Massenmensch Lehrerin

 

Ein Herz für Lehrer #3

Über das Ertrinken in der Menge

Wiederholung

  • In der 1. Folge dieser Reihe habe ich die besonderen Stressoren, denen Lehrkräfte an deutschen Schulen ausgesetzt sind, beschrieben.

  • In der 2. Folge habe ich meine These erläutert, dass Lehrkräfte eine pathogene, d.h. krankmachende Strategie benötigen, um in dem kränkenden System Schule überleben zu können. Ich habe das Knautschzonen-Modell vorgestellt und mit einem Beispiel erläutert.

 

CROWDING
Warum Lehrerinnen in der Menge ertrinken und es nicht einmal merken

In dieser Folge will ich aufzeigen, dass es noch schlimmer kommt:

Meine Thesen

Crowding, also ständiges Sich-in-einer-Masse-Befinden, ist besonders krankmachend, zumal kaum eine Lehrerin Crowding wahr- oder ernstnimmt.

Crowding bedingt die Erhöhung nahezu aller physiologischen Parameter. Es erfordert ständige physische, psychische und geistige Arbeit und verbraucht Energie. Crowding wirkt wie ein PC-Hintergrund-Programm, das ständig läuft und das System schwächt.

Crowding wirkt immer und überall!

Zur Heilung des kranken Systems Schule ist die wichtigste Forderung deshalb:

Der einzelne Lehrer benötigt Rückzugsräume und echte Pausenzeiten!

Diese Thesen werde ich im Folgenden belegen.

Massenmensch LehrerIn – das Crowding

„Der Mensch in der Menge – das ist ein Span in ein Bündel gepresst, das, der Strömung überliefert oder durch einen Stecken uferher Richtung um Richtung empfangend, im Wasser treibt. Mags dem Span zuweilen wie Eigenbewegung erscheinen, er hat keine …“ (Martin Buber 1953) (s. Fußnote 1)

1) Literaturangaben in dieser Folge auf Nachfrage bei mir unter praxis@mehrgardt.de erhältlich

Eine Pause im Schulalltag.

Lehrerin S. zeichnet einen Grundriss.

Frau S. schildert mir ihren Arbeitsalltag. Dazu zeichnet sie den Grundriss ihres Weges vom Klassenraum zum Lehrerzimmer auf. Jeden Tag geht sie mehrmals diese Strecke, vorbei an zwölf Klassenräumen.

Mit einem Kreuz markiert sie jeden Schüler, dem sie unterwegs begegnet. Von ca. 150 Kreuzen unterlegt sie 27 rot, Schülerinnen, die ihre Aufmerksamkeit fordern: Einige richten an Frau S. kurze Fragen. 10 Schüler stellen gerade etwas Unzulässiges oder Gefährliches an oder weinen, wodurch sich Frau S. zu einer Intervention gezwungen sieht. 5 Schülerinnen verhalten sich auf eine Weise, dass sie dahinter ein akutes Problem vermuten muss. Über 7 Schüler muss sie im Lehrerzimmer unbedingt mit dem zuständigen Kollegen reden. Die meisten dieser Schülerkontakte laufen simultan ab.
All das ereignet sich vor dem Hintergrund einer Lärm-, Geruchs- und Bewegungskulisse, zu der die meisten der 150 Schüler beitragen. Frau S. trägt Arbeitsmaterial mit sich, so dass sie sich keine Notizen machen kann.

Im Lehrerinnenzimmer zwecks Erholung angekommen, sieht sie sich 13 Kollegen gegenüber, die sie selbst ansprechen muss bzw. von denen sie ihrerseits mit Informationen oder Aufträgen versehen wird. Sie hat keinen festen Platz für ihre Materialien und für sich selbst, weder hier im Lehrerzimmer noch im Klassenraum. Überall ist Auswärtsspiel.

Ein Patient ertrinkt in der Menge.

Ein Fachlehrer für Naturwissenschaften berichtet, dass er Woche für Woche über 200 verschiedene Schüler zu unterrichten habe. Deren Namen versuche er zu behalten, was ihm aber immer schwerer falle.

