Medikalisierung – Beispiel: Depression & Antidepressiva

Gerade am Beispiel Depression zeigt sich, wie leichtfertig Medikamente zum Einsatz kommen. Den Hintergrund bildet das Monopol der biologischen Psychologie bzw positiven Psychologie, die den Menschen auf Gehirn, Körper und Gene reduziert.

Medikalisierung – Beispiel Depression und Antidepressiva

SSRI bei Depressionen

ADs werden immer häufiger verschrieben. Doch ihre Wirksamkeit ist längst umstritten. Oder doch nicht?

Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik

 

Serotonin war nie die Lösung

Vor Jahrzehnten wurde die Serotonin-Hypothese bzgl. Depressionen heiß diskutiert. Allerdings auch innerhalb weniger Jahre widerlegt (Vgl. Depressionen: liegt es wirklich am Serotoninmangel?).

Trotzdem sind SSRIs (zu Deutsch Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) immer häufiger verschrieben worden (vgl. Psychotherapie Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie?). Obwohl in der akademischen Fachwelt niemand ernsthaft an der These festhielt. Andererseits wirken die Medikamente bei vielen Menschen mit Depressionen irgendwie.

Das ist auch der einzige Grund, warum SSRIs noch verschrieben werden. Denn was genau bei Depressionen eigentlich mit einem Menschen passiert und wie wiederum SSRI-Medikamente wirken, weiß keiner so genau.

Umso erstaunlicher, dass plötzlich eine neuere Untersuchung, die wieder einmal die Serotoninmangel-These widerlegt, jetzt so viel Aufmerksamkeit erhält. Dabei zeigt die jahrzehntelange Behandlung mit Antidepressiva, wohin uns Medikalisierung führt: zu Kurzsichtigkeit und mehr Problemen.

Mehr erfahren » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten

 

Was bedeutet Medikalisierung?

Einfach erklärt, bezeichnet Medikalisierung die Ausbreitung der naturwissenschaftlichen Medizin auf nicht-medizinische Lebensbereiche.

Darunter fällt auch die zunehmende Erklärung von menschlichem Verhalten, Fühlen und Denken über rein biologische Mechanismen.

Was die Psychopathologie betrifft, so spielen hier bestimmte Fachgesellschaften (Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie) eine wesentliche Rolle.

Da diese pragmatisch und naturwissenschaftlich orientiert sind, wird der medikamentösen Behandlung von Depressionen & anderen seelischen Krankheiten oft Priorität verliehen. Unhinterfragt und unreflektiert.

 

Die Medikalisierung erschöpft sich aber nicht nur in der Bevorzugung von Medikamenten, sondern auch in der Pathologisierung von Patienten:

 

Kritiker werfen dem heutigen Gesundheitssystem vor, falsch zu therapieren und so psychische Krankheiten erst zu chronifizieren. Auch würden derzeitige Konzepte in der Psychotherapie alltägliche, menschliche Phänomene zu schnell als krankhaft erklären (= pathologisieren).

Dabei sehen sie nicht, welche kritischen Effekte falsche Indikationen zur Psychotherapie oder ein Zuviel davon für die Individuen zur Folge haben können. Linden (...) argumentiert, dass Psychotherapeuten aufgrund unterschiedlicher Faktoren die Kompetenz verloren haben, „Gesundheit“ festzustellen. (3)

 

ARD-Doku: Depression – ein Beispiel der Medikalisierung

Die neue Dokumentation im ARD “Tabletten gegen Depressionen: Helfen Antidepressiva?” hat das Thema Depression & Medikamente vor Kurzem aufgegriffen. Allerdings etwas oberflächlich. Immerhin kommen Experten zu Wort, die sich kritisch gegenüber SSRIs äußern.

Was mich verwundert, sind die Aussagen von Dr. Hegerl, dem Sprecher der Deutschen Depressionshilfe. Er meint, Depressionen hätten nichts mit schrecklichen Erlebnissen zu tun, doch viele Menschen gingen irrtümlich davon aus, dass Depressionen eine Reaktion auf traumatische Erfahrungen seien.

Hm, stimmt das so? Schließlich haben über 60 % der Depressionsfälle durchaus von belastenden Kindheitserinnerungen zu berichten (vgl. Depression & Trauma – Depression wegen Trauma?)

Ja, innerhalb der Definition psychischer Krankheiten werden Ursachen meist ausgeblendet, weil das ganze so komplex ist und sich nicht verobjektivieren lässt. Doch dann lässt sich auch nicht sagen, dass biologische Ursachen hier eine größere Rolle spielen als soziale oder anthropologische.

Hinzu kommen die Stimmen der Betroffenen selbst, die in der Doku zu Wort kommen. Keiner von ihnen sagt, die Depression sei aus heiterem Himmel aufgetaucht. Stattdessen berichten so einige von einschneidenden Lebensereignissen: Todesfälle in der Familie, Suizid der Mutter, Gewalt etc.

Gerade diese wichtigen Erfahrungen werden in einer knappen Szene zusammengefasst und dann nicht weiter thematisiert. Das finde ich nicht nur Schade, sondern leider komplett die falsche Vorgehensweise, um über Depressionen aufzuklären.

Wäre es im Folgenden nicht wichtiger gewesen, über die Bedeutung belastender Erfahrungen für die menschliche Psyche zu informieren? Schließlich halten traumatisierte Menschen ihre Erlebnisse lange für normal und wissen gar nicht, was sie da durchgestanden haben.

Trotzdem meint Dr. Hegerl lapidar, Depressionen haben etwas mit dem Gehirn zu tun.

