Polyvagal-Theorie – Vagusnerv Hypothese kritisiert & widerlegt
Polyvagal-Theorie & Vagusnervtraining finden großen Anklang. Das Konzept klingt irgendwie eingängig, ist jedoch nicht wissenschaftlich anerkannt. Also was ist dran an Porges Polyvagal-Theorie, die heute so gelobt wird? Und inwiefern hält sie einer genauen Prüfung stand?
Vagustraining für jedermann
Die Vagusnerv-Stimulation ist in aller Munde. Aber was können Vagusnerv-Übungen und was nicht? In jeden Fall gibt es Unterschiede zwischen den Methoden.
Vgl. auch Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn
Was kann der Vagusnerv?
Die Polyvagal-Theorie sowie Vagustraining sind äußerst beliebt und werden in Magazinen, Zeitungen und Selbsthilfe-Ratgebern wie eine Litanei heruntergebetet.
Wichtig zu wissen: Die Polyvagal-Theorie beruht auf einer Auswahl von evolutionsbiologischen, neurobiologischen und psychologischen Argumenten. Von der empirischen Wissenschaft wird sie angezweifelt, was grundsätzlich noch nichts heißt…
Der Eklektizismus (willkürliches Herauspicken von Aspekten) in der Theorie ist das eine, viel fataler ist allerdings die Effekthascherei, welche betrieben wird (z.B. “Vagustraining: mit einfachen Übungen Selbstheilungskräfte aktivieren” oder “Mit Vagusübungen Depressionen & Ängste selbst heilen”).
Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges
Total vereinfacht gesagt, verknüpft Porges die Entwicklung des autonomen Nervensystems von Säugetieren mit ihrem Sozialverhalten. Eine zentrale Rolle in seiner Theorie nimmt der sogenannte Vagusnerv ein, der in unserer Emotionsregualtion, bei sozialen Kontakten und in Angstreaktionen eine tragende Rolle spielen soll.
Laut Porges ist das Nervensystem immer in einem von 3 Zuständen, weil es die Umgebung unterbewusst stets nach Gefahren- oder Sicherheitssignalen absuche (Neurozeption):
Entspannung oder Sicherheit
Kampf oder Flucht
Erstarrung oder Resignation
Wechseln sich diese Zustände stetig ab, fühlen sich Menschen wohl und ausgeglichen. Kleine Herausforderungen im Job oder Krisen im Privatleben sind demnach zu meistern, weil die Neurozeption richtig abläuft.
Falsch verläuft sie hingegen, wenn sich eine Person bedroht fühlt, obwohl sie sich an einem sicheren Ort befindet. “Wir mögen gar nicht tatsächlich bedroht oder gefährdet sein, doch unser Nervensystem kann in der Vergangenheit festhängen, bereit beim geringsten Auslöser aus der Umgebung zu kämpfen oder wegzulaufen.” (Stanley Rosenberg)
Die wissenschaftliche Kritik an der Polyvagal-Theorie
Ich will hier nur mal grob umreißen, was aus wissenschaftlicher Perspektive gegen die Theorie spricht: So hat schon 2016 der Direktor des Universitätsspitals Basel, Paul Grossman, eine Diskussion über die kritische Hinterfragung der unbewiesenen Vagusnerv-Theorie eingeleitet (2). Er meint:
Porges’ eigenen Studien gründeten teilweise auf ungenauen Messungen von Herzfrequenzen, die von Befürwortern als Marker für den Vagustonus angesehen werden.
Die Annahme, dass es eine phylogenetische Hierarchie gäbe, bei der ein Vagussystem primitiver sei als das andere und nur in Aktion tritt, wenn das höher entwickelte System versagt, ist reine Mutmaßung.
Der Nucleus ambiguus kommt nicht nur bei Säugetieren vor, wie Porges meinte.
Metaanalysen hätten gezeigt, dass RSA bzw. hochfrequente Herzfrequenzvariabilität kein zuverlässiger Marker für den Vagustonus sei.
Die Polyvagal-Theorie vereinfacht komplexe Phänomene
Fürsprecher sehen in der Polyvagal-Theorie eine Verfeinerung bestehender Konzepte.
