Armut & Depression – Gesundheitliche Ungleichheit
Gesundheitliche Ungleichheit: kaum ein Faktor hängt so stark mit unserer Gesundheit zusammen, wie der sozioökonomische Status. Insbesondere bei Depressionen ist eine Verbindung zur Armut durch verschiedenste Studien belegt (18). Aber wer ist in Deutschland arm und wird in Sachen Gesundheit ungleich behandelt? Und was bedeutet so ein Leben?
“Eine der drängendsten Herausforderungen, denen wir uns im Bereich der öffentlichen Gesundheit in Europa gegenübersehen, ist die Depressionsbekämpfung.“
(Bericht 2004 der Europäischen Kommission für Gesundheit & Verbraucherschutz)
Soziale Ungleichheit und Gesundheit hängen zusammen
Depressionen können jeden treffen, heißt es immer. Aber trifft sie nicht einige mehr als andere? Heute ist durch wissenschaftliche Studien belegt: Depressionen werden durch Armut stark begünstigt (1).
Je niedriger die sozioökonomische Position eines Menschen, desto höher ist sein Risiko für depressive Störungen (3)
Und auch für andere psychische sowie körperliche Krankheiten!
Besser gestellte Personen suchen sich zwar eher Hilfe bei gesundheitlichen Problemen, aber die schlechter gestellten Menschen sind häufiger krank. Auch das ist Teil gesundheitlicher Ungleichheit.
Was heißt das jetzt?
Sind soziale Ungleichheiten also der entscheidende Einflussfaktor für die körperliche und psychische Gesundheit eines Menschen? Dazu muss ich hier ein wenig ausholen und das Thema (relative) Armut in Deutschland erläutern.
Gesundheitliche Ungleichheit – Was ist das?
Gesundheitliche Ungleichheit beschreibt die soziale Ungleichheit beim Ausbruch & Verlauf von Krankheiten und Gesundheitsrisiken. Die gesundheitliche Ungerechtigkeit beruht auf sozialen Ungleichheiten, die sich durch massive Benachteiligungen in Bildung, Berufswahl, Einkommenshöhe und Vermögensbildung zeigen.
Das Gesundheitsrisiko ist bei den Ärmsten am stärksten ausgeprägt und nimmt mit steigendem sozioökonomischen Status kontinuierlich ab: „Die Erkrankungsrisiken sind bei jenen Individuen am höchsten, die bei allen drei Indikatoren Schulbildung, berufliche Position und Einkommen am stärksten benachteiligt sind.“ (5).
Vgl. auch Klassismus in Deutschland
Muster gesundheitlicher Ungleichheit
Soziale Unterschiede sind heute weniger sichtbar, manifestieren sich aber nach wie vor in gesundheitlichen Unterschieden & Ausgrenzung nach Bildung, Beruf, Einkommen und Vermögen. Vgl. auch Bildungsexpansion
Internationale Experten sind sich einig: gesundheitliche Ungleichheiten laufen & entwickeln sich parallel zu sozialen Ungleichheiten (5).
Gesundheitliche und soziale Ungleichheiten treten nicht punktuell auf, sondern umfassen die gesamte Lebensspanne eines Menschen. Der Beginn liegt meist in der Kindheit (Familienarmut) und lässt sich selbst durch soziale Aufstiege sehr schwer kompensieren.
Ungleichheiten spielen bei fast allen körperlichen & psychischen Krankheiten eine Rolle. Insbesondere bei den häufigsten Erkrankungen: Herz-Kreislauf-Beschwerden, Diabetes, Magenkrebs, Lungenkrebs, Depressionen, Angststörungen und Zahnkrankheiten.
In allen Ländern gibt es gesundheitliche Ungleichheiten, die auf sozioökonomische Faktoren zurückgehen
Gesundheitliche Unterschiede nach Sozialstatus verstärken sich in Krisen und Zeiten des politisch-gesellschaftlichen Wandels (Umbruch)
Mittlerweile zeigen Untersuchungen, dass Psychotherapien eher an die Patienten vergeben werden, die einen höheren sozialen Status inne haben: vgl. Klassismus – Therapeutische Beziehung und soziale Frage
Depressionen sind keine Einzelschicksale
Untere Berufsschichten sind besonders häufig von Depressionen betroffen
Geld allein macht nicht glücklich, schon klar. Trotzdem gibt es eine Kausalität zwischen niedrigem sozioökonomischen Status und Depression, die man nicht klein reden kann.