 

Hegerl: “Sie haben einfach das Pech, die Veranlagung zu dieser saublöden Erkrankung zu haben.”

Noch eine Aussage, die Hegerl als Fan biologistischer Theorien zeigt. Gehirn und Gene also…keine dieser Faktoren ist bewiesen.

Zwar möchten Neurobiologen und einige Psychiater immer wieder Gene oder biologische Marker ausfindig machen, die dann für Depressionen verantwortlich sein sollen, doch bislang konnte keine Untersuchung diese Annahme ausreichend stützen.

Wenn es an den Genen läge, dann würden nicht immer mehr Menschen an depressiven Störungen erkranken. Und wieso sind die Rückfall-Quoten so hoch, wenn Antidepressiva so eine hervorragende Wirkung besäßen?

Die Zusammenhänge sind ganz anderer Natur: Armut, Ungerechtigkeiten, Stress, Krisen, Überforderung etc. – doch das alles fällt im Vergleich zu den Genen weniger ins Gewicht?

Dabei sind die Zusammenhänge von Depressionen & Armut sowie Depression und Stress gut dokumentiert.

Vgl. auch Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn. Evtl. ebenfalls interessant für Dich: Krise als Chance? – Mythos: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker

 
Pharmaindustrie Antidepressiva

Pharmaindustrie & Soziale Frage

Zu berücksichtigen ist der Interessenkonflikt bei vielen Psychiatern und anderen Fürsprechern von SSRIs. Traurig! Denn wie authentisch und objektiv können Experten sein, die Gelder von Pharmaunternehmen erhalten?

Das betrifft zum Beispiel exemplarisch Dr. Hegerl, der erst auf Nachfrage hin in der Doku zugibt, finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie zu haben. Will ich dem Herrn Habgier unterstellen? Nein. Aber einen unkritischen Biologismus und dadurch (unbewusste) Förderung von Lobbyarbeit.

 

Unabhängige Wissenschaft geht anders. Abhängigkeiten zwischen Wirtschaft und Forschung fördern kommerzielle Ziele, anstatt wissenschaftlichen Fortschritt.

 

Es gibt einige soziale Probleme, die von unserer Gesellschaftsform hervorgerufen werden. Das zeigt sich schon daran, dass bestimmte Gruppen ein erhöhtes Risiko für spezielle Krankheiten besitzen.

Wenn ganze soziale Gruppen, die signifikant von Ungleichheiten getroffen sind, erkranken, dann liegt es nahe, die sozialen Probleme in den Blick zu nehmen, anstatt biologische Faktoren vorzuschützen.

 

Es ist weder ein Zeichen von medizinischer Integrität noch von Humanität, wenn Patienten mit Medikamenten vollgestopft und ihre Krankheiten als individuelles Problem abgetan werden. (Vgl. Entmenschlichte Menschenbilder)

 

Natürlich kann niemand bestreiten, dass Psychotherapie und Antidepressiva in einigen Fällen von Depressionen notwendig sind. Doch Ursachen zu ignorieren, die aus gesellschaftlichen Strukturen und Ungerechtigkeiten bestehen, ist nicht nur fahrlässig, sondern auch menschenverachtend.

Depressionen sind kein Problem von ein paar vereinzelten Menschen, die Pech hatten, sondern ein kollektives Phänomen.

Damit ist es Aufgabe der Politik, endlich umzudenken.

 

Fazit: Medikalisierung & Depression

  • Ich möchte betonen, wie hilfreich Antidepressiva sein können. Ich selbst hätte es ohne Venlafaxin und Quetiapin nicht geschafft, eine Psychotherapie zu beginnen (ich befand mich in einer schweren Depression).

  • Kritisieren muss ich jedoch die mangelhafte Aufklärung über Nebenwirkungen, Mechanismen und mögliche Folgen von Antidepressiva…generell war meine 1. Behandlung sehr oberflächlich.

  • Allerdings sind Serotonin Wiederaufnahmehemmer keine langfristige Lösung. Der Mensch ist nicht Gehirn und eine Depression nicht bloß eine Störung im Hormonhaushalt. Medikamente allein können nicht heilen, da sie nur Symptome bekämpfen.

  • Jeder Mensch verfügt über eine physische Existenz und ist ein Individuum. Doch gleichzeitig sind wir Bestandteil von Umwelt und Gemeinschaft, die wir zur Ausbildung der eigenen Individualität brauchen. Die soziale Komponente darf bei der Behandlung von Menschen also niemals ausgeblendet werden.

  • Ich sehe in der biologischen Psychologie bzw. der Biologisierung von Psychologie tatsächlich eine Gefahr und Entwürdigung des Menschen.

  • Die biologische “Ursachenforschung” verdeckt wichtige soziale Probleme, die Privatleben und Arbeitswelt betreffen. Sie ist Symptom-Bekämpfung bzw -Unterdrückung, nicht Lösung.


Quellen:

1) Ulf Eberle: Tabletten gegen Depressionen – helfen Antidepressiva? (ARD Doku)
2) Stefan Sell: Die Medikalisierung depressiver Erkrankungen bis hin zum Unglücklichsein. Ein kritischer Blick auf den Einsatz von Antidepressiva
3) Wolfgang Schneider & Bernhard Strauß: Medikalisierung (In: Psychotherapeut 58, 217–218 (2013). https://doi.org/10.1007/s00278-013-0981-9)
4) Julia Werthmann: Voll optimiert und stark erschöpft
5) Samuel Lacroix: Depression: Woran kranken unsere Gesellschaften? Übersetzt von Lisa Friedrich

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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