Klassismus – Die soziale Frage in der Psychotherapie
Verständnis ist ein wesentlicher Faktor für den Erfolg einer Psychotherapie. Doch gerade Patienten mit finanziellen und sozialen Problemen fühlen sich nicht verstanden. Noch schlimmer: Patienten erhalten eher eine geeignete Psychotherapie, wenn sie günstige soziodemografische Faktoren aufweisen. Das Phänomen nennt sich Klassismus.
Die eigene Therapeuten-Position reflektieren
Die wenigsten Therapeuten verstehen Patienten, die aus einer unteren Sozialschicht stammen. Das hat seine Gründe in sozioökonomischen Faktoren, aber auch in der Art, wie Behandler mit sozialen Fragen umgehen
Die Chemie zwischen Therapeut & Patient
Laut Studien sind ca. 30 % des Ergebnisses einer Therapie auf die Therapeut-Patient-Beziehung zurückzuführen. Die anderen Wirkfaktoren nach Klaus Grawe sind übrigens: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Problembewältigung. Doch die therapeutische Beziehung hat den größten Einfluss. Sie besteht sogar unabhängig von der Therapieform (4).
Aber gelingt es den meisten Psychotherapeuten überhaupt, Verständnis für ihre Patienten aufzubringen? Die Antwort hängt davon ab, wer da wen behandelt.
Warum ist das wichtig?
Weil sowohl Therapeuten als auch Patienten sich nicht in einem gesellschaftsneutralem Raum befinden, nur weil sie in einer Praxis sitzen und ein Gespräch unter 4 Augen führen.
Vielmehr bringen beide eine soziale Geschichte mit, die sich im zwischenmenschlichen Kontakt in Form von Wortwahl, Erwartungen, Einstellungen, Interpretationen, Verständnis und Empathie auswirkt.
Vgl. auch: Psychotherapie Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie bei Depressionen?
Ist das Weltbild des Psychotherapeuten privilegiert?
„Ich glaube, dass die meisten Psychotherapeuten aus einer gehobenen Mittelschicht kommen“, sagte der Verhaltenstherapeut Thorsten Padberg im Deutschlandfunk (1)
„Einer der Hauptgründe ist die teure Ausbildung, die schlecht bezahlt wird. Man muss entweder sehr, sehr viel arbeiten oder von Zuhause Geld bekommen.
Dadurch werden bestimmte Menschen Therapeuten, die dann oft nicht viel mit denen gemeinsam haben, mit denen sie arbeiten.“
Wer sich die Zahlen schon einmal angesehen hat, die eine psychotherapeutische Ausbildung kostet, dem tritt das Dilemma klar vor Augen.
Soziale Faktoren als Tabu
In der Psychotherapie scheint es auch ein stillschweigendes Tabu zu geben, Machtverhältnisse und finanziellen Fragen zu thematisieren. „Die in der Ausbildung weitgehend tabuisierten Bereiche Macht und Geld üben weitreichenden Einfluss auf das spätere Verhalten von Therapeuten aus (vgl. Lohmer und Wenz 2005). Zudem bereiten die psychotherapeutischen Schulen ihre Kandidaten kaum auf die Bedürfnisse und Indikationen bei verelendeten Bevölkerungsschichten vor.“ (3)
Das ist übrigens auch an der Lage der Psychotherapie-Praxen abzulesen. Die meisten davon befinden sich nicht in den sozialen Brennpunkten der Städte, wo sie für Betroffene leicht und schnell erreichbar wären, sondern in gediegenen Stadtbezirken:
Innerhalb gepflegter Straßen mit leuchtenden Messingschildern, mit stilvoll ausgestatteten Räumlichkeiten und vielen weiteren Hinweisen, die betroffenen Patienten den sozialen Unterschied verdeutlichen.
Eine Befragung zum Thema (7) kam zu dem Ergebnis (5): „Wie sich zeigte, achteten die Befragten genau auf die sichtbaren Unterschiede zwischen der sozialen Klasse des Therapeuten und ihrer eigenen.
Sie bemerkten beispielsweise die hochwertige Kleidung des Therapeuten, die gediegene Ausstattung seines Büros, die Fotografien, die von einem gut situierten Familienleben, von beruflichen Erfolgen oder von kostspieligen Hobbys, Reisen und Sammelleidenschaften kündeten, oder das teure Auto vor der Praxis.