Neuere Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit & Gesundheit (8) belegen deutlich, dass viele Krankheiten bei Menschen mit niedrigem Einkommen und Berufsstand gehäuft auftreten. 3 mal höher liegt das Risiko zum Beispiel an Diabetes, Krebs oder Depressionen zu erkranken (10).
Die Corona-Pandemie hat die gesundheitliche Ungleichheit übrigens auch gut dokumentiert:
“Schon in der ersten Jahreshälfte 2020 konnte Prof. Nico Dragano vom Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Düsseldorf im Rahmen einer Studie nachweisen, dass Langzeitarbeitslose ein 94 Prozent höheres Risiko aufweisen, mit einem schweren Coronaverlauf im Krankenhaus behandelt zu werden, als Menschen in einem regulären Beschäftigungsverhältnis” (19)
Aber nicht nur das gesundheitliche Risiko ist bei sozialer Benachteiligung viel höher. Auch:
brechen Krankheiten früher aus,
haben einen schwereren Verlauf
und zeigen extremere Auswirkungen auf den Alltag & die soziale Teilhabe an der Gesellschaft (5).
„Von den zehn Berufsgruppen, die am häufigsten von Depressionen betroffen waren, gehören sieben dem Berufsbereich „Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung“ an.“ (Techniker Krankenkasse, 9)
Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch der AOK-Fehlzeiten-Report 2019:
Dafür gibt es mehrere Gründe, die mit dem sozioökonomischen Risikofaktoren zusammenhängen:
problematische Kindheit: schlechte Gesundheit durch unausgewogene Ernährung, dysfunktionale Erziehung, vermehrter Stress (11) etc.
schlechtes Gesundheitsverhalten (Genussmittel, Mangelernährung, Bewegungsmangel, keine Nutzung von Präventionsangeboten)
geringes Einkommen und darum wenig finanzielle Ressourcen zur Krisenbewältigung
geringe Lebensstandards durch materielle Deprivation (1)
psychosoziale Belastungen, wie zum Beispiel Zukunftssorgen, Ausgrenzung, gefühlte Armut (1)
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Das Armutsrisiko steigt seit Jahren
Unabhängige Untersuchungen zeigen, dass das Armutsrisiko hierzulande gestiegen ist (2).
Immer wieder werden Kinderarmut (im Grunde Familienarmut) & Altersarmut in den Medien diskutiert.
(Quelle: Statista 2022)
Was bedeutet Armut in Deutschland?
Armut wird leider noch viel zu oft materiell definiert. Demnach sind diejenigen armutsgefährdet, die weniger als 60 % ihres Netto-Einkommens zum Leben zur Verfügung haben - was übrigens kaum für Miete, Haushalt, Essen, Strom, Kinder etc. reicht.
Oft wird Armut mit Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit gleichgesetzt. Doch das greift viel zu kurz. Denn auch atypische Arbeitsverhältnisse (Teilzeit, Leiharbeit, befristete Verträge, Solo-Selbstständigkeit) sind derart von sozioökonomischen Nachteilen geprägt, dass Betroffene an der Armutsgrenze kratzen.
Fachleute kritisieren an der konstruierten Armutsgrenze von 60% ihre Willkürlichkeit, weder Mindestbedarf noch Teilhabe-Chancen werden berücksichtigt.
Wie Depressionen auch, hat Armut verschiedene Gesichter & ist mehrdimensional. Und vor allem ist sie den wenigsten von Außen anzusehen. Armut heißt nicht, in zerschlissenen Klamotten herumlaufen und um Essen zu betteln.
Armut bedeutet:
schlechter Lebensstandard
mit gesundheitlichen Problemen
subtiler Stigmatisierung
weniger Bildungsmöglichkeiten
und fehlenden Perspektiven
Armut hat tief gehende psychische, emotionale und soziale Dimensionen, die das Leben Betroffener in vielfältiger Weise erschweren (20):
1) Armut heißt nicht einfach nur, wenig zu haben.
