Ist Philosophie eine Wissenschaft? – Was ist Wissenschaftlich?
Philosophie galt früher als die Mutter aller Wissenschaften. Heute hat sich dieses Verständnis gewandelt. Je nach Perspektive gilt sie als Geisteswissenschaft, als Meta-Wissenschaft oder als Pseudowissenschaft. Wie wissenschaftlich ist die Philosophie also nach heutigen Standards?
Die Philosophie wandelte sich im Laufe der Zeit
In der Philosophie geht es im Wesentlichen darum, nichts für selbstverständlich hinzunehmen und seine Überzeugen und Haltungen immer wieder aufs Neue zu überprüfen. Philosophie darf man deshalb nicht als trockene Gelehrsamkeit verstehen.
Philosophie & die Liebe zur Weisheit
Die verbreitete Übersetzung des griechischen Wortes Philosophie ist fast schon romantisch zu nennen: Liebe (philo = gern haben, Freund sein; Liebe) zur Weisheit (sophia = Wissen, Wissenschaft, Kenntnisse; Weisheit).
Ganz so passend ist diese Formulierung aber nicht, denn laut philosophischer Tradition schließt die Philosophie das Erreichen der Weisheit aus. Wer Philosophie betreibt, sucht zwar die Weisheit, aber er hat sie nicht. Vgl. Was ist Philosophie?
Auch wenn die Philosophie im allgemeinen Sprachgebrauch stark vereinfacht und idealisiert wird, es hat seinen Grund, warum sich seit mehr als 2500 Jahren die Menschen der unterschiedlichsten Schichten von ihr angezogen oder erfüllt fühlen.
„Ein ungeprüftes Leben ist für einen Menschen nicht Wert gelebt zu werden.“
Was ist Wissenschaft?
Die Wissenschaft beschreibt eine Gesamtheit von menschlichem Wissen, von Erkenntnis und Erfahrung einer bestimmten Zeit. Merkmal der Wissenschaft sind: (1)
systematisches erweitern von Wissen
sammeln & aufbewahren von Wissen
lehren und tradieren von Wissen
Wie sich Wissenschaft von anderen Bereichen unterschieden lässt (Abgrenzungsproblem, Demarkationsproblem), ist umstritten.
Jedenfalls existiert weder eine genaue, noch eine allgemeingültige Definition für die Wörter “Wissenschaft” und “Wissenschaftlichkeit”.
Die Philosophie-Wissenschaft in der Geschichte
Wissenschaft bei den alten Griechen
Schon in der Antike fing man an, die Philosophie (die damals als Wissenschaft schlechthin galt) in verschiedene Bereiche zu unterteilen – zunächst bei den Stoikern in Logik, Physik und Ethik.
Logik („logos“ – „Wort“, „Rede“, „Grund“) – alles, was mit Sprache und Argumentation zu tun hat
Physik („physis“ – „Natur“) – Naturphänomene
Ethik („ethos“ – „Brauch“, „Sitte“) – menschliches Verhalten und Normen
Wissenschaft im Mittelalter
Auf der Grundlage einer Einteilung des römischen Gelehrten Varro unterschied man später die 7 freien Künste (artes liberales). Sie umfassten das trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, und das quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.
Wissenschaft in der Neuzeit
In der Neuzeit verselbständigen sich Teile der Philosophie zu den Naturwissenschaften: Astronomie, Physik und Chemie.
Im Laufe der Zeit entwickelten sich dann die verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften aus. So haben wir heutzutage eine Vielzahl von Einzelwissenschaften, die sich mit unterschiedlichen Perspektiven bzw. Bestandteilen von Mensch, Welt und Mensch-Welt-Verhältnis beschäftigen.
Allgemeine Kriterien der Wissenschaftlichkeit
Wissenschaftlichkeit erfordert die Einhaltung bestimmter Kriterien bzw. Werte, die für Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen gelten sollen:
Eindeutigkeit: In den Wissenschaften werden in der Regel exakte Terminologien benötigt, um Missverständnisse zu vermeiden. Verwendete Begrifflichkeiten, Untersuchungsobjekte, Forschungsbereiche etc. sind so zu definieren oder zu erklären, dass sie keine Fehldeutungen provozieren.