Demgegenüber ist es interessant festzuhalten:

… während des Hauptteils der Menschheitsgeschichte bestand die Gruppe, der ein Mensch für sein ganzes Leben angehörte, aus 15-150 Leuten.(2)

2) Aronson et al. 1983, S. 142

 

Crowding und soziale Dichte

Definition

Crowding (deutsch etwa Massierung, Überfüllung, abgeleitet vom englischen crowd = Masse) bezeichnet die psychische, mentale und physiologische Reaktion auf eine erhöhte soziale Dichte.

In einem engen Fahrstuhl oder beim Sich-Begegnen in einem langen Flur kann bereits eine einzige weitere Person Crowding auslösen. Crowding ist nicht an eine negative soziale oder physikalische Umgebung gebunden.

Experimente

1962 wiesen Forscher an Rattenstichproben einen behavioral sink (Verhaltensabbau, zB gesteigerte Aggressivität, abnormes Fressverhalten, Kannibalismus) als Folge übergroßer sozialer Dichte nach.

Erste humanpsychologische Dichteexperimente in den 60-er Jahren ergaben Effekte erhöhter Dichte auf das Sozialverhalten von Kindern, wie etwa zunehmende Aggressivität, abnehmende positive soziale Interaktionen. Ebenso konnte eine negative Wirkung von Überfüllung auf Stress, schlechte Gesundheit und zynische Einstellungen nachgewiesen werden.

Positive Effekte des Crowdings?

Zwar gab es auch gegenteilige Befunde. Da viele Erhebungen auf subjektiven Bewertungen beruhen, sind diese jedoch wegen der Effekte des Dissoziierens – vgl. die letzte Folge – nicht aussagekräftig. Mit anderen Worten:

Negative Effekte des Crowdings treten oft auch dann auf, wenn eine Person eine Situation als positiv erlebt.

Ein Modell des Crowdings

s.u. Abbildung

Crowding tritt in sehr verschiedenen Facetten zutage. Insbesondere bedeutet es:

  • Behavioral constraint: Einschränkung der Bewegungs-, Verhaltens- und Wahlfreiheit. An diesem Aspekt wird deutlich, dass nicht nur soziale Dichte, sondern auch bspw. ein Festgelegtsein auf (widersprüchliche!) soziale und professionelle Rollen, zB Eltern gegenüber, eine Einschränkung der Wahlfreiheit mit sich bringen kann.

  • Low influence - high demand: Eine Reduzierung der Verhaltensmöglichkeiten (low influence) bei gleichzeitig hohen Anforderungen (high demand) gilt als Risikofaktor des Burnout.

  • Overload: Übermaß an kognitiver, sensorischer und sozialer Reizung. Neben einer Überstimulation durch akustische, optische, taktile, olfaktorische, thermische (und bakterielle, virale!) Reize fällt unter diesen Aspekt auch – wie im geschilderten Beispiel – ein Zuviel an Zuständigkeit, Bedeutung und Verantwortlichkeit.

  • Overmanning: Überbesetzung verfügbarer Positionen, Rollen und Ressourcen durch zu viele Individuen.

  • Verlust der Kontrolle interpersonaler Grenzen: Die Lehrerin, die sich aus Gründen der Aufsichtspflicht unter jeder Bedingung jeweils 45 Minuten im Klassenraum aufhalten muss, sich aufgrund ihrer professionellen Rolle Kontaktforderungen nicht entziehen kann, besitzt nur noch minimale Möglichkeiten, soziale Grenzen zu bestimmen.

  • fehlende Privatheit und fehlende Ressourcen: Zur Kompensation der genannten Faktoren stehen weder geeignete Schutz- und Rückzugsräume noch ausreichende Ressourcen zur Verfügung.
    Bspw berichtete mir eine Patientin, dass es ihr bei Durchfall nicht möglich sei, ohne Verletzung der Aufsichtspflicht die Toilette aufzusuchen!