Kritiker betonen vor allem, dass die Polyvagal-Theorie zu ungenau sei und die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriere. Viele sehen auch keinen Sinn darin, mit dem Wort „Neurozeption“ einen neuen Begriff einzuführen, der hinlänglich bekannte Theorien lediglich vereinfache.
2021 wurde auch in der „Deutschen Zeitschrift für Osteopathie“ Kritik laut (3): Die Autoren warnten vor falschen Aussagen auf neurologischer Ebene und schätzten den Begriff polyvagal als „irreführende Fehlbezeichnung“ ein.
Außerdem sei fraglich, ob der Vagustonus der Verursacher von psychischen bzw. physischen Symptomen ist oder lediglich selbst ein Symptom.
Polyvagal-Theorie philosophisch hinterfragt
Als Philosophin gefällt mir der biologistische Ansatz nicht, den die Polyvagal-Theorie vertritt. Nach der Phänomenologie (bzw. phänomenologischen Psychologie) ist das menschliche Verhalten nicht allein über physische Stimuli zu erklären.
Verhalten ist im phänomenologischen Sinne sinnhafte Antwort auf eine Gegebenheit, die für einen Menschen Bedeutung hat. So verstanden, hat eine Begründung von Verhalten immer die subjektive Bedeutungszuschreibung des Menschen miteinzubeziehen, muss also über Deskription und Introspektion hinausgehen.
Demnach wäre die Polyvagal-Theorie wieder einmal eine Erfahrungsbeschreibung von außen: der organische Aufbau bestimmt das Verhalten.
Anders in der Philosophie: hier steht die Erfahrung im Mittelpunkt bzw. ein Zusammenhang von Erfahrung, wie sie der einzelne Mensch erlebt.
Die Phänomenologie betont, dass eine mathematisch-physikalische Reduktion des Psychischen (statistische Empirie, Hirnscans) einen immensen Kategorie-Fehler beinhaltet:
Die empirische Psychologie unterliegt einem Selbstmissverständnis.
Psychologische Forschung, die allein naturwissenschaftliche Methoden nutzt, ist quasi blind für ihre eigene Perspektiven-Befangenheit.
Hirnphysiologie, Skalierungen und Korrelationen sind naturwissenschaftliche Perspektiven auf das Bewusstsein des Menschen und sein Verhalten. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Verdinglichung der Subjektivität als Zahlenwerte (Potentialaktivitäten, Effektstärken, ICD 10-Kategorien, Vergleichsstudien).
Klar, neurologische Prozesse sind eine biologische Grundlage von Bewusstsein und Verhalten, kann Bewusstsein und Zwischenmenschlichkeit aber nicht hinlänglich erklären.
Das ist ähnlich wie bei der Kunst: Du kannst ein Bild selbstverständlich auf seiner materiellen Grundlage analysieren und die chemische Zusammensetzung herausfinden. Aber die Ästhetik des Bildes lässt sich damit nicht definieren.
Vagusnerv-Stimulation mit Elektrotherapie
In der Praxis haben sich Therapien, die auf die elektrische Stimulation des Vagusnervs abzielen, scheinbar bewährt. Dabei ist zwischen einer invasiven VNS mitsamt Operation und einer non-invasiven Therapie zu unterschieden.
Die invasive Vagusnerv-Stimulation
Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an medizinischen Publikationen. 2020 wurde dann erstmals eine Übersichtsarbeit dazu veröffentlicht (10): Positive Effekte seien zwar nicht sofort zu erwarten, doch nach mehreren Monaten Behandlung zeigen sich deutlich Verbesserungen.
Interessant ist das elektr. Hirnstimulationen grundsätzlich bei Depressionen zu funktionieren scheinen. Auch wenn andere Gehirnbereiche stimuliert wurden (8) und nicht der Vagusnerv.
Das sollte zu denken geben…, oder?
So soll eine neue Studie von 2022 belegen (9), dass Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS), die auf eine Stimulation des dorsolateralen präfrontalen Kortex abzielt, ebenfalls bei Depressionen helfen. Messungen ergaben, dass hierbei verschiedenen Gehirnregionen stimuliert werden.
