Menschenrechte: Es geht um jeden Einzelnen

Am 10. Dezember 2023 wird die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ 75 Jahre alt. Anlass, einmal genauer auf die philosophischen Quellen dieses wirkmächtigen Dokuments zu schauen.

Eine seit 2500 Jahren virulente Fragestellung der Sozialphilosophie betrifft das Verhältnis von Individuum und Kollektiv

Die Betrachtung der wechselseitigen Beeinflussung und die Rechtfertigung ihres Ausmaßes, insbesondere ihrer Begrenzung, bestimmen auch gegenwärtig den sozialphilosophischen Diskurs. Ganz konkret etwa im Kontext der Frage, inwieweit die Religionsfreiheit den Einzelnen berechtigt, tradierte Moral- und Rechtsvorstellungen der Gemeinschaft, in der er lebt, zugunsten eigener Werthaltungen zurückzuweisen bzw. unter welchen Bedingungen umgekehrt der Staat dies unterbinden kann oder sogar muss.

 

Zur Geschichte der Entdeckung des Individuums

Der Einzelne, der in Gemeinschaft lebt, rückt dabei im Laufe der Geschichte immer mehr in den Fokus der Auseinandersetzung.

Ist bei Platon noch die funktionierende Polis das entscheidende Kriterium, so bildet seit den politischen Ideen christlicher Denker in Spätantike (Augustinus), Hochmittelalter (Thomas von Aquin) und Früher Neuzeit (Francisco de Vitoria), vor allem aber – nach Rückschlägen im Zuge der Lehre von der „Staatsräson“ (Niccolò Machiavelli, Jean Bodin, Thomas Hobbes) – seit der wirkmächtigen Philosophie des Liberalismus' (John Locke) das Wohl des Menschen die entscheidende Zielgröße, an der sich die Gemeinschaft in ihrer Konstitution und ihren Wesensvollzügen auszurichten hat.

Diese Entwicklung verlief nicht linear in eine Richtung. Sie hat etwa im 20. Jahrhundert erhebliche Rückschläge erlitten: Faschismus und Kommunismus sind anti-individualistische Ideologien, die einen Ordnungsstaat zu Lasten des Einzelnen begründen.

 

Bezeichnend hierfür ist die Entwicklung des Rechts

Rechte regeln gerade das Zusammenleben von Individuen in Gemeinschaft; nur hier gibt es überhaupt Regelungsbedarf. Sowohl die Beziehung der Individuen zueinander als auch die Beziehung des einzelnen Menschen zur Gemeinschaft müssen dauerhaft normiert werden.

Dies kann dazu führen, dass Recht aus der Perspektive der Gemeinschaft gesetzt wird oder aus dem Blickwinkel des Einzelnen. Hier ist in der Geschichte analog die Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung des Individuums zu erkennen, etwa bei der Frage, unter welchen Bedingungen der „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen wird.

Insbesondere zeigt sich der Wandel am Aufkommen jener Fundamentalnormen zur Regelung des Zusammenlebens, die als Menschenrechte bekannt sind. Sie schaffen die Grundlage für jede weitere Koordination von Individuum und Gemeinschaft – aus der Sicht des einzelnen Menschen.

Mit anderen Worten:

Das Individuum ist konstitutiv für die Menschenrechtsidee.

Kernkonzepte dieser Idee (wie Freiheit, Gewissen, Würde, Personalität, Subjektivität, Autonomie) sind nur individualistisch denkbar. Das zeigt sich in den beiden entscheidenden ideengeschichtlichen Quellen der Menschenrechte: dem christlichen Denken von der Gleichrangigkeit der abbildlichen Geschöpfe Gottes und der Heiligkeit der menschlichen Person mit ihrer unendlich wertvollen Einzelseele sowie dem neuzeitlichen Denken vom Individuum als Träger unveräußerlicher Bedürfnisse, die in eine Rechtsform zu überführen sind, damit sie im Zweifel auch gegen die Gemeinschaft (also: gegen den Staat) wirksam werden können.

Das bedeutet: Mit der Entdeckung des Individuums, seines Gewissens und seiner personalen Würde beginnt zugleich auch die Geschichte der Menschenrechte und ihrer Kodifikation.

Dass es gerade auf diese Sakralität ankommt, wenn wir uns über die Genese und das Wesen der Menschenrechte verständigen wollen, hat unlängst Hans Joas gezeigt. In seinem Buch „Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte“ (2011) hebt der Religionssoziologe die Bedeutung des Konzepts von „heiligen Person“ für die Menschenrechtsgenese hervor.

 

Der Mensch als „heilige Person“

Joas meint, die Idee der Menschenrechte auf eine neue Basis stellen zu können. Die bisherigen Grundlegungsversuche seien unzureichend, die Debatten um die Genese der Menschenrechte unfruchtbar. In der Tat sind es ermüdende Grabenkämpfe zwischen Vertretern einer religiösen Genese (aus dem christlichen Menschenbild) und Vertretern einer säkularen Genese (aus dem Geist der Aufklärung).

Joas stellt klar: Eine erschöpfende Genealogie der Menschenrechte lässt sich in eindeutiger Manier weder mit einem christlichen, noch mit einem säkularen Humanismus in Verbindung bringen. Je nach Horizont der Betrachtung gewinnt das langfristige Moment der ideellen Befreiung des Menschen durch die christliche Anthropologie oder das kurzfristige Moment der faktischen Befreiung des Menschen durch die Aufklärung an Bedeutung; nur in der Zusammenschau erkennt man das „geteilte Dritte“: die Heiligkeit.

