Depression: körperliche Symptome – Die Korporifizierung des Leibes
Major Depressionen erzeugen neben psychischen Problemen häufig körperliche Symptome. Trotzdem zählen sie laut gängiger Medizin zu den psychischen Störungen. Die phänomenologische Philosophie sieht das anders: So wie die Seele verliert auch der Leib sichtbar an Lebendigkeit.
Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen
Somatische Symptome bei Depressionen
Körperliche Anzeichen von Depressionen können vielfältig sein: Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schlafstörungen, Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Rückenschmerzen u.v.m.
Körperliche Anzeichen der Depression
Depressionen zählen klassischerweise zu den psychischen Erkrankungen, genauer gesagt den affektiven Störungen. Damit soll auch der Schwerpunkt einer depressiven Erkrankung benannt sein: Affekte und Emotionen sollen betroffen sein, meist in Verbindung mit negativen Glaubenssätzen und Gedankengängen, allen voran: depressive Angst, Unzulänglichkeit und Schuld.
Körperliche Probleme sind nach diesem weit verbreitetem Konzept als Randerscheinungen zu verstehen, die mal auftreten können, doch nicht typisch für depressive Störungen sind.
Im medizinischen Fachjargon spricht man daher von somatisch-vegetativen Begleiterscheinungen. Treten diese auf, wird die Diagnose Depression mit einem entsprechenden Zusatz versehen.
Nach dem kognitiven Modell, kommt es deshalb zu Störungen der Affekt- und Emotionsregualtion, weil die Informationsverarbeitung im Gehirn fehlerhaft abläuft und ein verzerrtes Denken hervorbringt.
Kommen körperliche Depressionssymptome hinzu, dann sei das auf die Unfähigkeit der Person zurückzuführen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, auszuhalten und ihnen Ausdruck zu geben.
Somatische Depression als Sonderfall
Von einer somatisierten, körperlichen oder larvierten (versteckten) Depression ist dann die Rede.
Die psychischen Konflikte werden sozusagen verkörpert, sind aber innerpsychischen Ursprungs und primär affektiv. – So lautet zumindest die Erklärung der gängigen Psychopathologie und -therapie.
Körperliche Missempfindungen & Probleme sind häufig bei Depressionen
Die Sache ist nur: nicht alle Patienten oder Patientinnen mit Depressionen zeigen die affektiven oder kognitiven Symptome einer Depression. Aber sehr viele Betroffene sprechen über anhaltende oder wiederkehrende körperliche Beschwerden.
Und das nicht zu knapp! Auf somatischer Ebene gibt es eine ganze Bandbreite von häufigen Anzeichen:
Körperliche Symptome bei Depressionen
Appetitlosigkeit,
Schlafstörungen,
Magenschmerzen,
Gewichtsverlust,
Durchfall oder Verstopfung
diffuse Kopf- oder Rückenschmerzen,
Schwindelanfälle,
Taubheit,
Kreislauf-Beschwerden,
Stoffwechselstörungen u.s.w.
Noch schlimmer. Depressionen können sogar chronische körperliche Erkrankungen auslösen, wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Diabetes. Auch erhöhen sie das generelle Risiko einer Person für Gesundheitsprobleme und Erkrankungen jeder Art. (7)
Das alles macht körperliche Depressionssymptome nicht zu einer raren Sonderform, sondern zur typischen „Depression“
(wenn sich das überhaupt so sagen lässt) Depressionen wären also keine psychischen, innerlichen Angelegenheiten, sondern eine leib-seelische Problematik.
Die Depression als vitale Krankheit
Tatsächlich wird dieses ganzheitliche Verständnis von Depressionen durch kulturübergreifende Studien gestützt. So zeigen zum Beispiel kulturelle Vergleiche, dass Depressionen in den verschiedenen Ländern sehr häufig körperliche Missempfindungen auslösen:
Abgeschlagenheit, Energielosigkeit, Motivationsverlust, Schlafprobleme, Schmerzen und biologische Rhythmusstörungen waren die häufigsten Beschwerden – und das noch weit vor emotionalen oder psychischen Symptomen, wie Schuldgefühle oder Niedergeschlagenheit. (2)
Bemerkenswert ist auch, dass Angehörige anderer Kulturen vorwiegend über die Unfähigkeit reden, dem Alltag nachzukommen oder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Das ist ein bemerkenswerter Unterschied zu westlichen Kulturen, in denen ein 2-Welten-Konzept vorherrscht:
hier das Innere, Subjektive, Psychische - getrennt vom Außen, der Welt, dem Objektiven.
