Berührungstherapie bei Depression – Menschlicher Kontakt hilft

Um die quälende Gefühllosigkeit bei Depressionen zu durchbrechen, können menschliche Berührungen helfen. Studien legen nahe, dass angenehmer Körperkontakt sogar Ängste, Schmerzen und depressive Verstimmungen reduziert.

Berührungstherapie bei Depressionen hilfreich

Berührungsmedizin ist nicht neu

Die moderne Medizin hat sich über viele Jahrhunderte hinweg vor allem auf den sichtbaren und greifbaren Körper fokussiert. Die Psyche wurde zur Nebensache erklärt.

Vgl. Entmenschlichte Menschenbilder (Grenzen der Naturwissenschaft)

Heute wissen wir es besser. Oder genauer gesagt: Wir sollten es besser wissen. Die Berührungsmedizin ist zumindest in der Schmerzbehandlung, Altenpflege, Onkologie, Geburtshilfe und Pädiatrie angekommen.

Trotzdem lautet das Paradigma der Medizin weiterhin: Abstinenz. Selbst in der Psychotherapie kommen empathische Berührungen selten vor. Außer evtl. in der sogenannten Körperpsychotherapie, die aber nicht von den Krankenkassen übernommen wird.

Vgl. auch Therapeutische Beziehung – Vertrauensprobleme & Unehrlichkeit

 

Eigentlich überaus schade, denn vor allem…

  • eine Umarmung zur rechten Zeit,

  • ein tröstendes Schulterklopfen bei intimen Gesprächen,

  • eine stützende Hand auf dem Rücken

vermitteln ehrliche Anteilnahme. Körperliche und emotionale Abstinenz signalisieren dagegen Distanz.

 

Berührungen reduzieren Stress

Wie Berührungen neurobiologisch wirken, ist gut erforscht: Sie werden von bestimmten Sinneszellen der Haut registriert. Der Gehirnbereich, der Haut- und Tastempfindungen verarbeitet, ist nahe der Amygdala angesiedelt, die beim Angsterleben eine Rolle spielt.

Werden wir (angenehm) berührt, kommt es zur Ausschüttung von Oxytocin und weiteren stress-dämpfenden Botenstoffen. Dadurch trägt Körperkontakt zu unserem Wohlbefinden und unserer Entspannung bei (1).

Der Experte Müller-Oerlinghausen (2) bringt außerdem die Interozeption ins Spiel: Sie umfasst alle Leibempfindngen, die mit dem physiologischen Zustand des Körpers zusammenhängen (Herzschlag, Atmung) sowie innere Sinneseindrücke und Reize (Temperatur, Berührung etc.).

Hier soll die Insula eine zentrale Rolle spielen: Er behauptet, sie integriert alle Empfindungen und bündelt sie zu unserem leiblichen Selbst, das sogenannte „material me“. Wird die Interozeption (die ja bei Depressiven gestört ist) mithilfe spezielle Massage-Techniken animiert, kann sich so das Leibempfinden und darüber die Depression bessern.

Vgl. auch Was tun bei Panikattacken? Klopfen gegen Angst

 

Kernkomponente: depressive Anhedonie

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Studie von Müller-Oerlinghausen (2), die sich nicht auf vage Symptome konzentrierte, sondern ein spezifisches Merkmal depressiver Erkrankungen: Anhedonie bzw. Gefühllosigkeit.

Anhedonie betrifft nicht nur das Denken oder die Gefühle. Sie wirkt sich auf den gesamten Menschen aus. Denn auch der Leib erschlafft oder erstarrt, fühlt nicht, schwingt nicht, lebt nicht. » Korporifizierung des Leibes

Die Starre und Enge, die Menschen in einer Depression überwältigen, sind sowohl körperlich als auch psychisch äußerst real.

Der depressive Zustand wird von vielen körperlichen Störungen nicht nur, wie es gerne heißt, begleitet, sondern diese stellen ein Basissymptom der Depression dar, sodass auch von „somato-psychischen“ (anstatt psychosomatischen) Syndromen gesprochen werden könnte” (2)

 

Wenn der Leib erkaltet

Viele Menschen mit Depressionen erleben eine Starre oder Kontraktion. Das gesamte Sein zieht sich in sich zusammen. (» Depressionssymptome) Einige berichten von einem Druck-Gefühl / Engegefühl im oberen Brustkorb, grundsätzlich ist jedoch die Beugemuskulatur betroffen.