Was kann man gegen Crowding tun?

Mit dieser Frage beschäftige ich mich in der nächsten Folge. Hier nur so viel: Lehrer benötigen dringend Ausgleich: regelmäßige Unterbrechungen der Lehrtätigkeit, geringere Klassenfrequenzen uvam!

Wissenschaftliche Studien?
Lehrerin – die „vergessene“ Profession

Die Betrachtung der vielfältigen Erscheinungsformen des Crowdings legt zwei Hypothesen nahe, nämlich dass …

  1. unter diesen Bedingungen Crowding schädliche Auswirkungen auf die biopsychosoziale Gesundheit hat und dass

  2. diese Faktoren im Lehrerberuf im besonderen Maße gegeben sind.

Wir können festhalten:

  • Erhöhtes Risiko: Tatsächlich attestieren klinische Untersuchungen Lehrerinnen ein hohes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko, bspw. hinsichtlich Tinnitus, Hörsturz, Herzinfarkt, Schlaganfall, Angstzuständen, Depressionen, Süchten, Suizidalität (vgl. 1. Beitrag dieser Reihe).

    Insofern sollte man erwarten, dass sich die wissenschaftliche Erforschung des Crowdings seit den 60-er Jahren intensiviert der Untersuchung des Tätigkeitsfeldes Schule gewidmet hätte.

    Dies scheint aber kaum der Fall zu sein; vielmehr ist zu beobachten, dass …

  • Lehrbücher der Sozial- und Arbeitspsychologie das Thema Crowding kaum noch thematisieren.

  • Beforschungen von sozialer Dichte und Crowding nur noch im Bereich der Umwelt- und Ökopsychologie stattfinden, hier aber eher im Zusammenhang mit Stadtentwicklung. Diesbezügliche Befunde sind kaum auf die Lehrertätigkeit zu übertragen.

  • Stichwort-Recherchen in Büchern und Ratgebern zum Thema Crowding sowie meine eigene Literaturrecherche vor einigen Jahren kaum Treffer ergaben.

  • Äußere und strukturelle Faktoren zwar gelegentlich in derartigen Publikationen als stressbedingend identifiziert werden; dennoch wird tendenziell der Lehrerin die „Schuld“ am Stress zugeschrieben:
    Überengagement, fehlerhafte kognitive Verarbeitung, Perfektionismus, narzisstische Persönlichkeitsstruktur, fehlende Abgrenzungs-Entspannungs-Fähigkeit ...
    Damit wird die Aufgabe der Stressbewältigung ihr allein überlassen.

Woher kommt diese eklatante Diskrepanz?

Der blinde Fleck

Eine mögliche Erklärung mag darin liegen, dass einflussreiche Stresstheorien das Augenmerk der Forscher weg von den objektiven strukturellen Bedingungen hin zu individuellen kognitiven Bewertungs- und Bewältigungskompetenzen lenken, weil dieser Ansatz gut zur heute vorherrschenden kognitiven Verhaltenstherapie passt.

Insgesamt scheint sich in der heutigen offiziellen Psychotherapie ein gewisser blinder Fleck für gesellschaftliche Krankheitsfaktoren herausgebildet zu haben. Ich verstehe dies so, dass Psychotherapie heute nicht mehr Kritikerin der sozialen Systeme ist, sondern Reparaturbetrieb.

Deshalb ist zu fordern:

Wissenschaftliche Erforschung des Arbeitsplatzes Schule tut Not!

Neben Fragebogenstudien müssen – wegen der Gefahr von Verfälschungen infolge Dissoziierens – objektivierende (physiologische, psychometrische Tests, Fremdbeurteilungen …) und Langzeituntersuchungen durchgeführt werden.

Im folgenden Text

… will ich Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.

Ich muss aber eingestehen, dass auch Lehrer diese nicht immer gut finden:

Ein Zuhörer eines meiner Vorträge in Schulen sagte dazu:

Dafür ist doch gar kein Geld da!!

Seine Kultusministerin würde sich darüber gefreut haben!

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

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