Authentisch sein – Was authentisch leben bedeutet

Wir sprechen gerne vom Authentisch-sein und dem Wert der Authentizität für den Einzelnen. Aber was Authentizität ist, das können nur die wenigsten beantworten. Hier findest Du eine Begriffsgeschichte und Definition, die zeigt, wie bedeutungsschwer das Wort authentisch ist.

Authentisch – Was bedeutet authentisch sein?

Was bedeutet es, authentisch sein?

Authentizität brauchen wir, wie es scheint. Aber warum überhaupt?

Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik

 

Was ist dran am Authentisch-sein?

Job, Familie, Freunde, Geschlecht, Status, Milieu – überall spielen wir verschiedene Rollen und immer mehr Menschen scheinen sich darin nicht mehr echt, ehrlich oder bei sich selbst zu fühlen. Aber sind die verschiedenen Rollen, die wir einnehmen, das Gegenteil von Authentizität? Oder gehören sie nicht viel mehr dazu?

So viel ist klar: Die Sehnsucht nach Echtheit ist ein Phänomen der Neuzeit. Mittlerweile gibt es Abermillionen Beiträge im Internet, unzählige Bücher oder allerhand teure Coachings.

Es geht aber noch weiter: Das Wort “authentisch” wird derzeit inflationär benutzt. Leute sprechen sich dabei selbst zu,

  • authentisch zu schreiben,

  • authentisch zu sein

  • und vor allem authentisch zu leben

Dabei wird wieder allerhand vermischt, angefangen von Problemen der Identität, der Individualität, der Sozialität u. v. m. Also was genau meint denn eigentlich Authentizität?

vgl. auch: Das Selbst in der Philosophie

 

Inhaltsverzeichnis: Authentisch sein


 

Was bedeutet authentisch sein? (vereinfacht)

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Einfach ausgedrückt, bedeutet Authentizität für die meisten Menschen:

Du wirkst und fühlst Dich entspannt, unverfälscht, frei, ehrlich und stehst selbstbewusst zu Dir selbst – mit allen Schwächen & Stärken, die zu Dir gehören.

Man kann auch sagen, Du stehst im Einklang mit Dir selbst und das strahlst Du aus.

Auf Wikipedia heißt es: Angewendet auf Personen bedeutet Authentizität, sich gemäß seinem wahren Selbst, d. h. seinen Werten, Gedanken, Emotionen, Überzeugungen und Bedürfnissen auszudrücken und dementsprechend zu handeln, und sich nicht durch äußere Einflüsse bestimmen zu lassen (Harter, 2002). Gruppenzwang und Manipulation beispielsweise unterwandern persönliche Authentizität. (2)

So viel zur saloppen Definition – sie zeigt, was die meisten Menschen mit authentisch verbinden. Verfolgen wir aber die Geschichte der Authentizität, dann wird das Konzept um einiges vielschichtiger – so wie es dem Mensch-Sein angemessen ist.

Schließlich ist das wahre Selbst nichts Selbstverständliches. 😉​

 
Bedeutungsfacetten Authentizität

Bedeutungs-Facetten:
Authentizität ist ein schillernder Begriff

Authentizität hat eine äußerst positive Ausstrahlung – und ist so vielseitig in seiner Bedeutung, dass es schwer ist, hier einen gemeinsamen Nenner zu finden.

Die aktuellen Diskurse über Authentizität konzentrieren sich auf das Individuum, den Einzelnen. Authentizität gehört zum Leitbild der modernen, idealtypischen Leistungsgesellschaft. (21)

Gerade die geschichtliche Entwicklung des Wortes zeigt uns aber, dass nicht jeder das Gleiche darunter versteht und je nach Kontext andere Synonyme fallen:

  • Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit

  • Originalität

  • Glaubwürdigkeit

  • Redlichkeit

  • Individualität

  • Unverfälschtheit

  • Besonderheit

  • Eigenständigkeit

  • sich ausleben

  • Selbstverwirklichung

  • Ganzheitlichkeit

  • Einzigartigkeit

  • Unverkrampftheit

  • Unverstelltheit

  • Ursprünglichkeit

  • Unmittelbarkeit

  • Plausibilität

  • Wahrheit

Was diese Worte einzeln bedeuten sollen, ist nicht so einfach zu beantworten. So sieht es auch der Philosoph Christian Schrub (22):

Betrachtet man die ganze Bandbreite dieser Verwendungsweisen, so scheint A ein „Plastikwort“ (Pörksen) zu sein, das irgendeine Art von Echtheit, Unverfälschtheit, Ursprünglichkeit, Unverstelltheit, Unmittelbarkeit, Ungeschminktheit, Unverkrampftheit bezeichnen soll; was dies aber sein soll, scheint bei den Autoren, die sich mit A beschäftigen, derart zu variieren, dass man mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, es bei der begriffsgeschichtlichen Bestandsaufnahme zu belassen und ansonsten das Wort besser nicht zu benutzen.”