  • die Streckermuskeln an Rücken und Nacken spannt sich ebenfalls an

  • und die Atmung wird flacher, sodass die Muskulatur zu wenig Sauerstoff erhält

  • das erschwert u.a. die Bewegungsfähigkeit und wäre eine physiologische Erklärung für die Hemmung und Körperstarre.

 

Berührungsmedizin gegen die Gefühllosigkeit

Tatsächliche legen kleine, kontrollierte Studien nahe, dass spezifische Massagen bei Depressionen hilfreich sind. Erste Tests zeigen, dass sanfte Berührungen bei Depressionen helfen können, den eigenen Herzschlag besser zu spüren. Zudem berichten Betroffene, dass die Massage sie dabei unterstützte, ihre negative Gedankenspirale zu durchbrechen.

 

Für Depressionen wurden dafür spezielle Techniken entwickelt:

Bei der Slow-Stroke-Massage streicht man sanft, mit leichtem Druck und langsam über große Hautoberflächen. Es ist also mehr ein Streicheln als eine klassische Massage. Diese Methode zielt darauf ab, bestimmte Nervenfasern zu aktivieren, die langsame Berührungen weiterleiten und ein Entspannungsgefühl auslösen können.

Bei der psychoregulativen Massage wird wirklich langsam und sanft massiert. Studien sagen, dass diese Methode besonders effektiv ist, wenn es um psychosomatische Rückenschmerzen geht, die mit Depressionen auftreten.

 

Die vermuteten Wirkungs-Mechanismen:

  • Auf physiologischer Ebene regen sanfte Berührungen die Produktion von Oxytocin an, welches mit Gefühlen von Geborgenheit und Wohlbefinden verbunden ist.

  • Auf emotionaler Ebene fühlen sich viele Menschen mit Depressionen sozial isoliert. Körperliche Berührung fördert hier ein Nähe- und Verbundenheitsgefühl.

  • Auf psychologischer Ebene stärkt die positive Erfahrung von Berührung das Selbstwertgefühl und hilft, das Vertrauen in den eigenen Körper wiederaufzubauen.

 

Selbstberührung weniger effektiv

Selbstberührung hilft ebenfalls beim Stressabbau und beruhigt. Das ist z. B. der Grund, warum wir uns alle so häufig ins Gesicht fassen. Allerdings registriert das Gehirn sehr genau, dass die Berührung von einem selbst kommt. Daher kann Selbstberührung die positiven Effekte zwischenmenschlicher Berührungen nicht ersetzen.

 

Fazit: Berührungen gegen Depressionen

Die Berührungstherapie nach Müller-Oerlinghausen ist eine vielversprechende Ergänzung zur Psychotherapie. Wichtig: Ergänzung; als alleinige Maßnahme reicht sie nicht aus.

Das passt auch hervorragend zu einem ganzheitlichen Ansatz: psychische Krankheiten sind keine reinen Kopfgeburten, sondern ein mehrdimensionales Geschehen. Entsprechend ergibt es Sinn, Betroffene auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu behandeln.


Quellen:
1) Packheiser, J. et al.: A systematic review and multivariate meta-analysis of the physical and mental health benefits of touch interventions. Nat Hum Behav 8, 1088–1107 (2024). https://doi.org/10.1038/s41562-024-01841-8
2) Müller-Oerlinghausen et.al.: Berührungsmedizin – ein komplementärer therapeutischer Ansatz unter besonderer Berücksichtigung der Depressionsbehandlung [Touch Medicine - a complementary therapeutic approach exemplified by the treatment of depression]. Dtsch Med Wochenschr. 2022 Feb;147(4):e32-e40. German. doi: 10.1055/a-1687-2445. Epub 2021 Dec 17. PMID: 34921360; PMCID: PMC8841210.
3) DGfBM – Deutsche Gesellschaft für Berührungsmedizin e.V.
4) Andreas Stötter et al: Mindfulness-Based Touch Therapy and Mindfulness Practice in Persons with Moderate Depression. International Journal for Body, Movement and Dance in Psychotherapy. London (2013)

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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