Naturrecht heute – Zur Aktualität einer alten Denkfigur
Dass die menschliche Natur etwas mit der Moralität und dem Rechtsempfinden des Menschen zu tun hat, steht außer Frage. Was seit jeher umstritten ist und – soviel ist klar – auch weiterhin heftig umstritten sein wird, das ist die Frage, was wir denn meinen, wenn wir von der „Natur“ sprechen.
Über die natura humana
Wenn Thomas von Aquin die natura humana anspricht, um den Hang des Menschen zum Guten zu erklären, meint er nicht das gewordene Genmaterial, sondern den seienden Geist Gottes, der das menschliche Gewissen formt, vor dessen Urteilskraft dem Menschen Tugenden und Laster als solche identifizierbar sind.
Wenn die Aufklärer von „Vernunftnatur“ sprechen, erscheint ihnen dabei die menschliche Ratio als unbestechlicher „Gerichtshof“ (Kant), der in der Lage ist, Handlungen (eher: handlungsleitende Maxime und Normen) letztgültig als gut oder böse zu qualifizieren.
Thomas von Aquin meinte, der Mensch könne aus dem „Ewigen Gesetz“ Gottes das „Natürliche Gesetz“ erkennen (und zwar qua Vernunft), um daraus konkrete Schlüsse zu ziehen für Einzelvorschriften auf den unterschiedlichen Ebenen der, wie wir heute sagen würden, Individual-, Sozial- und Institutionenethik. Dabei wird das Gebot Gottes durch die Natur des Menschen in ein säkulares Rechtssystem überführt, dem alle – unabhängig von ihrer Religion – zustimmen können.
Das Naturrecht bleibt aber Ausdruck des inneren menschlichen Gespürs für das Gute und Richtige, weil sich dessen Naturbegriff nicht in der Biologie des Menschen, etwa seinen Instinkten und Trieben, erschöpft, sondern den Menschen als vom Geist der Vernunft durchdrungene leiblich-seelische Einheit sieht, die im Gewissen eine Instanz kennt, vor der sich das göttlich-natürliche Recht nicht nur als richtig, sondern auch als wahr mitteilt – unabhängig davon, was die Mehrheit daraus erkannt hat und in das faktisch geltende Rechtssystem zu überführen in der Lage war.
Nach den Erfahrungen von zwei Diktaturen auf deutschem Boden wissen wir, wie wichtig es sein kann, in diesem Sinne zwischen Recht und Gesetz zu unterscheiden – und sich im Zweifel auch illegal zu verhalten.
Benedikt über das Naturrecht
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 griff Papst Benedikt XVI. diesen Naturrechtsgedanken auf. Das Generalthema in Benedikts Rede war die Frage nach den „Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats“, also die Frage nach Gerechtigkeit.
Es war eine rechtsphilosophische Vorlesung zu den Quellen des Legalen im Guten und Wahren, sprich: im Naturrecht. Die Grundfrage war eine für das politische Geschäft entscheidende:
Was ist die Basis des positiven Rechts, also: der Gesetze?
Woher begründet sich der Umstand, dass die Gesetzgebung (also: das von Benedikt adressierte Parlament) Regeln erlässt, die Dinge allgemein ge- oder verbieten?
Eine mögliche und naheliegende Antwort lautet: Aus dem Mehrheitsprinzip. Das ist nicht falsch, muss aber in Einzelfällen hinter der Ahnung davon zurückweichen, dass bestimmte Dinge unserer Fähigkeit zur Konventionierung oder Konfektionierung entzogen sein sollten.
Wahrheit ist manchmal ungleich Mehrheit, Mehrheit garantiert nicht immer Wahrheit. Dieser Gedanke ist der Grund naturrechtlicher Überlegungen, Motiv der Suche nach einer Gewissheit jenseits dessen, was räumlich und zeitlich isoliert als „gewiss“ zu gelten hat.
Es ist die Suche nach Wahrheit jenseits von Stimmigkeit, von Stimmung. Es ist die Suche nach der Natur des Menschen, nach einem Sein, das die Konstante bildet bei dem Versuch, Gerechtigkeit zu schaffen durch ein Sollen.
Doch kann man ethische Normativität (Sollen) tatsächlich aus dem entnehmen, was ist, also aus der Natur des Menschen (Sein)?
Nein, soweit das Sein im Sinne der positivistischen Weltsicht ein funktionalistisches System meint, das sich wissenschaftlich komplett beschreiben lässt.
Ja, soweit es Gottes Schöpfung meint, eine Natur, der Vernunft und Freiheit eingestiftet sind.
Um diese Natur geht es im Naturrecht, diese Natur des Menschen meinen Thomas und Benedikt. Nur eingedenk dieser Natur lässt sich Kultur schaffen, kann der Rechtsstaat gelingen.
Der naturalistische Schluss vom Sein auf das Sollen geht nur fehl, wenn er auf einer positivistischen Naturauffassung basiert. Umgekehrt lässt sich die Dichotomie von Sein und Sollen aufheben, indem die Natur des Menschen nicht nur funktionalistisch, sondern als Ausdruck des göttlichen Willens verstanden wird.
