblich zu weit! Wir unterwerfen uns zu vielen, zu strengen und zu undeutlichen Regeln, wir halten zu viel an Gefühlen zurück und wenden es unnötigerweise gegen uns selbst, und wir lenken so oft von Wesentlichem ab, dass wir gar nicht mehr anders können.

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

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Depression als Krankheitsbild – deskriptiv statt kausal