Relative Armut bedeutet langfristige Einschränkungen bei den ganz einfachen Dingen des Alltags: Ernährung, Bekleidung, medizinische Versorgung, soziale Sicherheit – das alles wirkt sich direkt auf die psychische Gesundheit von Kindern & Erwachsenen aus. Armut hat Einfluss auf das gesamte Leben eines Menschen.
2) Finanzielle Not erzeugt chronischen Stress
Armut geht mit finanzieller Not einher, die mit Stressbelastungen verbunden ist. Zukunftsängste & Sorgen sind in sozial benachteiligten Haushalten weit verbreitet und verursachen Dauerstress, der sich von den Eltern auf die Kinder überträgt.
3) Armut verhindert sozialen Austausch und Anerkennung
Fachleute sprechen vom Mangel an sozialer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Damit ist nicht gemeint, dass arme Menschen keine Freunde hätten und sich nie in Gruppen treffen.
Mangel an sozialer Teilhabe bedeutet, dass selbstverständliche Dinge einer Kultur wie Geburtstagsfeiern, Eis essen, Restaurant-Besuche, Urlaubsreisen, Theater oder Ausflüge für Menschen aus unteren Sozialschichten kaum möglich sind.
Während Mittel- und Oberschichten ihre Kinder mit absoluter Selbstverständlichkeit zur Nachhilfe, in den Sportverein, zu Klassenreisen, ins Kindertheater etc. schicken, sind Kids aus sozial benachteiligten Familien meist sich selbst überlassen. Einer der häufigsten Gründe: weil die Eltern viel arbeiten müssen, um den Lebensunterhalt zusammenzubekommen.
4) Hohes Konfliktpotential in Armutsmilieus
Armut bringt auch häufiger Konflikte und psychische Belastungen mit sich, wie einige Untersuchungen zeigen konnten. Und das in allen relevanten Sozialbereichen: Familie, Nachbarschaft, Freundschaften, Partnerschaften sind vermehrt von Konflikten geprägt.
Vgl. Depressionen beim Partner führen zu Stress & Überforderung
5) Armut führt zum Mangel persönlicher Ressourcen
Armut sorgt in Folge fehlender materieller und sozialer Ressourcen auch zum Mangel an persönlichen Ressourcen & Kompetenzen (kein Selbstwertgefühl, wenig Kohärenzgefühl / Kohärenzsinn, fehlendes Zugehörigkeitsgefühl, Probleme bei der Selbstregulation & Selbstwirksamkeitserfahrung etc).
6) Armut fördert Krankheiten
Armut ist Ursache für ein erhöhtes Krankheitsrisiko durch vielfältige Belastungen: Fehlernährung, mehr Stress & Konflikte, finanzielle Unsicherheit, Bildungsbenachteiligung & ungesunder Lebensstil u.v.m.
Wie ist arm & wer ist reich in Deutschland?
Die materielle und umstrittene Definition der Schichtzugehörigkeit wird seit Jahrzehnten über 3 Kriterien gemessen (13): Beruf, Einkommen, Bildungsgrad. Sozialwissenschaftler gehen vom Standard aus:
die Mittelschicht verfüge über 70 – 150 % des mittleren Einkommens: Ein Single zählt zur Mittelschicht, wenn er zwischen 1160 Euro und 2460 Euro netto verdient. Eine Familie mit 2 Kids in der Mittelschicht, hat pro Monat zwischen 2400 Euro und 5160 Euro netto zur Verfügung.
Alles darüber gehört zur „Oberschicht“: Familien mit einem Nettoeinkommen von 5500 Euro pro Monat genauso wie der Börsen-Manager mit seinen 44.000 im Monat.
Die Armutsgrenze verläuft nach traditioneller Definition bei weniger als 60 % des Haushaltseinkommens im Vergleich zum Durchschnitt. Wer im Jahr 2019 weniger als 1.074 Euro (Single-Haushalte) oder 1.396 Euro (Alleinerziehende mit 1 Kind) verdiente, galt als “sozial benachteiligt” bzw. “armutsgefährdet”.
Sind Depressionen ein Klassenproblem?
„Depressionen können jeden treffen“ lesen wir überall. Doch die Menschen einer bestimmten Schicht trifft die Depression doch viel häufiger als andere – und früher – und heftiger.
Ein Argument, das immer wieder für Aufregung sorgt. Vor allem bei jenen, die sich selbst zur oberen Mittel- oder Oberschicht rechnen.