 
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Philosophie-Geschichte der Authentizität

Wenn man einen Begriff und seine Bedeutung näher bestimmen will, lohnt es sich immer an der Begriffsherkunft anzusetzen.

Tatsächlich hat der Authentizitäts-Diskurs eine lange Kulturgeschichte und wurde mit verschiedenen Bedeutungen besetzt.

Authentizität stammt vom Altgriechischen „authentikos“, eine Zusammensetzung aus

  • „autos“ = selbst, eigen

  • und „onthos“ = sein (nicht gesichert laut Quelle 12 & 17)

 
authentisch heisst

Wortherkunft von “authentisch”

Übersetzt heißt authentisch aber nicht, Du selbst sein, sondern viel mehr. Denn in der altgriechischen Sprache hat das Wort etwas andere Konnotationen (12), die fürs Verständnis überaus wichtig sind.

  • authentein (Verb) = eigenmächtig handeln, herrschen

  • authentes (Nomen) = Der, der selbst vollendet; Urheber, Ausführer, Gewalthaber; von eigener oder verwandter Hand Ausgeführtes

  • authentikos (Adverb) = nach einem zuverlässigen Gewährsmann

 

Das Authentizitätsparadox

Merke: Auch wenn es hier vorrangig um Dokumente und Schriftstücke ging, brauchte es immer einen Dritten, der Originalität bzw. Autorität zuspricht. Und hier haben wir schon das erste Paradox:

Authentizität ist nicht von selbst echt, sondern braucht den Betrachtenden, einen Dritten.

Interessant ist vor allem: auch der Herr, Gewalthaber, die Obrigkeit bedeutete im antiken Griechenland authentisch – hier finden wir die Verbindung zur Autonomie, die aber im Verständnis von Authentizität ausgelagert wurde (12).

Auf jeden Fall wird hier klar: Authentizität ist nicht passiv, sondern mit aktiver Gestaltung verbunden (“der, der selbst vollendet”)

 

In der antiken Philosophie (Sokrates, Aristoteles etc.) ist der Mensch Teil der Gesellschaft und findet in ihr seine Selbstverwirklichung. Und zwar nur in ihr. Das ist ein riesengroßer Unterschied zum modernen Verständnis von “authentisch sein”. Denn heute geht man vom Gegenteil aus. Vgl. auch: Was ist Philosophie?

 

Aufklärung & Frühromantik:
Innen vs. Außen

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Wirklich interessant wurde das Authentizitätskonzept aber erst im 18. Jahrhundert.

Das liegt an unserer Mentalitätsgeschichte:

Selbstbild und Ethik des modernen Subjekts waren der heißeste Scheiß für die Philosophen (Aufklärung) der damaligen Zeit sowie für die Dichter der frühen Romantik.

Rousseau über Authentizität

Obwohl Jean-Jacques Rousseau nicht wirklich von Authentizität sprach, hat er das Konzept zuerst auf den Menschen übertragen (13). ,,Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben.“ (14)

Auf Rousseaus Tarzan-Romantik will ich hier gar nicht eingehen, im Grunde spricht er davon, dass die Menschen in der Zivilisation nicht sie selbst sind, sondern sich so geben, wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet. Sie werden durch Erziehung und Zivilisierung quasi verfremdet und ethisch verschlechtert. Darum fordert der französische Aufklärer die „äußerliche Verwirklichung des inneren Selbst“.

Rousseau Authentizität Konzept

Rousseau geht davon aus, dass der Mensch von selbst gut und redlich ist. Erst die Sozialisierung verderbe ihn moralisch.
(Spoiler: davon geht heute keiner mehr aus, schon gar nicht die Psychologie)

Aus dieser Definition entspringt auch die heutige, umgangssprachliche Sicht auf Authentizität. Man selbst sein und keine Rollen erfüllen.

Das Innerliche im Kampf gegen das Äußerliche.

