Die Symptome der Krankheit Schule
Ein Herz für Lehrer #1
Über Lärm, Absturzkante und Affensymdrom
“Lehrer sind schwierige Patienten!”
Den einzigen Lehrer in einer therapeutischen Gruppe findet die erfahrene Therapeutin meist innerhalb weniger Minuten heraus: Es ist immer der, der umso rationaler antwortet, je emotionaler die Themen werden, der an der Oberfläche paddelt, wenn’s andere schon in die Tiefe gezogen hat. Meist braucht er nur eine Sitzung, um die übrigen Gruppenmitglieder gegen sich aufzubringen:
Weil du so im Kopf bist!
Weil du dich so versteckst! Oder auch:
Weil du unterschwellig so aggressiv bist, dass ich Angst vor dir kriege.
Und auch die professionellen Helfer neigen dazu, den Lehrer in der Therapie zu demotivieren, indem sie ihm allzu gern attestieren:
Rationalisierung!
Widerstand!
Fehlende Behandlungsmotivation!
Unterschwellige Aggressionen !
Jeder von uns Psychotherapeuten kennt das, denke ich. Aber mal ehrlich: Hat die Lehrerin in dieser Therapiegruppe überhaupt eine Chance? Beruhen unsere Reaktionen nicht eher auf Vorurteilen, negativen Gegenübertragungen und zu starren therapeutischen Konzepten? Tun wir dem Lehrer Unrecht?
Ich habe viele Jahre mit Lehrerinnen gearbeitet. Ich musste viel von ihnen über ihre äußere und innere Verfassung lernen.
Mein Fazit ist: Lehrerinnen sind anders.
Ganz anders! Davon handeln dieser und die anderen Beiträge.
Überblick über die Folgen
#1 Die Symptome der Krankheit Schule (hier!)
#2 Warum Lehrer zum Überleben eine krankmachende Strategie brauchen: Dissoziation und Knautschzonen-Modell
#3 Massenmensch Lehrerin
#4 Lösungen und Auswege: Sei eine Mimose und werde gesund!
Statistiken
Aus meiner Sicht gibt es kaum eine Berufsgruppe, die so krank ist wie Lehrer. Schon vor vielen Jahren ist mir aufgefallen, dass im Kreis der Patienten, aber auch der Freundinnen – meine Frau ist Lehrerin – sehr viele früh massiv erkranken, psychisch, psychosomatisch und körperlich:
Schlaganfall mit 40, Krebs, chronische Darmerkrankung, Herzinfarkt …
Hörsturz, Tinnitus …
Panikattacken, Depressionen ...
Auffallend viele Kolleginnen sind früh verstorben ...
Die Wahrscheinlichkeit, bei Nachlassen des Stresses (Wochenende, Urlaub, Pensionierung) schwer zu erkranken oder zu sterben, ist stark erhöht.
Sucht man nach offiziellen Zahlen, wird es schwierig.
Man liest mitunter von 50% der Lehrkräfte, die das Regel-Pensionsalter nicht erreichen, mancherorts sogar von 90%.
Bei 50 % und mehr Fällen vorzeitiger Pensionierungen sind psychische Faktoren vorzugsweise beteiligt.
In manchen Organen ist zu lesen, dass bei mehr als einem Drittel aller Lehrer ein Burnout-Syndrom festzustellen sei.
Das Problem dabei ist …
Selbstaussagen von Lehrerinnen wie bspw. Fragebögen sind verfälscht, sie unterschätzen systematisch das tatsächliche Ausmaß der Beeinträchtigungen!
Warum das so ist?
Dies werde ich in unter dem Thema Dissoziation und Knautschzonen-Modell näher erläutern.
Inwiefern Lehrer völlig anders sind als jede andere Patientin
“Absturzkante“
„Normale“ Patientinnen erleben meist über eine gewisse Zeit eine fortschreitende Symptomatik oder eine Abnahme des Wohlbefindens. Im Laufe dieses Prozesses bemerken sie irgendwann, dass sie professionelle Hilfe brauchen.
Bei Lehrern ist das völlig anders: Sie funktionieren auf 100%-Niveau, dann, ganz plötzlich, erfolgt der Absturz: Eine akute gesundheitliche Krise oder eine Panikattacke aus heiterem Himmel setzt sie von heute auf morgen schachmatt. Es geht buchstäblich nichts mehr. Manchmal ist es auch eine Trennung oder der Tod eines Elternteils, wodurch abrupt psychische oder somatische Krise mit anhaltender Dienstunfähigkeit ausgelöst wird.
