Endogene Depression – Depressionen ohne Grund?

Endogene Depressionen sind eine veraltete Bezeichnung für das, was wir als klassische Depression verstehen. Die Haupt-Symptome sind Schwermut, Hemmung und Angst. Auch das Gefühl der Gefühllosigkeit (K. Schneider) und der Mangel an Vitalität (“erlebte Leblosigkeit”, Schulte) sind übliche Anzeichen dieser Depressionsform.

endogen depressiv - Die endogene Depression

Depressionen ohne Grund

wurden früher endogene Depression genannt und stehen für die "klassische Depression"

 

Endogen depressiv – was bedeutet das?

Die endogene Depression ist ein altes Konzept und beschreibt eine Depression mit folgenden typischen Merkmalen:

Bei endogenen Depressionen ist die melancholische Stimmung besonders ausgeprägt: Im Fokus stehen die Isolation vom sozialen Umfeld, flankiert von Trauer oder Leere und einer düsteren Einsamkeit. Vgl. auch Trauer & Depression. Von einigen Autoren wird die endogene Depression auch mit der melancholischen Depression gleichgesetzt. Vgl. auch Einsamkeit in der Depression

 

Was ist die endogene Depression?

Depressionen werden in der Psychiatrie in verschiedene Formen bzw. Schwerpunkte unterschieden. Eine weitverbreitete Einteilung besteht darin, endogene und exogene Depressionen voneinander abzugrenzen. Diese beiden Kategorien differenzieren in Bezug auf die Auslöser:

  1. Endogene Depressionen

    Der Begriff „endogen“ bedeutet „von innen kommend“. Die Ursachen finden sich im Inneren des Patienten, da keine äußeren Einflüsse erkennbar sind. Die Disposition dazu können sowohl neurobiologischer-genetischer Natur sein als auch in ungünstigen Persönlichkeitseigenschaften liegen (Melancholie).

  2. Exogene Depressionen

    Exogen“ bedeutet „von außen kommend“, daher wird hier auch von reaktiver und situationsbedingter Depression gesprochen. Sie werden durch ein bestimmtes Ereignis (psychosoziale Belastungen) ausgelöst, wie Traumata, Todesfälle, Einsamkeit und Trennungen.

    Evtl. auch interessant für Dich: Psychosoziale Faktoren der Depression – Stress & Überforderung

 

Die Endogene Depression ist eine veraltete Klassifikation

Die Idee einer endogenen Depression hat keine wissenschaftliche Bestätigung gefunden und wird daher nicht mehr verwendet. Die meisten Kritiker sehen ein Hauptproblem darin, dass diese Theorie die Anzeichen (also die depressiven Symptome) und Ursachen (d. h. die angenommene endogene Entstehung) miteinander gleichsetzt.

Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen scheint stattdessen zu bestätigen, dass völlig verschiedene Auslöser zu identischen Symptomen führen können.

Mit anderen Worten:
sehr unterschiedliche Ursachen können depressive Störungen verursachen (sogenannte Äquifinalität).

Genauso wichtig scheint mir der Einwand, dass sich nicht so einfach feststellen lässt, ob äußerliche oder innerliche Faktoren die größere Rolle spielen. Vielmehr sind die beiden Bereiche gar nicht zu trennen.

Dabei ist die Idee, eine Krankheit aus dem Seins-Zustand eines Menschen zu erklären, gar nicht so schlecht und zumindest angemessener als eine rein biologische Erklärung.

 

Unterschied: melancholisch-endogene Depression vs. schwere Depression

Der Schweregrad endogener Depressionen soll im Vergleich zu anderen Arten von Depressionen ausgeprägter sein.

Bei der endogenen Depression findet ein tiefer Bruch in der Kontinuität des Selbsterlebens statt. Das Gefühl, von anderen und der Umwelt irgendwie getrennt zu sein, ist vorherrschend.

Es gibt aber auch viele Experten, welche die melancholische/endogene Depression als Variante schwerer Depressionen ansehen.

 

Symptome der endogenen Depression

Die Anzeichen einer endogenen Depression lassen sich in psychische und körperliche Kategorien unterteilen.

Geistige Anzeichen

  • Niedergeschlagenheit

  • Freude- und Interessenverlust

  • Tagesmüdigkeit

  • Unfähigkeit, Vergnügen zu empfinden

  • Erschöpfung, Schwäche

  • Anspannung

  • Verzagtheit, Gefühle der Unzulänglichkeit

  • Gereiztheit, Aggressivität

  • Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen

  • Schuldgefühle

Körperliche Anzeichen

  • Schlafstörungen

  • Essprobleme, Gewichtsabnahme

  • Kopfschmerzen

  • Magen-Darm-Leiden

  • Atembeschwerden

  • Unwohlsein in Muskeln, Gelenken und Wirbelsäule

  • trockener Mund

  • Hitzeschübe und Kälteempfindlichkeit

  • Potenzstörungen

  • merklich leiseres Sprechen

 

Die melancholische Depression – altes Konzept im neuen Gewand?