Sie waren sich bewusst, dass ihnen jemand gegenüber saß, der im Gegensatz zu ihnen in geregelten Verhältnissen lebte, einen Job und ein gutes Einkommen hatte. „Das alles schüchterte sie ein und weckte zugleich ihren Neid“, schreiben die Wissenschaftlerinnen.
Zum Problem wurde dies jedoch nur, wenn die Patienten das Gefühl hatten, dass der Therapeut seine Überlegenheit mit Hilfe von Statussymbolen offen demonstrierte oder wenn er sich zu intellektuell und distanziert gab und nicht auf ihre alltäglichen Probleme einging.“
Klassismus in der Psychotherapie-Vergabe?
Frappierend fand ich vor allem eine neuere Untersuchung der Psychotherapeutin Johanna Muckenhuber (12). Sie schreibt darüber, dass Therapieplätze bevorzugt an Menschen vergeben werden, deren Hautfarbe, Sprache und Bildungsgrad denen der Therapeuten ähneln.
„Menschen aus bestimmten Milieus werden nicht nur mit geringerer Wahrscheinlichkeit aufgenommen (…) sie haben wahrscheinlich auch subjektiv und objektiv einen geringeren Therapieerfolg, sind also doppelt benachteiligt.“ (14)
Das bestätigt auch eine neuere Untersuchung von 2022:
“(…) dass diejenigen Patienten, die an einer schweren Depression litten und eine zusätzliche Psychotherapie erhielten, günstigere soziodemografische und klinische Merkmale aufwiesen als diejenigen, die keine zusätzliche Psychotherapie erhielten.
Unsere Daten zeigen, dass tendenziell besser ausgebildete und gesündere Patienten eine zusätzliche Psychotherapie erhalten, was möglicherweise die größere Verfügbarkeit von Psychotherapie für sozial und wirtschaftlich besser gestellte Patienten widerspiegelt”
(Siegfried Kasper, Medizinische Universität Wien, Quelle 15)
Die soziale Frage in der Psychotherapie
"Vor 2000 wurden Arme schlichtweg nicht behandelt", meinte Thomas Grabenkamp, Geschäftsführer der Hamburger Psychotherapeutenkammer (2).
Einige Experten sprechen in diesem Zusammenhang sogar von „Sozialer Amnesie“ bzw. „Gesellschaftsvergessenheit“ (10). Anscheinend geht es hier um eine Debatte, die bereits seit vielen Jahrzehnten in der Psychotherapie existiert.
Meiden Psychotherapeuten soziale Themen?
Der Psychiatriechef Unger aus Hamburg meint: Ja. Menschen aus sozial benachteiligten Verhältnissen hätten komplexe Schwierigkeiten, die ineinandergreifen (Alkoholsucht, Drogenprobleme, Verschuldung, Arbeitslosigkeit etc.). Und das häufiger als Akademiker. "Psychotherapeuten sehen sich aber oft als Einzel- oder Individualtherapeuten. Deshalb sind sie von solchen Fällen schnell überfordert." (2)
Wie wirkt es sich aus, wenn sich innerhalb der Therapie 2 Menschen begegnen, die unterschiedlicher sozialer Herkunft sind?
In amerikanischen Fachdiskursen und mittlerweile auch in deutschen ist der Begriff „classism“ (Klassismus) gefallen. Die Annahme, dass die jeweilige soziale Herkunft bestimmte Interessen, Werte und Zielvorstellungen mit sich bringt, welche unreflektiert in die Therapie einfließen.
Der verdeckte Klassismus ist auf Seiten von Therapeuten als auch Patienten zu finden. Allerdings ist es Aufgabe der Psychotherapeuten, das zu erkennen und entsprechend zu reagieren.
Darum fordert der Sozialpsychologe Heiner Keupp zum Beispiel (10), Psychotherapeuten sollten auf Emanzipationsförderung setzen (anstatt Anpassung), Gesellschaftsdiagnostik betreiben, die eigene Rolle reflektieren und das eigene Menschenbild kritisch hinterfragen.
Die Idee ist gut, wie eine der wenigen gezielten Untersuchungen bezüglich der sozialen Frage und ihren Einfluss auf die therapeutische Beziehung zeigt, durchgeführt von M. Appio im Jahr 2013:
Im Fokus standen die Therapie-Erfahrungen von armen Menschen und der „Arbeiterklasse“ in den USA.