„Aber sonst ist alles ok!“, sagt die Lehrerin. Sie stellt keinen Zusammenhang zu vorangehenden Belastungen her. Ich bin gerne Lehrerin!, betont sie. Die Symptomatik hat nichts mit ihr zu tun, sie hat überhaupt kein Bewusstsein für die Schwere der Symptomatik. Ihre Vorstellung ist, dass wir das Symptom behandeln, und anschließend geht alles so weiter wie zuvor.
10 - 20 Sitzungen benötigt der Lehrer, um dort anzukommen, wo „normale“ Patientinnen zu Beginn der Therapie schon lange sind: Erst jetzt fühlt er, wie er sich überfordert hat, welche Strukturen der Schule eigentlich unerträglich waren. Nicht selten steigt die Panik proportional zur Nähe zum Schulgebäude.
Auszeit: Deshalb ist es kein Wunder, dass oft lange Dienstunfähigkeiten und Behandlungen – 6 Monate, 1 Jahr und länger – nötig sind, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Gar nicht selten ist sogar eine vorzeitige Pensionierung erforderlich.
Stressoren: Definition
Als Stressor bezeichne ich jeden von außen auf den Organismus einwirkenden Reiz oder Stimulus, sei dieser physikalischer, psychischer, sozialer, biochemischer, viraler oder sonstiger Natur.
Diese Stimuli stoßen physiologische, psychische, geistige, anatomische usw Reaktionen an.
Wenn ich von Organismus spreche, meine ich immer körperlich und seelisch.
Es ist ferner unerheblich, ob der Stressor subjektiv wahrgenommen und als unangenehm oder angenehm empfunden wird. Viele Stressoren bleiben als Einzelreiz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, was aber in der Summe die schädliche Wirkung eher verstärkt.
Besonders pathogene (krankmachende) Stressoren
Vitale Bedürfnisse sind nicht erfüllt!
Nicht einmal Basisbedürfnisse, für andere Berufsgruppen selbstverständlich, werden berücksichtigt: durchschnittlicher Lärmpegel von 68 dB, regelmäßige Überschreitung des Kohlendioxid-Grenzwertes von 1.500 ppm, fehlender Sonnenschutz, Kälte, Schimmel, Ausgasungen von Dioxinen oder Formaldehyden, zu kleine oder nicht-ergonomische Stühle, überhöhte Infektionsbelastung, Sperrmüllkultur.
Lärm: In Schulklassen werden durchschnittlich 68 Dezibel (Fußnote 1) an Lärm erzeugt, wobei Spitzenwerte von bis zu 80 dB auftreten. Als Grenze empfohlen werden maximal 55 dB. (Fußnote 2)
Es ist zu vermuten, dass bei Regenpausen in Grundschulen diese Spitzenwerte noch überschritten werden. Geeignete Schallschutzmaßnahmen lassen in vielen Schulen auf sich warten.CO2-Konzentration: Laut einer Untersuchung an Bremer Schulen aus dem Jahr 2007 (Fußnote 3) werden in Klassenräumen regelmäßig zulässige Kohlendioxid-Konzentrationen von 1.500 ppm überschritten. Folgen sind Müdigkeit und Konzentrationsstörungen. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass alleiniges Lüften in den Pausen grundsätzlich nicht ausreicht. Nur eine Dauerlüftung, die aber meist wegen Lärm-, Pollen-, Zugluft- oder Kältebelastung nicht möglich ist, würde Abhilfe schaffen. Verminderung von Reinigungsstandards und Raumgrößen bei gleichzeitiger Erhöhung der Klassenfrequenzen verstärken diese Problematik.
Berufsgenossenschaften? Fehlanzeige! In anderen Tätigkeitsfeldern sind Berufsgenossenschaften gefürchtete Kontrolleure. Lehrerinnen hingegen arbeiten unter krankmachenden Bedingungen, während eine aufmerksame Berufsgenossenschaft fehlt. So kann beispielsweise eine an einer Thrombose erkrankte Lehrerin nicht annähernd die vom Arzt geforderte Menge trinken, weil sie nicht zur Toilette gehen kann.
Die Macht der Eltern
Macht: Es gibt wohl keine Berufsgruppe, bei deren fachlichen Entscheidungen Laien ein so großes Mitspracherecht haben wie bei Pädagogen: Klassen-/ Zeugniskonferenzen, Elternabende, Klagen wegen falscher Beurteilung etc!