Was genau bei der elektrischen Vagusnerv-Stimulation im Gehirn passiert, bleibt jedoch relativ unklar. Sicher ist lediglich, dass unterschiedliche Mechanismen in Gang gesetzt werden:
Die Aktivität verschiedener Hirnareale änderte sich
Die Konzentration von Botenstoffen im Gehirn nimmt zu, insbesondere Noradrenalin und Serotonin werden verstärkt produziert. Dazu passt die Erkenntnis, dass Patienten mit einem implantierten Stimulator eine höhere Konzentration dieser Neurotransmitter aufweisen.
Außerdem verändern sich auch Stoffwechsel und Durchblutung in verschiedenen Hirnstrukturen durch die elektrischen Impulse.
Die nicht-invasive Vagunsnerv-Stimulation
2016 fand dann eine Studie heraus, dass sich der Vagusnerv auch mit Hilfe von Elektroden, die außen am Ohr befestigt werden, stimulieren lässt. Das Verfahren nennt sich entsprechend transkutane Vagusnerv-Stimulation (tVNS). Auch hier konnte die Technik helfen, Angst zu lindern und Emotionen zu regulieren.
Dazu gab es 2020 eine Übersichtsarbeit (12) mit folgenden Ergebnissen: Es sei immer noch unklar:
unter welchen Voraussetzungen,
bei welchen Krankheiten,
durch welche Mechanismen
und wie lange die tVNS wirke.
Zumindest gibt es eine neue Studie von 2022, in der die tVNS an gesunden Teilnehmern getestet wurde. Hier kamen die Forscher zu dem Schluss: Zwar war die Aufmerksamkeit gegenüber traurigen Gesichtern verringert, doch auch die gegenüber glücklichen Gesichtern (14). Das weist daraufhin, dass eine emotionale Regulation bzw. Abstumpfung stattfindet (wie bei Antidepressiva auch).
Vagustraining zur Selbstheilung bei Depressionen, Ängsten & Co?
Elektrische Hirnstimulation hat also einen Effekt bei Depressionen (und Ängsten, Epilepsie, Migräne). Okay, doch jetzt endlich kommen wir zu dem Part, um den es mir eigentlich geht:
Zur Zeit überschwemmen Selbsthilfe-Bücher, spezielle Coachings, Meditationskurse und YouTube-Videos den Markt und sie alle versprechen mehr Wohlbefinden & Entspannung durch Vagustraining.
Das Problem dabei:
Viele Übungen beruhen auf komplexen Mechanismen und Prozessen - philosophisch gesehen leib-seelisch – ob dabei wirklich der Vagusnerv die ausschlaggebende Rolle spielt, ist fraglich.
Typische Übungen für den Vagusnerv
Faszientraining: Faszien sind vor Stress nicht gefeit. Auch sie verhärten sich, lassen sich aber durch spezielle Dehnübungen wieder lockern.
Aber liegt das am Vagus oder doch eher an der Stoffwechselanregung durch Bewegung?
Achtsamkeitsübungen: Yoga oder Meditation sollen den Vagusnerv stärken und das Nervensystem ins Gleichgewicht bringen. Allerdings wirken diese Achtsamkeitsmethoden erfahrungsgemäß über veränderte Atemmuster und Lockerung der Muskulatur.
Oft wird behauptet, Vagusnerv-Meditation würde Serotonin, Dopamin und GABA im Gehirn freisetzen und darum gegen Depressionen helfen. Ich will noch mal daran erinnern: die Serotonin-Hypothese ist widerlegt, zudem sind Depressionen keine “Hirnkrankheit”.
heilende Berührungen: Einfach die Hand auf eine bestimmte Stelle legen und der Vagusnerv springt an?
Ich glaube, hier spielt weniger die Berührung eine Rolle, als die innere Haltung, die über die Berührung initiiert werden soll (Selbstmitgefühl, Selbstfreundschaft)
Imaginationsübungen (Visualisierungen): Manche schlagen vor, sich den Vagusnerv vorzustellen, wie er einen Schwall an beruhigenden Botenstoffen ausschüttet. Andere empfehlen, die Augenlider von innen zu betrachten und sich auf die schwarzen / farbigen Pünktchen zu konzentrieren.
Hm, Imaginationen beruhigen auch mit anderen Bildern.
Lachen soll gegen Herzkrankheiten helfen und auch etwas mit dem Vagusnerv zu tun haben.
Lachen schüttet aber auch bestimmte Botenstoffe im Gehirn aus, die ebenso für die positive Wirkung verantwortlich sein können, wenn wir schon biologistisch argumentieren wollen.