 

Diderot als Begründer der differenzierten Authentizität

Treffender ist hingegen die philosophische Definition von Denis Diderot, dem intellektuellen Widersacher von Rousseau (15). Er sieht den Menschen etwas komplexer: Das Ich ist unstrukturiert, lückenhaft und verändert sich im Laufe der Zeit.

In verschiedenen Situationen und gesellschaftlichen Kontexten kommen so diverse Facetten des Ichs zum Vorschein. Das alles bleibt aber immer dieselbe Person mit einzigartigem Charakter. Sie vereint nur mehrere Facetten in sich.

 

Heidegger, Fromm & Kierkegaard

  • Mit der Existenzphilosophie (u. a. Bultmann, Jaspers) wird ‹authentisch› zum Synonym für Heideggers Terminus eigentlich (19). Dabei scheint es sich um einen Übersetzungsfehler zu handeln, denn “authentic” wird erstmals in der englischen Übersetzung von Heidegger benutzt.

  • Auch Erich Fromm philosophierte über das Authentische und erklärt es zur Ursprünglichkeit, dem Gegenbegriff zur Entfremdung.

  • Bei Kierkegaard bedeutet Authentizität wiederum Leidenschaft, Lebendigkeit und Gefühl im Gegensatz zur kalten, rationalisierten Gesellschaft (25).

 

Authentizität als Modewort

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Erst in den 1960ern wurde Authentizität von den Hippies, Linksalternativen, New Age’lern und Esoterikern dann wiederentdeckt und heftig postuliert.

Dabei ist das Konzept in modernen Milieus kein Synonym zur Freiheit, viel mehr geht es um eine steife Selbstverpflichtung, die aber von außen gefordert wird.

Und heute steht Authentizität im gleichen Atemzug wie Selbstfindung ganz oben auf der To-do-Liste, um soziale Anerkennung zu erfahren (Stichwort: Geltungsbedürfnis) und seine Aufgabe als Individuum zu erfüllen.

Gerade medial – ob Selfies, TV-Realityshows oder Zeitung – bemühen sich viele Menschen einen Effekt von Authentizität zu erzeugen.

 

Wer authentisch ist, dem vertraut man. Allerdings ist diese Art von Authentizität bei genauerem Hinsehen kein sozialer Wert bzw. eine Tugend im eigentlichen Sinne.

 

Nehmen wir zum Beispiel einen Vollidioten, der sich arschloch-mäßig aufführt. Auch er ist definitionsgemäß authentisch, nämlich in seinem Arschloch-Sein 😉 Vertrauen wirst Du ihm aber trotzdem nicht, obwohl er glaubhaft, echt und unverfälscht ist.

Oder vergleichen wir die sexistischen und rassistischen Aussagen von Donald Trump: authentisch, aber total unmoralisch. Ein anderes Beispiel wären die sozialen Medien, wo die Inszenierung von Authentizität am offensichtlichsten ist.

 

4 Kriterien der Authentizität in der Sozialpsychologie

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Nur zur Vollständigkeit:

In Tradition Rousseaus identifizierten im Jahr 2006 die Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman (University Georgia) 4 Kriterien, die gegeben sein müssen, um Authentizität zu erfahren bzw. sich authentisch zu fühlen.

Leider liest sich das mehr wie eine Liste zur eigenen Zufriedenheit und kann leicht in die Egozentrik abgleiten. Außerdem werde hier wieder bestimmte Bedeutungen zugeschrieben, die eigentlich sehr umstritten sind:


1) Bewusstsein

Von Deinem Bewusstsein hängt es ab, ob Du Dich und Dein Handeln überhaupt wahrnimmst. Das setzt allerdings Selbstreflexion voraus.


2) Ehrlichkeit

Ehrlichkeit ist nicht so unser Ding. Wenn es um Dich selbst geht, nimmst Du Dich einen Tick positiver wahr als Du bist. Also tendenziell. Authentizität beinhaltet jedoch das Wissen, um die eigenen Probleme und Fehler, auch wenn das unangenehm und schmerzlich ist.


3) Konsequenz

Wenn Du Deine Werte und Prinzipien nicht einhältst oder etwas tust, das Du nicht willst, dann fühlst Du Dich nicht authentisch.


4) Aufrichtigkeit

Etwas verwirrend, weil der Begriff der Ehrlichkeit recht nahekommt. Während es bei ersterem um Deine Haltung zu Dir selbst geht, dreht sich bei der Aufrichtigkeit alles um Deine Haltung innerhalb sozialer Kontakte. Du zeigst Dich als authentischer Mensch auch vor anderen offen, wie Du bist, und stehst zu Dir.