Ganz andere Prinzipien finden sich in Kulturen, die nicht so individualistisch geprägt sind, dafür aber den Fokus auf Gemeinschaft und spirituelle Zusammenhänge legen.
Menschen in vielen anderen Ländern erleben Depressionen nicht individuell, innerlich und psychisch, sondern als ein leibliches, zwischenmenschliches und atmosphärisches Krankheitsphänomen.
(Dafür gibt es zahlreiche Beispiele und Belege, Vgl. die Quellen 8 und 9)
Diese Auffassungen decken sich mit dem leibphänomenologischen Menschenbild: nach Merleau-Ponty ist der Leib des Einzelnen stets eingerahmt in eine Zwischenleiblichkeit, einer Zwischenmenschlichkeit. Sie ist die Basis für Empathie, gemeinsames Erleben und Kommunikation.
Die Doppeldeutigkeit der Leiblichkeit
Leib-sein und Körper-haben
Wenn in der Phänomenologie von Leiblichkeit die Rede ist, geht es um eine grundsätzliche Polarität im Menschen: Leib-sein und Körper-haben (Fromm).
Einerseits bin ich eins mit meinem Leib. Schließlich kann ich nicht außerhalb von ihm wahrnehmen oder existieren. Mein Leib, das bin ich.
Über ihn erfahre ich die Zeit, mich selbst, den Raum & meine Umwelt – er wirkt in allen Gefühlen und Handlungen mit. Genau dieses vorreflexive, einheitliche Erleben ist mit Leib-sein gemeint.
Gleichzeitig kann ich meinen Leib wie ein physisches Objekt betrachten, so wie andere Dinge auch. Als Mensch bin ich imstande, meinen Körper in seiner physischen Natur wahrzunehmen.
Ich bin in der Lage, gedanklich Distanz zu meinem Leib aufzubauen und ihn zu objektivieren. Dieser Aspekt des Selbstverhältnisses ist mit Körper-haben ausgedrückt.
Der Bruch mit der Leiblichkeit bei psychischen Störungen
Die Doppeldeutigkeit der menschlichen Leiblichkeit ist für die phänomenologische Psychiatrie hoch relevant, denn psychische Störungen zeigen unter anderem, wie das selbstverständliche Ineinandergreifen von Seele und Leib leidvoll auseinanderklaffen kann.
Das Selbstverständliche ist nicht mehr selbstverständlich, sondern entfremdet sich und zieht nun alle negative Aufmerksamkeit und Energie auf sich.
Zum Beispiel, wenn ich an einer Erkältung oder Grippe leide. Wie ein Hemmnis oder eine Last wirkt der Leib. Er ist nicht mehr selbstverständlich, sondern drängt sich als schmerzender Körper in mein Bewusstsein.
Das Leibempfinden ist seltsam verändert und überdeutlich als Körper spürbar.
So empfinde ich es auch in einer Depression. Die Krankheit wird unter anderem als Entfremdung vom leiblichen Selbst erfahren.
Das Körper-haben, das Bewusstsein vom eigenen Körper als physisches Objekt, verselbständigt sich und beherrscht das Empfinden. Der gelebte Leib erkaltet zu einem körperlichen Ding. Er wird zum Ding unter Dingen.
Korporifizierung des Leibes in der Depression
Der Leib verliert seine ursprüngliche Bedeutung. Er fühlt sich entseelt an, von mir abgespalten und fremd. Darum spricht Fuchs in Anlehnung an das Lateinische corpus (= Leichnam) von einer Korporifizierung (2). Die gesamte Vitalität nimmt ab und verliert sich. Das klingt nicht nur schrecklich, sondern ist auch schrecklich.
Die natürliche Polarität von Leib und Körper geht in einer Depression abhanden.
Und damit alles, was meine Existenz mitbegründet und mitträgt: mein Selbstverständnis als Mensch, mein Verhältnis zur Welt und meine Bindung zu anderen.
Die Entfremdung des Leibes kann sich in verschiedenen Arten und Weisen zeigen: starre Glieder, dissoziative Zustände, Schmerzen, bleierne Schwere und vieles mehr.
Gefangen im Körper
Grundsätzlich zeigt sich die Depression in einem seltsamen Gefühl von Gefangenschaft und Einengung.