Tiefe Bauchatmung steht ebenfalls in der Diskussion.
Doch auch hier bleibt die Frage offen, ob nicht die Veränderung des Atemmusters zu Verbesserungen führt.
Sport bzw. regelmäßige Bewegung wird ebenfalls zur Regulierung des Vagustonus empfohlen, der dafür verantwortlich sei, dass Dopamin ausgeschüttet werde.
Doch Aktivität geht mit einer Vielzahl physiologischer und psychologischer Vorgänge einher, die nicht auf den Vagusnerv beschränkt sind.
Gurgeln, Würgen und Singen haben ebenfalls einen Einfluss auf das Atemmuster und den Herzschlag - Singen auch.
Zudem gibt es keine Forschung, die bestätigen, dass hier der Vagusnerv die ausschlaggebende Rolle spielt.
Fazit: Polyvagal-Theorie
Grundsätzlich ist die Idee, den Vagusnerv zu stimulieren nicht schlecht.
Die elektrische Stimulation ist die forschungsstärkste Methode, doch wie sie genau wirkt und ob wirklich der Vagusnerv die Hauptrolle spielt, bleibt unklar.
Allerdings geht es dabei immer um eine elektrische Stimulation, nicht Entspannung durch Hinlegen und Hand-Auflegen.
Bitte verstehe mich hier nicht falsch: Ich sage NICHT, dass körperorientierte Techniken Unsinn wären. Ganz im Gegenteil, ich halte viel von Embodiment-Therapien (die ja ihren Ursprung in der philosophischen Phänomenologie haben) und auch Klopftechniken scheinen zu wirken. Allerdings nicht so, wie Porges behauptet.
Ich sage hier nur: Die meisten Selbsthilfe Bücher, Kurse und Videos fürs Vagustraining bzw. über die Polyvagal-Theorie sind verschwendetes Geld, weil sie entweder unwirksame Übungen propagieren (Hand auflegen) oder Methoden bewerben, die eine Vielzahl von Prozessen in Körper & Geist anstoßen (Meditation, Atmen).
Die Polyvagal-Theorie ist damit nichts anderes als Populäre-Psychologie ohne Hand und Fuß.
Quellen:
1) Theresa Dutcher: Die Polyvagal Theorie zu PTBS
2) Paul Grossman: Gibt es nach 20 Jahren "polyvagaler" Hypothesen einen direkten Beweis für die ersten 3 Prämissen, die die Grundlage der polyvagalen Vermutungen bilden? (ResearchGate)
3) Liem, Neuhuber: Kritik an der Polyvagaltheorie. In: Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2021; 19: 34-37
4) Michael Ruscio: Does Vagus Nerve Tapping Live Up to the Hype?
5) Gisela Perren-Klingler: Die Polyvagal-Theorie aus der Sicht einer Traumatherapeutin
6) Psylex: Elektrostimulation des Vagusnervs hilfreich (Studie 2013)
7) Juliang Fang et al: Transcutaneous Vagus Nerve Stimulation Modulates Default Mode Network in Major Depressive Disorder. In: Biol Psychiatry. 2016 Feb 15;79(4):266-73. doi: 10.1016/j.biopsych.2015.03.025. Epub 2015 Apr 2.
8) Psylex: Tiefe Hirnstimulation gegen Depressionen (verschiedene Studien)
9) Ruiyang Ge et al: Predictive Value of Acute Neuroplastic Response to rTMS in Treatment Outcome in Depression: A Concurrent TMS-fMRI Trial (Studie 2022)
10) Claus Wolff-Menzler: Vagus Nerve Stimulation for Affective Disorders (Studie 2020)
11) M. Dibué-Adjei et al.: Vagusnervstimulation bei affektiven Störungen. Fortschritte der Neurologie. In: Psychiatrie 88 (2020)
12) Yap et al.: Critical review of transcutaneous vagus nerve stimulation: Challenges for translation to clinical practice. In: Frontiers in Neuroscience 14, (2020)
13) DGPPN: S3-Leitlinie Unipolare Depression Langfassung
14) K. Jonson und L. Steenbergen: Gut Feelings: Vagal Stimulation Reduces Emotional Biases. In: Neuroscience (2022)