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Die oberen 1000 in der deutschen Gesellschaft haben laut Untersuchungen (13) das Leistungsideal verinnerlicht.
Das sind Überzeugungen, die von der Nachkriegszeit beeinflusst sind: „Wenn man dann weiter fragt, sind die sozialen Unterschiede, so wie sie in Deutschland existieren, gerecht? Diejenigen, die in Reichtum aufgewachsen sind, sagen mit einer Mehrheit, die sind gerecht... weil sie das zurückführen auf Leistung. Die oben haben eben mehr geleistet und die unten ... die sitzen vorm Fernsehen, hauen sich Chips rein und gucken bescheuerte Programme. Wir dagegen, wenn wir fernsehen, gucken wir Arte und trinken teuren Wein.“ (Michael Hartmann, 13)
Tatsächlich galt in den 1950er Jahren das Prinzip des sozialen Aufstiegs durch Leistung. Unter- und Mittelschicht hatten reale Perspektiven, sich hoch zu arbeiten.
Die Ideale der Mittelschicht „Harte Arbeit führt zu verdientem Erfolg“ sind heute auch in der Oberschicht zementiert. Und in der Unterschicht, die ständig signalisiert bekommt, dies wäre der Maßstab.
Allerdings ist die Mobilität unter den sozialen Schichten längst nicht mehr so durchlässig, wie vor Jahrzehnten.
Legitimation des Wohlstands über Leistung & Vorurteile
“Jene Eliteangehörigen, die schon ihre Kindheit und Jugend unter privilegierten Bedingungen verbracht haben, die Bürger – und vor allem die Großbürgerkinder, sind mit großer Mehrheit fest davon überzeugt, dass die sozialen Unterschiede hierzulande gerechtfertigt sind; ihrer Meinung nach beruhen diese Unterschiede im Wesentlichen auf unterschiedlichen Leistungen.
Schon als Kinder haben sie erlebt, dass ihre Väter hart gearbeitet haben und die Zeit für die Familie bei vielen eher knapp bemessen war.
Diese Erfahrung hat sich dann in ihrer eigenen Berufskarriere bruchlos fortgesetzt. Auch sie arbeiten viel und ziehen aus all dem den Schluss, dass ihre harte Arbeit den entscheidenden Grund für den eigenen Erfolg und Wohlstand darstellt, wie schon für den ihrer Väter und teilweise auch Großväter.” (13, S. 33)
Dieses Mind-Set geht aber weit an der Realität vorbei, denn von Leistungsgerechtigkeit, Chancen-Gerechtigket und Bedarfsgerechtigkeit kann bei den Spitzengehältern der Oberschicht nicht die Rede sein.
Noch viel schlimmer aber ist: Die Elite des Landes lebt tatsächlich in einer Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln & Normen.
Dabei geht es hier eigentlich gar nicht um die Frage, ob das Leid der einen schlimmer ist, als das der anderen.
Es geht hier um die Frage nach Gerechtigkeit,
eine zentrale Thematik im Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft.
Kein Mensch, der einigermaßen als objektiv gelten will, kann abstreiten, dass mehr Wohlstand ein Mehr an Ressourcen & Freiheiten bedeutet. Es geht hier um ein Mehr an Möglichkeiten, Leid zu bewältigen und das Leben gestalten zu können, die ein gewisses Vermögen mit sich bringt.
Und das psychische Gesundheit sehr wohl mit Sozialer Gerechtigkeit zusammenhängt, wie so viele Untersuchungen immer wieder aufzeigen.
Angesicht meiner persönlichen Erfahrungen und der Datenlage ist die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht tatsächlich entscheidend, wenn es um psychische Gesundheit geht.
Geld ist natürlich nicht mit Gesundheit gleichzusetzen. Nicht alle Menschen in prekären Verhältnissen haben Depressionen oder eine andere Krankheit (aber fast die Hälfte!). Und umgekehrt sind auch nicht alle Menschen aus wohlhabenden Verhältnissen kerngesund.
Aber es gibt deutliche Zusammenhänge, die nicht ignoriert werden dürfen. Die Armut in Deutschland hat sich in den letzten Jahren verfestigt (13).