 

Authentisch sein als Inszenierung

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Sei Du selbst – das klingt einfach, ist es aber nicht.

Denn die Grenze, was aus Dir selbst entspringt und was durch fremde Einflüsse entsteht, ist fast schon fließend.

Und eine hoch philosophische Fragestellung:

  • Was ist das wahre Selbst?

  • Wie lässt sich eine Grenze zwischen Einfluß und eigenen Impulsen herausfinden?

  • Was ist Selbstbestimmung und was Fremdbestimmung?

  • Was ist Identität? Und wie entsteht sie? Worauf baut sie auf?

 

Zudem wird Dir beim modernen, saloppen Begriff von Authentisch-Sein einiges an Herausforderung abverlangt:

Du musst Dich selbst gut kennen, darfst Dich von den Erwartungen der Umwelt nicht beeinflussen lassen, musst diese Einflüsse außerdem kennen und glasklar durchschauen und Du musst den Mut haben, Deine Gedanken und Bedürfnisse offen zu zeigen.

Und dann gibt es noch die Authentizitätsforderung in verschiedenen Rollen: Nicht nur der Einzelne im Privaten, auch Politiker, Schauspieler, Influencer & Co. sollen authentisch sein – quasi als Qualitätsstempel.

Die meisten Menschen – insbesondere auf Facebook, Instagram & Co. behaupten wie ein Mantra, authentisch zu sein, und stellen dabei eine Echtheit, die gekünstelt ist und einen sehr faden Beigeschmack bekommt.

 
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Authentisch leben – geht das?

Es finden sich ja allerhand Anleitungen und Materialien zur Authentizität. Oft vollgestopft mit Phrasen wie.

  • „Sie müssen herausfinden, wer Sie eigentlich sind“,

  • „Sie müssen bewusst Ängste abbauen und sich ihnen stellen“

  • „Beobachten Sie sich selbst“,

  • „Akzeptiere Dich so wie Du bist“

  • „Hör auf Dir Sorgen zu machen, was andere von Dir denken“ usw.

Bei der Diplom-Psychologin Winning las ich: "Authentisch sein heißt zuallererst, dass ich mich wahrnehme und mich bewusst erlebe, was ich in diesem Moment denke, fühle, körperlich spüre und brauche. Aber auch: Ich nehme all das ernst. Ich drücke meine Gefühle nicht weg, verdränge meine Bedürfnisse nicht, sondern achte und respektiere sie." (9)

Aaaahja, wahnsinnig erhellend 🤦

 
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Ich denke, diese Sprüche kennen wir alle. Und für mich klingt das nach einer Verwechslung der Begriffe mit bestimmten, uralten Konzepten: nämlich mit der guten alten Selbstreflexion und Selbstfürsorge.

Du achtest auf Deine Gefühle, wagst Dich auf eine Meta-Ebene, erkennst Deine Stärken und Schwächen und gewinnst durch die Selbsterfahrung ein stabiles Selbstbewusstsein.

Dabei ist Selbstreflexion kein Ego-Film: Wer regelmäßig reflektiert, findet nicht nur Wertschätzung sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber seinen Mitmenschen, anderen Lebewesen und der Welt als Ganzem.

 

Aber Authentizität ist keine Wertschätzung und die Selbstreflexion eigentlich eine Voraussetzung fürs Authentisch-Sein.

 

Aber was ist denn jetzt authentisch?

Nach all den Ausführungen fragst Du Dich sicher, was Authentizität schlussendlich bedeutet. Das Problem mit der Authentizität ist einfach ihre Begriffsgeschichte.

Es gibt noch viel mehr Bedeutungsfacetten, die in vielen Essays unterschiedlich ausgeprägt sind. Es ist hier wirklich schwer, eine Übereinstimmung zu finden, weil zahlreiche andere Diskurse miteinfließen (Aufrichtigkeitsdiskurs, Identitätsdiskurs, Selbstdiskurs, Kunstdiskurs, Sprachdiskurs, Indivdualitätsdiskurs etc.)