Die Ergebnisse: positiv war die therapeutische Beziehung nur dann, wenn die Therapeuten sich sozialen Klassenthemen stellten. Negativ („unverstanden“, „allein gelassen“) wurde die Arzt-Patienten-Beziehung empfunden, wenn die Therapeuten nicht authentisch wirkten und sich nicht mit sozialen Themen auseinandersetzen wollten.
Appio betonte daraufhin, wie wichtig es für den Therapieerfolg bei sozial benachteiligten Menschen sei, dass sich Psychotherapeuten mit sozialen Klassenunterschieden und sozialer Ungerechtigkeit vertraut machten, um eine gute therapeutischen Beziehung ermöglichen zu können.
Für die Arbeit mit Patienten aus ärmeren sozialen Schichten ist es daher wesentlich, dass sich Therapeuten mit folgenden Aspekten in Bezug auf die eigene Person beschäftigen:
mit ihrem eigenen Privilegiert-Sein,
mit ihrer sozialen Schicht,
ihrem gesellschaftlichen Status
ihrer sozialen Identität
ihren unbewussten und bewussten Vorurteilen,
Einstellungen und Gefühlen diesen Patienten gegenüber
Internalisierter Klassismus der Patienten
Glenda M. Russell widmete sich ebenfalls dem Thema soziale Unterschiede in der Psychotherapie und wies in ihrer Untersuchung darauf hin, wie wichtig das Erkennen von Klassenunterschieden auch für den Behandlungserfolg selbst ist.
Sie versteht unter internalisiertem Klassimsus die „dauerhafte Verinnerlichung von Erfahrungen als abgewertetes und diskriminiertes Mitglied armer oder Working-Class-Schichten, die dann das Selbstbild und den Selbstwert der Person wie auch ihre Beziehungen zu anderen maßgeblich beeinflussen.“ (10)
Wichtig ist, dass Klassismus sich nicht in objektiven Fakten erschöpft: niedriges Einkommen, schlechte Wohnverhältnisse, Mangelernährung sind nur die sichtbaren Zeichen - die Erfahrungen von Abwertung aufgrund sozialer Stellung gehen aber noch viel tiefer.
Sie betreffen insbesondere Scham- und Schuldgefühle, ein negatives Selbstbild, ein pessimistisches Weltbild, die Sicht auf Mitmenschen und Familie etc. Nach Russell zeigt sich der internalisierte Klassismus vor allem über das Gefühl „anders zu sein“ oder „der/die andere zu sein“.
Scham ist ein monumentaler Aspekt für jeden Menschen, der schon einmal Armut am eigenen Leib erlebt hat. Mindestens ebenso relevant sind Zorn, Traurigkeit und Neid.
Ein kleines Beispiel, inwiefern diese Gefühlslagen und Erfahrungen hintergründig wirken und konstruktiv bearbeitet werden können, bietet Muckenhuber (12):
„In der ersten Zeit der Psychotherapie fühlt sich Frau S. häufig von der Therapeutin nicht verstanden, Bindungsängste stehen im Vordergrund (…)
Die körperlichen Symptome von Frau S. und auch ihre suizidalen Tendenzen bessern sich jedoch erst, als der Therapeutin bewusst wird, dass Frau S. auch der Therapeutin gegenüber starke Scham für ihre Herkunft und ihre Mutter verspürt (…) und Frau S. ihrer Mutter gegenüber Schuldgefühle hat (…).
Erst (…) das Verständnis der durch Gegenübertragung ausgelösten Gefühle der Hilflosigkeit der Therapeutin – nicht ausreichend gut für Frau S. dasein zu können – ermöglichen der Therapeutin eine Thematisierung (…)“
Das Soziale Genogramm von G. Stemberger
Interessant ist das Modell des sozialen Genogramms des Psychotherapeuten Gerhard Stembergers. Er schlägt vor, das soziale Schicksal von Großeltern, Eltern, sich selbst und Kindern zu verbildlichen und den Verlauf des Wandels zu betrachten.
