Langzeitfolgen der Depression – Residualsymptome

Menschen, die an Depressionen erkrankt sind, müssen in der Mehrzahl mit den Langzeitfolgen der Krankheit leben lernen. Das sind Restsymptome, die trotz Behandlung und Besserung das Leben über lange Zeit einschränken. Diese leichten, chronischen Beschwerden gelten als großes Risiko für Rückfälle in eine Depression.

Restsymptome in fast 90 % der Depressionsfälle

Langzeitfolgen der Depressionen

Restsymptome bei Depressionen sind keine Lappalie, sondern Ursache anhaltender funktioneller Beeinträchtigungen im Alltag – darum ist die Rede von Langzeitfolgen.

Trotz einer spürbaren Verbesserung der depressiven Symptome nach einer Akut-Behandlung (stationär und ambulant), sind die Langzeitergebnisse bedenklich: Ein beträchtlicher Teil der Patienten leidet nach der medikamentösen und psychotherapeutischen Intervention weiterhin unter Depressionssymptomen.

Diese Erkenntnis ist nicht neu.

Bereits in den 1970er-Jahren stellten Studien fest, dass bei einer Mehrzahl depressiver Patienten, die erfolgreich auf ihre Behandlung angesprochen hatten, langfristige Restsymptome auftraten (1), die sogenannten Residualsymptome. Diese Ergebnisse wurden mehrfach im Laufe der letzten Jahrzehnte untermauert.

Die Restsymptome bzw. Langzeitfolgen einer Depression beeinträchtigen die Lebensqualität und werden zudem als Risikofaktoren und als Frühwarnzeichen für das Wiederauftreten einer depressiven Phase gedeutet. Seltsamerweise finden sich diese Resultate ausgerechnet bei depressiven Patienten, die als remittiert eingestuft werden.

 

Definitionen: Response – Remission – Rezidiv

  1. Response“ = positive Reaktion auf die eingeleitete Behandlung – konkret das Nachlassen depressiver Symptome in den ersten Phasen der Therapie.

  2. Remission“ = vollkommene oder weit fortgeschrittene Besserung des Zustands nach Abschluss der Akutbehandlung.

  3. Wenn die Symptome einer Depression nach einer zwischenzeitlichen Verbesserung im Verlauf / nach der Akutbehandlung wieder vollständig auftreten, spricht man von einem „Rückfall“.

  4. „Vollständige Genesung“ = wenn innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten keinerlei depressive Symptome mehr feststellgestellt wurden.

  5. Tritt nach vollständiger Genesung zu einem späteren Zeitpunkt nochmals eine depressive Episode auf, ist das ein „Rezidiv“. (Vgl. rezidivierende depressive Störung)

 

Langzeitfolgen werden wenig beachtet

Allerdings hat das Thema “Residualsymptome“ zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Denn 2023 konstatierte eine Untersuchung erneut: „Zum Zeitpunkt der Entlassung stellten die Forscher bei 72 % eine Response fest und bei 49 % eine Remission. 88 % Prozent der remittierten Patienten hatten bei Entlassung jedoch mindestens ein Residualsymptom, 47 % mindestens vier. Die Zeichen hatten meist bereits bei der Aufnahme bestanden und persistierten während der stationären Behandlung.“ (2)

Die Nachuntersuchung ein Jahr später ergab, dass ein Teil der Patienten (30 - 50 %) immer noch an den gleichen Symptomen litten.

 

Die häufigsten Langzeitfolgen bei Depressionen

  • Erschwernis zu arbeiten (Unzufriedenheit, niedriges Belastungsniveau, geringere Produktivität)

  • Energiemangel: Antriebslosigkeit, schnelle Erschöpfung, Müdigkeit

  • zwischenmenschliche Probleme (mit Partnern, Eltern, Angehörigen, Freunden)

  • depressive Stimmungen (Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Anhedonie)

  • Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen)

  • sexuelle Probleme, Libidoverlust

  • somatische Symptome (Kopfschmerzen, Rückenschmerzen)

  • Angst (Unruhe, Nervosität, Panikattacken)

  • Schuldgefühle

  • Reizbarkeit


 

Was unterscheidet Residualsymptome von normalen Depressionssymptomen?

Restsymptome liegen unter der klinischen Schwelle, die für eine Depressions-Diagnose notwendig ist. Es geht also um subdepressive Symptome, die jedoch nicht mit einer Dysthymie zu verwechseln sind. Allerdings gibt es keinen Konsens über die Definition von Residualsymptomen bei Depressionen (3). Das ist natürlich nicht gerade hilfreich.

 

Ursachen der Langzeitfolgen

Wie entstehen Residualsymptome?

Je nach Autor und Forschungsrichtung finden sich unterschiedlichste Hypothesen dazu, warum so viele Menschen mit Depressionen langfristig mit Restsymptomen zu kämpfen haben. Die wichtigsten sind:

 

1) Anhaltende Erkrankung

Die verbleibenden Symptome weisen auf eine anhaltende depressive Erkrankung hin, die sich auf mildere Formen zurückgebildet hat.

D. h. Betroffene sind nach wie vor depressiv, aber die Krankheit hat in ihrer Intensität durch die Behandlung nachgelassen.

2) Rückwärtsheilung

In der älteren Forschung findet sich die Rollback-Hypothese: Die Depression „heilt“ rückwärts.

Restsymptome sollen demnach die Frühsymptome der Depression sein und von selbst enden.