Schließlich ist in Deutschland jedes 4. oder 5. Kind von Armut betroffen, bei den Erwachsenen ist ungefähr jeder 5. armutsgefährdet (also eigentlich schon am Existenzminimum).
Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes (20) leiden 30 % der Männer und 40 % der Frauen aus unteren sozialen Schichten unter psychischen Krankheiten.
Das ist eine enorme Zahl. Und nicht mal die reale Zahl, wenn noch veraltete Armutsdefinitionen angesetzt werden.
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Sozioökonomische Risikofaktoren für Depressionen
Dass bei einer Depression verschiedene soziale Faktoren zum Tragen kommen, belegen diverse Studien. Die wichtigsten sozioökonomischen Risikofaktoren für depressive Störungen decken sich auf allen Ebenen mit der relativen Armutsdefinition:
Arbeitslosigkeit, insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit
Alkohol- und Drogenmissbrauch
niedriger Bildungsabschluss
eingeschränkte Ausbildungsmöglichkeiten
beschränkte Berufs-Chancen
niedriges Einkommen
geringerer Besitz von Kulturgütern
kaum kulturelle Teilhabe (Theater, Museum, Oper)
schlechte Wohnverhältnisse (Ghettos beengter Wohnraum)
Migrationshintergrund & Bildungsbenachteiligung
fehlende finanzielle Absicherung
Soziale Ungleichheit & Depressionen
„Persönliche emotionale Unsicherheit und nicht gestillte Wünsche nach Geborgenheit können durch instabile soziale Bedingungen, unsichere materielle Verhältnisse, vor allem Geldnot, ständig reaktiviert werden und so in einen Kreislauf von Depression und prekären finanziellen Verhältnissen führen. Eine unsichere, nicht gehaltene soziale Situation kann auf emotionaler Ebene auch immer wieder die gleichen schmerzhaften Erinnerungen aus der Kindheit reaktivieren und aufrechterhalten.“ (Jöbges)
1) Zusammenhang zwischen Armut, Dauerstress & Depression
Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Sozialstatus und Bildungsgrad die 2 wesentlichen Faktoren für psychische Gesundheit sind.
Stress wird von Menschen in unsicheren Verhältnissen nicht nur stärker empfunden als bei Angehörigen einer höheren Schicht. Sie haben auch mehr Stress!
2) Finanzielle Ressourcen sind relevant
Hilfesuchende müssen lange auf einen Therapieplatz warten. Über 6 Monate bis ein Jahr Wartezeit ist vor allem in ländlichen Gebieten normal. Und hier kommt das Geld ins Spiel: wer es sich leisten kann, nimmt eine private Psychotherapie in Anspruch.
Doch auch bei Kassen-Therapeuten*innen ist mit Kosten zu rechnen: Fahrten zur Therapie, Ausfall der Arbeitszeit und somit von Einkommen, Kinderbetreuung u.s.w. sind für Menschen mit niedrigem Einkommen schwer zu stemmen.
Und verstärken wiederum den Teufelskreis aus Geldsorgen und Depression. Gerade diese Menschen brechen Therapien ab, weil die Belastung zu groß wird. Oder suchen sich gar nicht erst Hilfe.
3) Äußere Stressfaktoren reaktivieren Depressionen
Depressionen sind schrecklich und gefährlich – egal, ob Betroffene der Ober- oder Unterschicht angehören. Wer jedoch auch noch mit finanziellen Notlagen, anderen Gesundheitsproblemen, Konflikten in der Familie, fehlenden Perspektiven auf bessere Lebensverhältnisse sowie unsicheren Arbeitsverhältnissen kämpft, hat es ungemein schwerer, gegen die Depression anzukommen bzw. mit ihr zu leben.
Stress & akute Belastungen verstärken Depressionen, das ist ebenfalls hinlänglich untersucht.
Vorlesung zur gesundheitlichen Ungleichheit und ihren Folgen
Die Lebenserwartung in Deutschland steigt - aber längst nicht für alle. Menschen mit weniger Bildung und geringem Einkommen sterben Jahre vor denen, die über einen vergleichsweise hohen sozialen Status verfügen. Ob und wie dies geändert werden könnte, damit befasste sich die 17. Leopoldina Lecture am 20. Oktober in Herrenhausen.