Objektivität: Wissenschaftliche Forschung sollte frei von persönlichen Vorurteilen und Bias sein, um valide, unverzerrte und zuverlässige Ergebnisse zu liefern.
Transparenz: Exaktes Arbeiten und genaue Darstellung, wie und warum die Ergebnisse zustande kommen, sind ebenfalls wichtige Kriterien.
Systematik: Eine Wissenschaft geht planmäßig und konsequent vor, um eine umfassende Analyse zu gewährleisten, die alle Teilaspekte und Informationen berücksichtigt.
Überprüfbarkeit: Die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften sind kontinuierlich zu prüfen und zu testen. Auf der Grundlage der Transparenz, werden so Validität und Zuverlässigkeit der Erkenntnisse gesichert. Der Knackpunkt liegt darin, worauf sich Überprüfbarkeit gründen soll: auf Empirie oder logische Argumentation?
Fortschritt: Wissenschaft ermöglicht neue Erkenntnisse bzw. fördert Fortschritt in der Erkenntnis.
Weitere Merkmale sind je nach Autor und dessen Haltung: Inhaltliche Korrektheit, Vollständigkeit, Validität, Theoriebezug, Wahl angemessener Methodik, Intellektuelle Redlichkeit.
Der Begriff “Leitwissenschaft”
Das Ringen um Deutungshoheit & Einfluss
Ob die Philosophie zu den Wissenschaften gezählt wird, hängt in hohem Maße davon ab, was heutzutage als Leitwissenschaft verstanden wird. In der Antike war das die Philosophie, die im Mittelalter wiederum von der Theologie abgelöst wurde.
Im 18. Jahrhundert wurde die Philosophie dann wieder en vogue, damals umfasste die Disziplin aber auch noch die Natur- und Geisteswissenschaften.
Heute möchten sich viele verschiedene Einzelwissenschaften als Leitwissenschaft verstehen, wie zum Beispiel Biologie, Physik, Neurowissenschaften, aber auch die Soziologie oder Ökonomie.
“Leitwissenschaft” als Norm-Anspruch
Was als Leitwissenschaft gilt, hängt davon ab, was “von führenden Kreisen der Politik, der Wirtschaft und der Kultur als solche wahrgenommen und akzeptiert wird“ (4).
Das hat dann aber weit weniger mit Wissenschaftlichkeit zu tun und vielmehr mit Machtstrategien. Denn wird etwas als Leitwissenschaft bestimmt, verfügt diese Wissenschaft über klare normative Geltungsansprüche und weitreichende Einflüsse.
In diesem Sinne erscheint die Rede von einer Leitwissenschaft rein zweckgerichtet, da diese Zuschreibung machtpolitische bzw. ökonomische Motive und Ziele verfolgt. (3)
Wie wichtig ist empirische Überprüfbarkeit?
Die meisten Wissenschafts-Definitionen führen als eines der wichtigsten Kriterien die empirische Beweisbarkeit an. Darin zeigt sich vor allem eines: Was Wissenschaftlichkeit ist, wird in unserer Zeit von den empirischen Wissenschaften vorgegeben. Das ist auch der Grund, warum die Naturwissenschaften der Philosophie eher weniger Bedeutung beimessen (möchten).
So verstanden, kann Philosophie selbstverständlich nie wissenschaftlich sein oder werden. Doch das muss sie auch gar nicht, wenn diese Art von Wissenschaftsverständnis lediglich auf Machtstrukturen beruht und nicht auf adäquaten Methoden, die sich nach dem Untersuchungsgegenstand richten.
“Einzelwissenschaften werden durch ihren Gegenstandsbereich definiert. Dementsprechend muss man Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden.”, heißt es im Metzler Philosophie Lexikon ganz richtig (2).