 

3) Negative Einstellung der Betroffenen

Weit verbreitet ist die Idee, Restsymptome sind Anzeichen einer kognitiven Vulnerabilität (negative Denkmuster), prämorbiden Persönlichkeit oder dysfunktionalen Einstellung.

4) Biologische Faktoren

Daneben werden aber auch biologische Faktoren (genetische Veranlagung, Veränderungen im Gehirn, Neurotransmitter-Ungleichgewicht) und soziale Faktoren (mangelnde soziale Unterstützung, chronische Stressoren, belastende Erfahrungen wie Stigmatisierung) genannt.

 

5) Nebenwirkungen der Medikation

Alternativ können körperliche und kognitive Residualsymptome auf Antidepressiva zurückzuführen, besser gesagt: Restsymptome sind typische Nebenwirkungen der langfristigen Behandlung mit ADs (9).

 

Die wahrscheinlichste Schlussfolgerung ist:

dass Residualsymptome ein Indiz für das Fortbestehen der Krankheit sind – auch wenn eine kurzfristige oder deutliche Besserung eingetreten ist. Die zugrunde liegende depressive Erkrankung ist also nicht vollständig „ausgeheilt“.

Untermauert wird dieses Argument von der Tatsache, dass Rückfälle in die Depression eher nach dem Erscheinen von Restsymptomen auftreten (5).

Zusätzlich werden Nebenwirkungen von Antidepressiva eine Rolle spielen.

 

Angst vor Rückfällen ausgeprägt

Eine weitere kleine Studie hat sich auf eine andere Langzeitfolge der Depression konzentriert: Die anhaltende Angst bei schwer depressiven Patienten in Remission vor einem Wiederauftreten der Krankheit (8). Mehr als die Hälfte der Teilnehmerschaft gab an, jede Woche oder jeden Monat diese Angst zu verspüren. Bei den meisten hielten diese Angstzustände nur Minuten oder Stunden an, bei jedem 6. Teilnehmer über Tage.

Diejenigen, die stark oder anhaltend Angst vor einem Rückfall hatten, erlebten ihre Ängste hauptsächlich durch das Wiederauftreten von Symptomen früherer depressiver Episoden oder durch schwierige Lebenssituationen. Weitere häufige Auslöser dieser Angst: Stress, zwischenmenschliche Konflikte, Einsamkeit, Verlustgefühle und Trauer.

Immerhin konnten ca. 40 % der Befragten davon berichten, dass die Furcht vor einem Rückfall sie dazu antrieb, proaktiv für ihre psychische Gesundheit zu sorgen.

Mehr erfahren » Depression: Gesellschaftliche Ursachen & Determinanten

 

Fazit: Langzeitfolgen der Depression

Kritiker bemängeln zu Recht: Die vorherrschende Definition einer Remission – also der Phase der Genesung bei einer depressiven Krankheit – nimmt nicht alle Facetten der tatsächlichen Verfassung der Patienten in den Blick. Aktuelle Interpretationen fokussieren sich auf die Abschwächung der auffälligsten Symptome, erfassen jedoch nicht die subtilen, anhaltenden Beschwerden. Diese „übrig gebliebenen Symptome“ können das Leben aber langfristig einschränken.

Hast du als Betroffene / Betroffener trotz „erfolgreicher“ Therapie weiterhin Probleme, wie in diesem Beitrag geschildert, dann bist du keine Ausnahme. Es geht vielen Menschen so, die an Depressionen erkrankt sind.

Meiner Meinung nach verdeutlicht die Existenz von Langzeitfolgen bzw. Residualsymptomen:

  1. dass die gängigen Psychotherapien nicht so effektiv sind, wie Fachmedizin und Öffentlichkeit glauben.

  2. wie enorm wichtig es ist, die Behandlung von psychischen Erkrankungen über einen längeren Zeitraum zu sichern und flexibel anzupassen.

Vgl. auch Einsamkeit in der Depression – existenziell einsam sein


Quellen:

1) Fava et al: Residual symptoms in depression: An emerging therapeutic target. Progress in Neuro-Psychopharmacology & Biological Psychiatry 26 (2002) 1019 – 1027
2) Franziska Hainer: Residualsymptome – Was von der Depression bleibt (Medical Tribune) 2023
3) Romera et al.: Residual symptoms and functioning in depression, does the type of residual symptom matter? A post-hoc analysis. BMC Psychiatry 2013
4) Christian Hilscher: Studie: Angst, Anspannung, Reizbarkeit und somatische Beschwerden als Prodromalsymptome von Depression, 2021
5) E.S. Paykel (2008) Partial remission, residual symptoms, and relapse in depression, Dialogues in Clinical Neuroscience, 10:4, 431-437, DOI: 10.31887/DCNS.2008.10.4/espaykel
6) Pitanupong, J. et al: Residual symptoms and their associated factors among Thai patients with depression: a multihospital-based survey. Ann Gen Psychiatry 21, 50 (2022). https://doi.org/10.1186/s12991-022-00427-w
7) Jessica Nye: Previous Depressive Episodes and Residual Symptoms Predict Depression Relapse (2023)
8) Ch. Hilscher: Qualitative Studie: Die Angst vor einem erneuten Auftreten der Depression bei Personen mit remittierter Depression (2024)
9) Fava, M, et al.: A cross-sectional study of the prevalence of cognitive and physical symptoms during long-term antidepressant treatment. J Clin Psychiatry. 2006 Nov;67(11):1754-9. doi: 10.4088/jcp.v67n1113. PMID: 17196056

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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