Während es sich für manche so anfühlt, als werde die Brust von einem Panzer umspannt (Panzergefühl), spüren andere einen Druck im Kopf, haben Atemprobleme oder extreme Beklemmungsgefühle.
Der entfremdete Körper mit seinen Schmerzen, Missempfindungen und Beschwerden wird zum Gefängnis, das mich von der Außenwelt abschneidet.
Es kann auch vorkommen, dass der Körper derart verrückt spielt, dass sich Bewegungen nicht mehr richtig ausführen lassen. Es braucht dann äußerste Willenskraft, die versteinerten Glieder überhaupt zu bewegen.
Aus diesem Grund können viele Betroffene den ganzen Tag nicht aufstehen oder alltägliche Dinge verrichten, wie duschen oder aufräumen.
In der Psychologie würde man von Antriebshemmung oder Antriebslosigkeit sprechen
Ich verstehe mich allerdings nicht als Maschine, die angetrieben wird (vgl. entmenschlichte Menschenbilder), sondern erlebe mich in der Depression entfremdet, leblos, niedergedrückt (schwerfällig, als würde mich etwas gewaltsam zu Boden zwingen). Mir fehlt nicht der Antrieb oder die Motivation, mir fehlt die vitale Kraft und Leichtigkeit des Lebendigen.
Bewegungen sind auf das Notwendigste reduziert. Ebenso kann es passieren, dass die Beine oder Arme versteifen. Die Bewegungen, wie zum Beispiel das Gehen, wirken im Selbsterleben dann seltsam abgehakt.
Im schlimmsten Fall kommt es zu einem depressiven Stupor, einem Zustand der psychischen und motorischen Versteinerung bzw. Lähmung.
Separiert und vereinzelt erscheint mir mein körperliches Befinden in der Depression nicht mehr als vitale Kraft, sondern als ein Hemmnis und Hindernis, überhaupt leben zu können.
Das Verschwinden der Farben
Verändert sich der Leib als lebendiges Medium zur Umwelt und zum Mitmenschen, dann verändern sich auch meine Zugänge zur Außenwelt.
Rein formal bleibt alles gleich. Ein Mensch mit Depressionen kann andere Menschen, Tiere, eine schöne Landschaft, Wolken am Himmel usw. erkennen und beschreiben.
Der Unterschied in der depressiven Wahrnehmung liegt nicht innerhalb der Form von Sinneseindrücken, sondern in der verzerrten Qualität der sinnlichen Erfahrung. Betroffene finden die unterschiedlichsten, pointierten Beschreibungen für diesen Verlust an Sinnesqualität:
Die Welt wird grau und irgendwie fahl
Alles scheint mit einem milchigen Schleier überzogen
Die Farben der Dinge verblassen
Alles ist schal
Die Wahrnehmung verliert an Intensität, Lebendigkeit und Bedeutung. Die Welt wird farblos – sinnlos:
„...etwas fehlt, das eigentlich da sein müsste...Wie durch einen Abfluss fließt alle Farbe eines Bildes heraus und lässt nur noch leere Formen zurück.“
Bleierne Schwere der Depression
In Denken und Motorik gehemmt zu sein, ist ein quälender Zustand, den ein Mensch gegen seinen Willen erfährt. Als müssten Körper und Geist gegen einen unsichtbaren Widerstand, der sie niederdrückt oder einklemmt, kämpfen und alle Kraft aufbringen, um die Barriere wenigstens zeitweise zu überwinden.
Die Enge und Starre des Körpers können sich aber ebenso in einer körperlichen Schwere äußern, die alles je Erfahrene an Intensität übertrifft. Oben erwähnte ich bereits das Gefühl des Niedergedrückt-werdens. Es fühlt sich an, als wäre mein gesamter Körper in Blei gekleidet.
Das Atmen fällt schwer, die Glieder lassen sich nur mit größter Willensanstrengung bewegen, das Sprechen wird langsam. Jede kleinste Tätigkeit, jede Bewegung kostet mich immense Kraft.
Auf Außenstehende wirken Betroffene entsprechend kraftlos und schlaff in ihrem Bewegungsmuster.
Kraftlose Müdigkeit & Erschöpfung
Die körperliche Erstarrung in einer Depression kann sich ebenso in extremer Müdigkeit und Erschöpfung zeigen, die viele Betroffene permanent quält.