Angst: Man betrachte nur einmal Elternabende aus den Augen des Lehrers. Auch wenn er dies nicht so gern zugibt: Er hat Angst vor den Eltern, die für viele Schulen längst zu „heiligen Kühen“ geworden sind, die nicht berührt werden dürfen.
Ohnmacht: Indiz für diese These: Bei Elternabenden spricht die Lehrerin mit deutlich erhöhter, also angespannter Stimme! Die in früheren Jahrhunderten übertrieben autoritäre Machtposition des Lehrers hat sich zu einer Ohnmachtssituation gewandelt.
Du hast keine Chance, also nutze sie! Oder: Das Affensyndrom
Erlernte Hilflosigkeit kann man experimentell dadurch erzeugen, dass man Affen Schocksituationen aussetzt, die diese nicht durch eigenes Verhalten vermeiden können. Die Stress-Symptome und die passiven, depressiven Reaktionsmuster bei diesen hilflosen Tieren sind deutlich ausgeprägter als bei Tieren, welche zwar die gleiche Anzahl Schocks erhalten, diese aber durch ihr Verhalten kontrollieren können. Letztere stehen zwar unter einem enormen Leistungsdruck, bei Ersteren kommt aber die depressionserzeugende Erfahrung totaler Hilflosigkeit hinzu.
Hilflosigkeit wird als Kardinalfaktor in der Entstehung von Depressionen angesehen!By the way: Ich bin strikt gegen derartige Tierversuche. Und: Ich bin strikt gegen menschenunwürdige Lehrerhaltung!
Hohe Anforderungen, kaum Ressourcen: Genau dies ist aber das Grundmuster der pädagogischen Tätigkeit: Ständig steht der Lehrer unter Handlungsdruck und Strafandrohung – aber einen Hebel, den er drücken könnte, hat er nicht.
Du hast keine Chance, also nutze sie!
So könnte man seine allgegenwärtige Handlungsanweisung umschreiben.
Fehlende Autorität: Zur Durchsetzung ihrer Aufsichtspflicht sieht man die Lehrerin mit leeren Händen dastehen. Arbeitsverweigerungen hat sie nichts entgegenzusetzen, Schlichtungsversuche physischer Auseinandersetzungen bringen ihr Disziplinar- und Klageverfahren ein. Bei Eskalationen im Klassenraum müsste sie sich teilen können: Hilfe holen und gleichzeitig die Klasse beaufsichtigen; eine eigentlich notwendige Notrufanlage steht ihr nicht zur Verfügung.
Klassenfrequenzen und Problemschüler: Wenn es im Klassenraum mit 30 Schülerinnen drunter und drüber geht, fragt niemand nach dem Anteil von Migrantinnen, Verhaltensauffälligen, Gewaltbereiten, Lernbehinderten, psychisch Erkrankten. Vielmehr ist, wie man ihm im Referendariat eingepaukt hat, der Lehrer schuld an allem und verantwortlich für alles, was im Klassenraum vor sich geht.
Alleskönner?!? Der Lehrerin werden jenseits ihrer erlernten Kompetenzen all diejenigen Aufgaben auferlegt, die andere Sozialagenten nicht (mehr) leisten: Suchtprophylaxe, psychiatrische Erstversorgung, Prävention und Abwehr von physischer Gewalt, Mobbing-Beratung, familientherapeutische Krisen-Intervention, Anleitung zur Körperpflege, Eingliederung von Migrantenfamilien, Verkehrserziehung und Unfallverhütung, Erziehung zu gutem Benehmen und moralischem Verhalten. Habe ich noch etwas vergessen? Ja! Ca. 100 weitere Aufgaben. Die Lehrerin hat zwar nichts von alledem erlernt – Verantwortung dafür trägt sie dennoch.
Misserfolgsorientierung und Sündenbock-Funktion
Angst vor Misserfolg statt Erfolgsmotivation: Aus dem Affensyndrom erwächst die Misserfolgsorientierung des Lehrers: Das Arbeiten wird zunehmend von Angst vor immer neuen selbstwertschädigenden Niederlagen motiviert. Für die zwangsläufigen Misserfolge muss er als Sündenbock gesellschaftlicher Fehlentwicklungen herhalten. Statt notwendiger Entlastungen werden ihm Mittel entzogen und Stundenzahlen sowie Schülerfrequenzen heraufgesetzt.
Supervision und Coaching? Unterstützung erfolgt allenfalls durch systemgebundene Kräfte, auf eigene Kosten, während der Freizeit.