 
Das Selbst ist kein Objekt, das schon da ist, um gefunden zu werden
— Taylor
 

Authentizität als Lebensaufgabe

Bei keinem Philosophen ist eine Anleitung zum Authentisch-Sein zu finden. Aus gutem Grund. Nietzsche meinte zum Beispiel: “Glaube nicht einfach, denke selbst, finde deinen eigenen Weg” (Also sprach Zarathustra)

Anders läuft es beim Marketing und in der Umgangssprache: Hier wird mit dem Begriff nicht zimperlich umgangen und vor allem nicht kritisch.

Der Philosoph Erik Schilling bezeichnet Authentizität als eine “metaphysische Sehnsucht: die Essenz der Dinge so zu spüren, wie es sie angeblich tatsächlich gibt.“

Dabei ist es für uns eigentlich unmöglich, bei einer Person oder Sache das wahre Wesen zu erkennen – was ist denn wahr? Und wie soll das zu erkennen sein? Ist das Selbst fix und unveränderlich?

Vgl. auch Persönlichkeitsmodelle » Menschenbilder: Freud, Rogers, Perls (Teil 1)

 

Authentisch sein bedeutet … vielschichtig sein

Die Illusion vom wahren Kern der Persönlichkeit

Die letzte Frage wird von Philosophen, Psychologen und Neurobiologen verneint. Das Ich-Bild besteht aus mehreren Persönlichkeitsmerkmalen, den Big 5 der Charakterzüge, die sich in ihrem Verhältnis ständig ändern – je nach Situation, Lebensstation, Alter, Umfeld etc.

Das ist sehr wichtig, weil sonst keine Persönlichkeitsentwicklung stattfinden könnte. Was fest und unveränderlich ist, kann nicht wachsen, sondern stagniert.

Oder in den Worten Schillings: “Privat mögen Aufrichtigkeit und konsistentes Verhalten sinnvolle Ziele sein. Aber überall Authentizität zu suchen, geht zu weit. Für die meisten Interaktionen im Alltag wünsche ich mir eine professionelle Basis, keine authentische.

Ich muss nichts über die politischen Ansichten der Chirurgin wissen, die mir eine neue Hüfte einsetzen soll. Private und gesellschaftliche Rolle müssen eben nicht immer in eins fallen.

Ich kann durchaus im Reinen mit mir sein, wenn ich mich meinen Fußballfreunden gegenüber anders verhalte als meiner Chefin. Man sollte die plurale Welt gelten lassen und Widersprüchlichkeiten aushalten – auch die eigenen.”


Quellen:
1) Spektrum Lexikon der Psychologie: Authentizität
2) Wikipedia: Authentizität
3) Bugental, J. F. T. . The search for authenticity: An existential-analytic approach to psychotherapy (1965)
4) Michael Kernis und Brian Goldman: A multicomponent conceptualization of authenticity. Theory and research (Studie 2006)
5) Jochen Mai: Authentizität: Die Kunst authentisch zu sein
6) Dorsch Lexikon der Psychologie: Authentizität
7) Nicole Alps: Du willst authentisch sein? – 3 Tipps für mehr Authentizität
8) Katharina Tempel: Authentisch sein – So lernst du zu sein, wie du bist!
9) Caroline Winning (Diplom-Psychologin) im Interview mit NEON
10) Kathrin Adamski: Authentisch sein – was heißt das eigentlich?
11) Achim Saupe: Kulturgeschichte der Authentizität: Nur das Echte zählt
12) Gemoll, Standard-Wörterbuch der altgriechischen Sprache
13) Thomas W. Ullrich: Authentizität – Alles außer authentisch. Betrachtung eines Buzzwords
14) Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter Menschen
15) Denis Diderot: Rameaus Neffe
16) Achim Saupe: Docupedia-Zeitgeschichte – Authentizität
17) Duden Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache
18) Metzler Lexikon Philosophie: Authentizität
19) Schwabe Historisches Wörterbuch der Philosophie
20) Barbara Behrendt: Philosoph Wolfgang Engler: Wie sinnvoll ist Authentizität?
21) Ansgar Kreutzer und Christoph Niemand: Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept
22) Christian Schrub: Authentizität
23) Matthias Sträßner: Natürlichkeit und Künstlichkeit - Versuch über das Authentische
24) Wolfram Eilenberger, Interview mit Charles Taylor: „Authentisch sein heißt, sein Potenzial verwirklichen“
25) Niklas Nau: Authentizität - Die Kunst "man selbst" zu sein
26) Birgit Beck: Authentisches Glück? Ein schillernder Begriff in Theorien des guten Lebens
27) Martin Thurau: Unterhaltung mit: Erik Schilling über Authentizität
28) Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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