Sie besitzen jedoch eine ganz andere Qualität, als alltägliche Erschöpfungszustände, wie sie jeder gesunde Mensch immer wieder mal durchlebt.
Ermüdung bei Depressionen ist extrem ruhelos, zermarternd und voller düsterer Stimmungen. Sie gibt keinen Freiraum, keine Erholung, keine Weite. Da ist keine Entspannung, nur diese enge, lebensunfähige Energielosigkeit & Mattigkeit.
Mein Denken geht ins Leere, ist seltsam dumpf und langsam. Darunter leiden notwendig auch meine kognitiven Fähigkeiten: Gedächtnis, Konzentration, Sprechen etc.
Die körperliche Schwäche und mentale Müdigkeit wandeln sich in meinem Selbsterleben zum Zeichen meines persönlichen Versagens als Mensch, Person, Mann oder Frau.
Grundsätzlich ist die extreme Müdigkeit und Kraftlosigkeit der Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung im leib-seelischen Selbsterleben eines Menschen.
Appetitlosigkeit / Appetitsteigerung
Selbst Nahrung, das was einem Menschen von Natur aus physiologisch Kraft gibt, wird zum Fremdkörper. Sie bereitet keinen Genuss mehr, wird zum fahlen Ding, das mich nicht anspricht, nicht interessiert, sinnlos erscheint.
In der Anorexie (Magersucht) ist es genau dieses leibliche Hungergefühl, das Anorektikerinnen suchen.
Bei Depressionen ist das anders: ich spüre den Hunger dumpf, aber er ist mir gleichgültig, unbedeutend und belanglos. Es gibt keinen Grund, zu essen.
Selbstverständlich kann genauso das Gegenteil eintreten: übermäßiger Appetit und Gewichtszunahme sollen bei atypischen Depressionen auftreten. In diesen Fällen wird die Nahrung zum äußerlichen Kompensationsmittel, das sich Betroffene verzweifelt “einverleiben” möchten.
Doch es gelingt nicht.
Fazit: Korporifizierung des Leibes
Es gäbe noch viele weitere Beispiele für das gestörte leibliche Selbsterleben bei Depressionen: Schlafprobleme, Schmerzen, Magen-Darm-Probleme u.s.w.
Trotzdem werden körperliche Probleme bei Depressionen immer noch von Fachleuten als seltenes Begleitphänomen abgetan. Oder direkt in Frage gestellt, wenn Patienten sich darüber äußern.
Wer so argumentiert, spaltet den Menschen in 2 Teile – und begreift nicht im Ansatz, was mit Betroffenen in dieser Krankheit passiert. In den einfachen Worten des Sokrates (Dialog Phaidros): „Und glaubst du denn, die Natur der Seele richtig begreifen zu können, ohne die Natur des Ganzen zu kennen?“
Der Bezugsrahmen ist ausschlaggebend. Psychisches Kranksein zeigt sich im Erleben, im leiblichen Erscheinen und Verhalten, im Lebensvollzug (Zeitlichkeit), in den Beziehungen zu anderen.
Es ist nicht einfach nur traurig, dass die Psychotherapie das Individuum vernachlässigt. Es ist schwerwiegend, wenn Patienten ihr Selbsterleben abgesprochen wird – der wesentliche Teil des Menschen, der in jeder Krankheit leidet.
„Der Patient ist krank,
das heißt, seine Welt ist krank“
Dieser Artikel ist eine verkürzte Fassung aus meinem Buch über Depressionen
Quellen:
1) Anonymes Zitat auf meinem Blog www.die-inkognito-philosophin.de
2) T. Fuchs: Randzonen der Erfahrung, S. 51
3) R. Kather: Der menschliche Leib – Medium der Kommunikation und der Partizipation
4) M. Hähnel und M. Knaup (Hrsg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, wbg Verlag, Darmstadt 2013
5) Dan Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger. UTB GmbH, 2007
6) Psylex: Menschen mit Depressionen entwickeln häufiger mehrere chronische körperliche Krankheiten (Health Psychology – DOI: 10.1037/hea0000738 Studie 2019)
7) Jennifer Grad: Körpererleben in der Depression in unterschiedlichen kulturellen Kontexten: Ein Vergleich zwischen Deutschland und Chile (Dissertation 2016 Uni Heidelberg)
8) Christiane Gelitz: Psychodiagnostik: Depressionen äußern sich unterschiedlich
9) Schattendasein: das unverstandene Leiden Depression