Image: Der Lehrerberuf hat ein schlechtes Image, er gehört zu den so genannten Semi-Professionen – das sind solche Berufe, für die man nach Meinung von Stammtischlern und Politikerinnen nichts Wirkliches gelernt haben muss. Wie anders ist es zu erklären, dass man sie problemlos durch Laien ersetzen zu können glaubt?
Erfolgserlebnisse können sich kaum noch einstellen.
Einmal Lehrerin, immer Lehrerin!
Freizeit? Denkste! Feierabend, Wochenende, ja: auch Urlaub haben Lehrer kaum. Alles ist angefüllt mit liegen gebliebenen Korrekturen, Abi-Vorbereitung, Zeugnissen, Klassenzusammenstellung ... Immer ist Bürozeit für Anrufe genervter Eltern, gestresste Kollegen melden sich abends und jammern über Kollegin A, Schüler B, Schulleiterin C oder Vater D, der nächste Schultag ist noch nicht vorbereitet.
Privat? Was war das doch gleich? Auch noch während ihrer Therapie fällt es der Pädagogin schwer, sich abzugrenzen, Telefonzeiten einzurichten, Arbeitszeiten zu limitieren. Begründungen – die man nicht einfach „kognitiv umstrukturieren“ kann! – sind:
Der Klassenarbeitssatz korrigiert sich nicht von alleine!
Wenn ich es nicht mache, muss mein Kollege ran!
Der Schülerin geht es so schlecht, da muss ich was tun! Usw.Arbeitszeiten? Überdurchschnittlich! Untersuchungen zeigen, dass Lehrkräfte durchschnittlich deutlich über 40 Wochenstunden arbeiten, und zwar unter Einrechnung des angeblich frühen Feierabends, der vermeintlich überlangen Urlaubszeiten. Bei Teilzeittätigen ist das Verhältnis wegen voller Konferenzpflichten noch ungünstiger.
Das Deutsche Schulportal (Fußnote 4) zitiert eine Studie, nach der die durchschnittliche Arbeitszeit von Vollzeit-Lehrkräften 46:38 Wochenstunden beträgt. Nach dieser Studie arbeiten um die 70% aller Lehrerinnen an mindestens 4 von 5 Wochenenden, durchschnittlich ca. 20% an jedem 20. Schultag auch nachts, und ca. 14% der Lehrer arbeiten an mindestens 329 Tagen pro Kalenderjahr.
Quellen:
1 Lärm wird als dekadischer Logarithmus angegeben: Eine Erhöhung des Wertes um 10 dB bedeutet eine Verdopplung des Lärms.
2 vgl.: Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein,3, 2011, S. 11
3 ebd., S. 11
4 Vgl.: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/lehrerarbeitszeit-infografik-so-viele-stunden-arbeiten-lehrerinnen-und-lehrer-wirklich/ (letzter Zugriff am 18.01.2022)
Der Turm von PISA ist schief. Wenn man ihn Stockwerk um Stockwerk erhöht, wird er umstürzen!
Die sogenannten Privilegien
Wenn man die Finanzierung eines häuslichen Arbeitszimmers und überbordende Arbeitszeiten – auch in den „Ferien“ – mit eingerechnet, ist die Bezahlung im Vergleich zu anderen Akademikern schlecht. Urlaub ist nur in der teuren Hauptsaison möglich. Aufstiegschancen gibt es kaum oder gar nicht, Lehrkräfte im Primarbereich werden oftmals über 40 Jahre lang nicht ein einziges Mal befördert! Man kann regelmäßig zu Mehrarbeit ohne Ausgleich verpflichtet werden. 60-Stunden-Wochen sind keine Seltenheit, regelmäßig wird bis in den späten Abend hinein und an Wochenenden gearbeitet. Herbst-, Weihnachts- und Osterferien sind wie oben beschrieben mit Arbeit angefüllt. Ein Recht auf Streik gibt es nicht.
Das einzige Privileg besteht darin, eine ordentliche und sichere Pension zu erhalten. Um alles andere sind Lehrkräfte an deutschen Schulen ganz bestimmt nicht zu beneiden!
Lehrer jammern viel – und halten still!
Angesichts dieser Belastungen fragt man sich, warum Lehrer zwar jammern, aber sich nicht wirklich ernsthaft zur Wehr setzen. Aus psychologischer Sicht lautet die Antwort:
weil Lehrer nicht gelernt haben, sich Schwächen oder ein Nicht-mehr-Können einzugestehen;
weil Lehrerinnen ihr Scheitern auf persönliche Defizite attribuieren;
weil Lehrer dissoziieren, also Empfindungen abspalten müssen, um zu überleben!
Darüber erfährst du mehr in den nächsten Folgen.