Entsprechen Depressionen in ihrer Erscheinungsform vollständig dem Kernsyndrom der früheren endogenen Depression, wird heute von einer melancholischen depressiven Episode oder Depression mit melancholischem Syndrom (ICD-11) gesprochen.

 

Phänomenologie der endogenen Depression

Die endogene Depression wurde schon früher mit philosophischen Methoden untersucht. Psychiater wie Tellenbach, Binswanger oder Strauss versuchten, die (melancholische) Depression im Kontext des Zeitgefühles des Menschen zu verstehen.

In der Folge wurde (und wird heute teilweise noch) von einer „Psychopathologie der Zeitlichkeit“ gesprochen.

Nach diesen Ergebnissen zeigt sich die Modifikation des Zeiterlebens in Form einer Verlangsamung oder Beschleunigung der gelebten Zeit.

Zu beachten ist dabei, dass die Zeit als existenzielle Dimension für Dasein und Wahrnehmung definiert wird. Zeitstörung in der Depression bedeutet daher nicht einfach nur ein verändertes Erleben von Zeit, sondern auch die Stagnation des “vitalen Werdens”. Gerät die Zeit ins Stocken, hat der Mensch keine Möglichkeiten der Entwicklung oder Veränderung.

 

Tellenbachs Typus Melancholicus

Hubertus Tellenbach war einer der Ersten, welche die phänomenologische Methode nutzen, um die melancholische und endogene Depression besser zu verstehen.

Das Ziel: das subjektive Leben als Ganzes zu erforschen und die Veränderungen der Erfahrungsstrukturen bei Depressionen zu erkennen.

1961 erschien seine berühmte Monografie über den Typus Melancholicus. Tellenbach beschrieb in diesem Werk den melancholischen Persönlichkeitstyp, welcher auf Ordnungs- und Harmonieprinzipien basiert, und versuchte von diesem Ansatz aus, ein generelles Verständnis der Endogenität, also der Krankheitsentstehung aufgrund eines spezifischen Seinszustands, zu entwickeln.

Durch die Endogenität “wird der Lebensrhythmus tendenziell ausgesetzt. Das Selbst ist nur Zeuge eines eingefrorenen Lebens. Der melancholische Patient kann nichts empfinden, nicht einmal Traurigkeit. Er ist auch unfähig, in Bezug auf seinen eigenen inneren Tod einzutreten”. Und das Leiden “ist endogen eingebogen, ist ein seltsames, unbegreifliches, ungeheuerliches, deformiertes, ja pervertiertes Leiden” (H. Tellenbach, zitiert nach 1)

Im Falle des Melancholikers, der von einer charakteristischen Entwicklungsblockade geprägt ist, erkennt Tellenbach eine Gefährdung der Offenheit, da die Kompetenz zur Transzendenz (= Sinnstiftung), entweder gar nicht vorhanden oder nur unzureichend entwickelt ist.

Mit anderen Worten: aufgrund seiner verzerrten Daseinsbezüge kann der Typus Melancholicus sich nicht selbst verwirklichen, sondern bleibt stets fremdbestimmt.

 

Endogene Depression & Zeitgefühl

In früheren Untersuchungen der Depression wurde deutlich, dass die Vergangenheit eine besondere Dominanz auszeichnet. Auch heute lässt sich bei Betroffenen teilweise eine Ausrichtung auf die Vergangenheit feststellen. (vgl. Depression: gestörtes Zeitgefühl)

Die Frage ist allerdings, wie und warum die Vergangenheit Patienten heimsucht. In der Tradition Heideggers wird dem Zukunftssinn hier eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Ist dieser gestört, verändert sich das Zeiterleben massiv.

 

Zeitstörung durch Studie(n) bestätigt (3)

Interessant ist, dass auch Studien eine Retardierung oder Akzeleration des Zeitempfindens bei Depressionen feststellen. Früher ging die Wissenschaft allerdings davon aus, dass nur “endogene Depressionen” mit einer Störung des Zeiterlebens einhergehen.

Die erwähnte Untersuchung hat jedoch ein verändertes Zeitempfinden bei allen Depressionstypen festgestellt. Wie sehr der Zeitsinn gestört ist, korreliert mit der Schwere der Störung.

Deswegen sind Aktivitäten und Bewegung auch ein fester Bestandteil von Psychotherapien. Denn je mehr angemessene Aktivität, desto angenehmer war das Zeiterleben der Patienten in der Studie und die Symptome linderten sich.

Aber: Es geht um Tätigkeiten, die ohne Überforderung ausgeübt werden. Einen völlig entkräfteten Patienten also zum Sport zu zwingen, ist nicht sinnvoll. Es bringt auch wenig, einem Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie eine Bibliotherapie aufzudrücken.

 

Mehr als nur eine Zeitstörung » Hyperembodiment

Hyperembodiment – Korporifizierung des Leibes

Normalerweise ist unser Leib das Mittel, mit dem wir uns in der Welt bewegen, mit anderen interagieren und Möglichkeiten realisieren (vgl. Leiblichkeit). Doch in der Depression kommt genau dieses basale, leibliche Selbstvertrauen abhanden.