Fazit: Gesundheitliche Ungleichheit
Leider wird das Thema soziale Ungleichheit und psychische Gesundheit viel zu sehr vernachlässigt. Selbst innerhalb der psychotherapeutischen Versorgung (Stichwort: kritische Psychotherapie). Denn selbst das Ansprechen auf die Therapie, wird von der sozialen Schicht der Patienten*innen stark beeinflusst (vgl. CAMS Study).
Natürlich ist nicht jeder arme Mensch krank oder wird es – obwohl 30-40 % schon fast die Hälfte sind! Nicht zu vergessen die Dunkelziffer, schließlich suchen sich sozial benachteiligte Menschen sehr viel seltener Hilfe, als Menschen aus höheren Schichten.
Depressionen sind nicht monokausal und monodimensional. Armut aber auch nicht. Soziale Ungleichheiten ziehen einen Rattenschwanz an negativen Effekten mit sich, die sich auf verschiedenen Ebenen bis ins hohe Alter auswirken: Sozialleben, Arbeitsleben, Familienleben, Bildungskompetenz, Gesundheitsleben etc.
Hierzulande leben weit mehr Menschen in relativer Armut, als viele denken. Und diese Form der Armut versteckt sich ebenso gut wie die Krankheit Depression. Von außen schlecht zu erkennen und existenziell einschränkend.
Quellen:
1) Europäische Kommission für Gesundheit & Verbraucherschutz. Bericht „Maßnahmen gegen Depressionen – Psychische Gesundheit und psychisches Wohlbefinden verbessern und die negativen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Depressionen bekämpfen“, 2004)
2) Thomas Lampert, Claudia Schmidtke: Armut, soziale Ungleichheit und psychische Gesundheit (RKI Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring)
3) Hanno Hoven: Sozioökonomische Position und depressive Störungen. Die Rolle von Erwerbs- und Arbeitsbedingungen (Dissertation, 2019)
4) Psylex: Klinische Depression stark verbunden mit sozioökonomischen Bedingungen (Studie im BMC Medicine, August 2011)
5) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Siegfried Geyer: Soziale Ungleichheit und Gesundheit/Krankheit (doi:10.17623/BZGA:224-i109-1.0)
6) Christian Hilscher: Risiko für Depressionen in Deutschland besonders hoch
7) The Lancet Public Health Prevalence and variability of current depressive disorder in 27 European countries: a population-based study – DOI:https://doi.org/10.1016/S2468-2667(21)00047-5
8) Statistisches Bundesamt: Datenreport 2021 – Gesundheitszustand der Bevölkerung und Ressourcen der Gesundheitsversorgung (Auszug)
9) TK Dossier Depressionsatlas (2015): Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen
10) Azar Ahmadzadeh: Die Auswirkung sozialer Ungleichheit in Deutschland auf psychische Erkrankung am Beispiel der Depression (2015)
11) Deutsches Ärzteblatt: Epigenetik: Wie Armut auf Dauer psychisch krank macht (2016)
12) Neurologen und Psychiater im Netz: Armut - Risikofaktor für die psychische Gesundheit (2013)
13) Bundeszentrale für politische Bildung: Oben - Mitte – Unten. Zur Vermessung der Gesellschaft (APuZ-Edition)
14) Tamara Niebler: Arme Kinder, arme Familien – warum arme Kinder arm bleiben (Deutsche Lebensbrücke, Kinderhilfe Blog)
15) Isabel Fannrich-Lautenschläger: Lebenserwartung – Wie Armut und Gesundheit zusammenhängen
16) Psylex: Armut und Depression: Arme Menschen sind wahrscheinlicher krank (Studie 2012)
17) Psylex: Kinderarmut verbunden mit Gehirnveränderungen (Studie 2016)
18) Psylex: Depression: Einkommen, Lohn, Ökonomische Faktoren (Studiensammlung)
19) Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V.: Diskussionspapier zum Kongress Armut und Gesundheit 2022 (22. - 24. März 2022)
20) RKI Gesundheitliche Ungleichheit in verschiedenen Lebensphasen – Gesundheitsberichterstattung des Bundes gemeinsam getragen von RKI und Destatis (2017)
21) Stephan Müters et al: Arbeitslosigkeitserfahrung, soziale Unterstützung und Depression (Ergebnisse der DEGS1-MH-Studie 2020)