Dazu nutzt er 4 spezifische Fragestellungen (sozial-explorative Sonden):
1) erste Erfahrung von sozialer Ungleichheit
2) heutige Situationen und Orte, in denen einem wieder soziale Ungleichheit begegnet
3) soziale Stellung von Freunden vs. Soziale Stellung von Leuten, die man meidet
4) Lebensmotto bei Lebensschwierigkeiten („das passiert nur mir“, „solche Krisen sind allen Menschen gemein“)
Bei den Fragen geht es weniger um Faktizität und historische Tatsachenberichte als um das subjektive Empfinden von Betroffenen (vgl. gefühlte Armut).
Im Klartext:
Es geht darum, Menschen nicht trotz ihrer Herkunft, sondern „mit“ ihrer Herkunft zu verstehen.
Fazit: Klassismus in der Psychotherapie
Einmal abgesehen von dem schwerwiegenden Umstand, dass keine niedrigschwelligen und finanzierbaren Therapieplätze für eine große Gruppe von Menschen zur Verfügung stehen, zeigt sich in meiner persönlichen Erfahrung, dass soziale Fragen in der Psychotherapie zu Lasten des Individuums verschoben und gemieden werden.
Hier also ein Appell im phänomenologischen Sinne an die Psychotherapeuten unter euch:
Bitte nehmt euch die Zeit, eure eigene soziale Stellung mitsamt ihren Privilegien genau zu reflektieren und achtet darauf, nicht eure Wertvorstellungen und eure Lebenswelt auf den Patienten zu projizieren.
Noch viel wichtiger ist mir, dass ihr euch ein Bewusstsein für folgendes erarbeitet (bitte mit Fachlektüre!):
Bei Armut & sozialer Ungleichheit geht es nie um singuläre Erlebnisse, sondern um ein Beziehungsgeflecht aus Erlebnissen, die den Hintergrund der Lebenswirklichkeit vieler Erkrankter zeichnen.
Selbst ein sozialer Aufstieg befreit meist nicht von relativer Armut oder kann ihre gesundheitlichen, finanziellen und sozialen Folgen rückgängig machen, die sich in vielfältiger Weise auf das Leben Betroffener nachteilig auswirken.
Vgl. hierzu:
Was Armut mit Kindern macht – Und wie sie das Selbstbild prägt
Sozialer Aufstieg durch Bildung – Die Opfer des "Erfolgs"
Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Quellen:
1) Pia Rauschenberger, Thorsten Padberg: Die therapeutische Beziehung – Nur empathisch sein reicht nicht
2) Karsten Polke-Majewski: Psychotherapie in Hamburg – Kein Zutritt zur Wohlfühlzone
3) Micha Hilgers: Der authentische Psychotherapeut – Band II. Behandlungstechnik in komplexen Therapiephasen
4) Janice L. Krupnik et al: Treatment expectancies, patient alliance and outcome: Further analyses from the National Institute of Mental Health Treatment of Depression Collaborative Research Program (Studie 2002)
5) Marion Sonnenmoser: Soziale Schicht und Psychotherapie: Kluft zwischen den Lebenswelten
6) S. Kim und E. Cardemil: Effective Psychotherapy With Low-income Clients: The Importance of Attending to Social Class (Studie 2012)
7) M. N. Thompson, O.D. Cole, R. S. Nitzarm: Recognizing social class in the psychotherapy relationship: a grounded theory exploration of low-income clients (Studie 2012)
8) Tatjana Heidemann: Warum Patienten es nicht leicht haben – die (unausgesprochenen) Erwartungen der Therapeuten
9) RKI: Journal of Health Monitoring 2017 2(4), DOI 10.17886/RKI-GBE-2017-111.2
10) Gerhard Stemberger: Die soziale Herausforderung in der Psychotherapie (In: Phänomenal. Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie, Ausgabe 1-2/2013)
11) Birgit Schigl et al: Ebenen therapeutischer Verantwortung – multiple Perspektiven in einer komplexen Welt (psychotherapie forum 12. Mai 2022)
12) Johanna Muckenhuber: Reflexive Inklusion anstatt systematischer Ausgrenzung sozialpsychiatrischer Patient:Innen im Angebot der niedergelassenen Psychotherapie. Ein autoethnografischer Beitrag. (April 2022)
13) Werner Eberwein: Wie kann ein Psychotherapeut seine PatientInnen verstehen?
14) Heike Dierbach: Hilft Psychotherapie Menschen bestimmter sozialer Milieus mehr als anderen?
15) European Psychiatric Association: Psychotherapy found to be ineffective or unavailable for medicated patients with severe depression (Studie 2022)