Betroffene sind auf ihre gegenwärtige Verfassung fixiert, gleichzeitig wird der Körper in seiner materiellen Präsenz überdeutlich spürbar und wandelt sich zu einer Hemmung des Lebensvollzugs. Dieser Zustand wird als „Hyperembodiment“ oder Korporifizierung bezeichnet: Der Körper des Patienten wird so schwerfällig und starr, dass eine Vielzahl von körperlichen Funktionen blockiert sind (vgl. depressiver Stupor).

Ist das verkörperte Selbstgefühl als Medium zur Welt verschwunden, geht ein spezifischer Zugang zum Selbst- und Weltverhältnis verloren. Menschen mit Depressionen berichten oft von einer unüberbrückbaren Kluft, die sich plötzlich zwischen ihnen und der Umwelt auftut. Andere fühlen sich wie durch eine Glasscheibe von allem getrennt.

 

Zeitliche & intersubjektive Desynchronisierung

Menschen mit Depressionen erfahren nicht nur eine quälende “Desynchronisierung” mit der Welt, sondern auch zu ihren Mitmenschen. Hier zeigt sich, wie sehr leibliche, emotional-soziale Resonanzen miteinander verwoben sind. Tatsächlich vermuten viele phänomenologische Ansätze, dass Leib und Affekte miteinander verkreuzt sind und sich aufeinander beziehen. (Vgl. Die Phänomenologie)

  • Im Zusammenhang von leiblichen Resonanzen spricht man von Interkorporalität: ein körperlicher Synchronisierungsprozess, der es 2 Menschen erlaubt, verschiedene Erfahrungsqualitäten über ihren gelebten Leib zu erfahren und miteinander zu teilen.

  • In Bezug auf emotionale Resonanzen spricht man von Interaffektivität: Menschen teilen ihre Gefühle, Stimmungen etc. über feinste Körpersignale mit und beeinflussen einander.

In der Depression ist der Leib nicht mehr zur Resonanz fähig. Anstatt Zugehörigkeit und eine vorbegriffliche Vertrautheit mit der Welt zu fühlen, wirkt alles leer. Ein Gefühl von unerklärlicher Traurigkeit stellt sich ein, das an nichts Speziellem festgemacht werden kann.

Die Vitalität und Spontaneität sind verschwunden, wohltuende Gefühle sind nicht mehr zu spüren und sogar Welt oder Selbst können vollständig entrücken (Derealisation, Depersonalisation). Die Zeit dehnt sich zu einer monotonen Aneinanderreihung bedeutungsloser Momente.

Die gesamte Dynamik des Lebens gerät ins Stocken.

 

Veränderung von Lebenswelt & Raum

Gleichzeitig ist damit die Intentionalität zwischen Mensch und Umwelt bei Depressionen gestört.

Nach Husserl nehmen Menschen die Welt intuitiv wahr, indem sich jede Erfahrung auf etwas richtet. Doch genau diese Fähigkeit ist in der Depression verloren gegangen: Patienten finden weder Bedeutung noch Orientierung im Raum, der sie umgibt.

 

Fazit: Endogene Depression

Der Fachbegriff “endogene Depression” wird heute nicht mehr gebraucht. Zwar handelt es sich um eine veraltete Vorstellung, doch lassen sich in den phänomenologischen Analysen gute Anhaltspunkte finden. So könnten Psychotherapien viel effektiver und erfolgreicher sein, wenn dabei Leiblichkeit, Zeitlichkeit und soziale Komponenten gezielt berücksichtigt werden.

Noch viel zu häufig werden Menschen, die an Depressionen leiden, mit Medikamenten und einer blutleeren Therapie abgespeist.

Genau das Gegenteil brauchen Patienten: nämlich einen menschlichen und individuellen Therapieansatz, der genau auf ihre Person ausgerichtet ist. Die gelebte Erfahrung des Patienten muss im Vordergrund stehen.

Vgl. auch Langzeitfolgen der Depression – Was von der Krankheit bleibt

 

Die Depression trifft einen Menschen immer und ohne Ausnahme in seiner Ganzheit – und zwar so fundamental, dass eine Behandlung, die sich nur auf Gehirnstörungen und vermeintliche Fehler im Patienten konzentriert, als mittelalterlich und naiv bezeichnet werden muss.

Vgl. auch Auswege bei Depressionen (alternatives Modell)


Quellen:

1) Francesca Brencio, Valeria Bizzari: Melancholic depression. A hermeneutic phenomenological account
2) Hermann Ebel, Karl Beichert: Depressive Störungen bei Patienten der Allgemeinmedizin: Früherkennung und therapeutische Ansätze. In: Dtsch Arztebl 2002; 99: A 124–130 [Heft 3].
3) Pressebericht / Interivew Universität Heidelberg: Verbesserte Psychotherapie der Depression
4) WHO: ICD-11. International Classification of Diseases, 11th Revision. The global standard for diagnostic health information

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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