Nur weil die Geisteswissenschaften andere Methoden nutzen, bedeutet das nicht, dass sie unwissenschaftlicher wären als Naturwissenschaften. Kein wissenschaftliches Fach liegt näher oder ferner an einer idealen Wissenschaftlichkeit als ein anderes.
Die Philosophie als Geisteswissenschaft
Es gibt verschiedene Ansichten darüber, ob die Philosophie als Wissenschaft bezeichnet werden kann. Es folgen ein paar vereinfachte Argumente für das Verständnis von Philosophie als Wissenschaft.
1) Begründung & kritische Reflexion
Argumentation, eine gute Begründung ist ein wesentliches Merkmal aller wissenschaftlichen Disziplinen. Die Naturwissenschaften stützen sich dabei auf sinnliche, materielle Erfahrungswerte. Die Philosophie nimmt diese Erfahrungen zwar zu Hilfe, stützt sich aber auf die geistige Analyse von Vorstellungen, Deutungen und Gedanken.
Kritisch ist die Philosophie dabei allemal: sie verfolgt keinen Geltungsanspruch, sie zieht keine voreiligen Schlüsse, sondern bemüht sich um die beste Antwort und reflektiert diese immer wieder neu.
2) Ganzheitliches Denken & systematisieren
Kant erinnerte zu Recht daran, dass der Wissenschaft die Aufgabe zukomme, eine Einheit in der Erkenntnis auszugestalten. Es geht nicht darum, einzelne Fragen für sich zu beantworten, sondern sie in einen Zusammenhang einzuordnen oder Verbindungen zu erkennen.
Systematisieren und erklären von Wissen, das ist ein zentrales Merkmal von Wissenschaft. Und genau das tut die Philosophie, indem sie die Erkenntnisse der verschiedenen Fachbereiche berücksichtigt, sie verknüpft und auf einer Meta-Ebene diskutiert.
3) Fortschritte ermöglichen
Die Philosophie liefert keine empirischen Fortschritte, die direkt greifbar oder nutzbar wären. Doch genau das wäre auch eine naturwissenschaftliche und neoliberale Sicht auf diese Disziplin, die unterstellt, Erkenntnis müsse effizient sein.
In der philosophischen Wissenschaft geht es um begriffliche Differenzierungen, systematisches Vernetzen, kritisches Hinterfragen und erkenntnistheoretische Fortschritte.
Fazit: Philosophie als Wissenschaft
Wissenschaften sind systematische Untersuchungen und Analysen, die darauf abzielen, ein besseres Verständnis der Welt und der Phänomene, die sie ausmachen, zu erlangen. Diese Kriterien erfüllt die Philosophie seit ihren Anfängen, wenn auch auf andere Weise als empirische Untersuchungen.
Quellen:
1) Brockhaus Enzyklopädie: Wissenschaft. Mannheim, 1994
2) Metzler Lexikon der Philosophie: Wissenschaft. Springer Verlag, 2008
3) Thomas Potthast: Was bedeutet »Leitwissenschaft« – und übernehmen Biologie oder die »Lebenswissenschaften« diese Funktion für das 21. Jahrhundert? In: Autonomie durch Verantwortung. Impulse für die Ethik in den Wissenschaften. mentis Verlag, 2007
4) Peter Rusterholz: Was sind Leitwissenschaften? Weshalb gibt es sie? Oder sollte es sie gar nicht geben? In: Peter Rusterholz, Ruth Meyer Schweizer, Sara Margarita Zwahlen (Hrsg.): Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften. Bern, 2009
5) Karoline Rotzoll: Leitfaden zum wissenschaftlichen Arbeiten. (PDF)
6) Claus Beisbart: Wann ist Philosophie eine Wissenschaft? (auf philosophie.ch)
7) Geert Keil: Ist die Philosophie eine Wissenschaft? In: In Simone Dietz, Heiner Hastedt, Geert Keil & Anke Thyen (eds.), Sich im Denken orientieren. Frankfurt am Main: Suhrkamp. pp. 32-51 (1996).