Denn: Beide Positionen konvergieren im Begriff der „Sakralität der Person“, die für Joas eine „fundamentale Alternative“ zu der „Gemengelage von Narrativen“ darstellt.

Nach Joas sind die Menschenrechte demnach weniger Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses der Gesellschaft als vielmehr eines „Sakralisierungsprozesses des menschlichen Wesens“, wobei der Terminus Sakralisierung nicht so aufgefasst werden dürfe, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung.

Auch „säkulare Gehalte“ können, so Joas, „Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität“; in diesem Sinne ist die Geschichte der Menschenrechte „eine Geschichte der Sakralisierung der Person“.

 

Menschenrechte als Rechte des Individuums

Menschenrechtserklärungen wie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ und andere Dokumente, die dem Menschen absolute Rechte zuerkennen, treten erst in der Neuzeit auf. Basis dafür ist zunächst das christliche Menschenbild.

Die christliche Philosophie verleiht dem Menschen – und das ist neu – eine unveräußerliche dignitas humana, die direkt aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen erwächst.

Als Abbild Gottes ist dem Menschen personale, subjektive Würde verliehen. Ausgangspunkt des christlichen Menschenbildes ist dabei die Geschöpflichkeit des Menschen. Gott schuf den Menschen als sein Abbild, so steht es gleich dreimal hintereinander im ersten Kapitel der Genesis.

Damit ist der Mensch als geschaffenes Ebenbild Gottes von seinem Ursprung, seinem Wesen und seinem Ziel her nicht eigenbestimmt, seine Würde ist, im Sinne Luthers, eine dignitas aliena, eine „fremde Würde“. Das Individuum konstituiert sich also nicht in völliger Autonomie als selbstbestimmtes Subjekt, sondern bleibt dem Objekt in einer heteronom gestalteten Beziehung zugewandt.

Dieser Bezug, der Jahrtausende lang in Judentum, Christentum und Islam unhintergehbar war, wird in der Neuzeit als Hemmnis empfunden und in der Aufklärung im 18. Jahrhundert hinsichtlich seiner Bedeutung für die ethische und rechtliche Orientierung des Individuums zunehmend kritisiert.

Die Kritik war sicher nicht ganz unberechtigt, wenn wir an die objektivistische Morallehre der tridentinischen Kirche und den damit verbundenen Widerstand gegen eine konkrete Kodifikation von Menschenrechten wie etwa der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit denken, ein Widerstand, der das ganze 19. Jahrhundert hindurch anhielt.

Eine eindeutig positive Haltung der Katholischen Kirche zu den Grundfreiheiten des Menschen ist erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu verzeichnen. Skepsis gegenüber den Menschenrechten war (und ist) aber kein Sondergut des Katholizismus.

Auch in anderen christlichen Konfessionen (etwa dem naturrechtsskeptischen Protestantismus) und anderen Religionen (etwa dem Islam) gab (und gibt) es ein „Reaktionsspektrum“ (Joas), von dem auch der Utilitarismus, auf den sich heute viele säkulare Ethiker beziehen, nicht ausgenommen ist: Ein Hauptvertreter dieser Richtung, Jeremy Bentham, nannte die Menschenrechte einst „Unsinn auf Stelzen“.

Mit dem Beginn der Neuzeit war die Bahn für den Einzelnen aber noch nicht frei. Die Emanzipation des christlichen wie auch des säkularen Humanismus' vom mittelalterlichen Ordo mündete bei allem Individualitätsdenken zunächst in die Idee des absoluten Staates.

Niccolò Machiavelli und Jean Bodin sind hier die erwähnenswerten Vordenker des souveränen modernen Staates, den Thomas Hobbes mit seiner Vertragstheorie rechtfertigte: Die Übertragung aller Rechte des Individuums an den Herrscher sei notwendig, um das Individuum wirkungsvoll schützen zu können.

Im 17. Jahrhunderts schien es zu diesem Staatsmodell keine Alternative zu geben, zumal auch der Westfälische Friede von 1648 die Souveränität der Staaten garantierte, ein menschenrechtsunfreundliches Völkerrechtsparadigma, das erst nach dem Ende des Kalten Krieges dreieinhalb Jahrhunderte später ernsthaft hinterfragt werden sollte.

Heute geht es darum, das Völkerrecht im Sinne der individuellen Rechtsposition fortzuschreiben – Responsibility to Protect ist dazu das Stichwort, jene Doktrin in der Politik internationaler Beziehungen, die unter der Maßgabe, Souveränität bedeute in erster Linie die Verantwortung eines Staates für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, völkerrechtliche Reformen zugunsten eines mehrstufigen Konzepts für einen humanitären Interventionismus’ vorschlägt, damit die Weltgemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen systematischen Vernachlässigungen dieser Verantwortung wirksam begegnen kann.

Denn die Rechte des Einzelnen sollen auch dann gelten, wenn kollektive Vorstellungen ihnen entgegenstehen. Diese Kollekive – von der Familie bis zum Staat – sollen die Menschenrechte nicht unterwandern.

Dafür soll sie weltweit sorgen, die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag!

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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