Darin wiederum mag man sogar einen Hinweis entnehmen auf das fundamentale Unrecht, das Menschen (auch innerhalb der Kirche!) begehen, wenn sie die menschliche Natur und den göttlichen Willen missachten – stehe in Normen und Regeln, was auch immer dort stehe, fordere die Welt, was auch immer sie fordere.
Wir landen am Ende wieder beim Gewissen – bei Salomons „hörendem Herz“, wie es Benedikt zitierte.
Das holistische Konzept der Natur
Der rechtphilosophische Diskurs mündet bei Benedikt dort, wo er mit Blick auf die Naturrechtstradition begann: in einem holistischen Konzept von Natur, dass über die biologische Bedingtheit, die Körperlichkeit, die Umwelt hinaus auf das Wesen des Menschen verweist.
Dieser Blick auf „Natur“ schaut zwar auch auf die Schöpfung, aber immer in der Perspektive auf die „Ökologie des Menschen“ (Benedikt), denn: „Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann“. Daraus folgt die moralische Notwendigkeit eines Lebensschutzes im umfänglichsten Sinne, wie ihn etwa der im Dezember 2018 verstorbene katholische Philosoph Robert Spaemann vertrat, indem er sich gleichermaßen gegen Abtreibung und Atomkraft wandte.
Die Rede Benedikts von der „Ökologie des Menschen“ und die Naturrechtsphilosophie Robert Spaemanns nahm Andrzej Kuciński jüngst auf, um ein wirklich beachtliches Werk vorzulegen: „Naturrecht in der Gegenwart. Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im Anschluss an Robert Spaemann“, 2017 erschienen bei Schöningh (Paderborn).
Rehabilitierung des Naturrechts
Kuciński holt das Naturrecht ab, wo es steht: in der Schmuddelecke des ethischen Diskurses. Er nimmt dabei die Einwände durchaus ernst, doch betont zugleich die Notwendigkeit einer Rehabilitation des Naturrecht.
Dafür stehen die Chancen gut: „Das Naturrecht rechtsphilosophisch bzw. moraltheologisch in Frage zu stellen, muss nicht notwendigerweise heißen, seine Idee gänzlich zu verwerfen“.
Hier holt sich der Verfasser sogleich Robert Spaemann zur Hilfe, der genau dafür steht: die Idee des Naturrechts neu zu begründen. Gleichwohl ist dieser Ansatz voraussetzungsreich: die Existenz Gottes wird ebenso angenommen wie die positive Rolle des Christentums als Beitrag „zur Rettung der Moderne“.
Das Naturrecht mag daher als Berufungsinstanz in der säkularen Ethik und einer daran orientierten Politik längst verschwunden sein, doch auf dem Spiel steht nach wie vor (und mehr denn je) was Kuciński die „Identität der Menschennatur“ nennt. Hier sieht er die Brücke zur Ethik Spaemanns, denn: „Kein anderer Philosoph hat den konstitutiven Zielbezug des Naturrechts auf die Person des Menschen als allem Denken vorausliegendes Sein so deutlich herausgearbeitet wie Robert Spaemann.“
Dabei sind zwei Dinge entscheidend:
1. die Definition der menschlichen Natur und damit die Bestimmung von Regeln für den geeigneten Umgang mit ihr, einschließlich von Grenzen für ihre Manipulation, und
2. die Begründung des naturrechtlich konstitutiven Verhältnisses von Faktizität (das Sein) und Normativität (das Sollen), das immer wieder umstritten ist (Stichwort: „naturalistischer Fehlschluss“) und sich andererseits auch sehr leicht missverstehen lässt – abhängig davon, was unter „Natur“ verstanden wird.
Beide Aufgaben löst Spaemann überzeugend. Insoweit kann er zurecht als Ausgangspunkt einer Erneuerung naturrechtlicher Ideen herangezogen werden.
Ebenso wie für eine überzeugende Begründung der Kategorie des „Zwecks“ in der Naturrechtsphilosophie – gegen den Begriff des „Zufalls“, der im Evolutionismus leitend ist.
Dass sich Kuciński (bzw. Spaemann, auf den Kuciński sich insoweit ganz eng bezieht) so intensiv mit der Frage der teleologischen Struktur des Naturgeschehens auseinandersetzt, hat einen Grund: Anders lässt sich der Mensch im Rahmen des Naturrechts nicht verstehen.
Die Teleologie ist die anthropologische Grundannahme des Naturrechts.
Nur, wenn der Mensch als zweckhaft und sinnvoll gedeutet wird, hat es Sinn, aus seiner Natur Rückschlüsse für Moral und Recht zu ziehen. Wäre sein Dasein zufällig, sprunghaft, launisch, sinnlos, so wäre es nicht möglich, daraus normative Maßgaben zu entwickeln.
Zweck und Sinn machen aus dem Menschen eine „Person“.
Der Person-Begriff Spaemanns ist der Schlüssel zum Verständnis seiner naturrechtlichen Ethik. Dazu gehört – wichtig für den Lebensschutz –, dass alle Menschen zugleich Personen sind, der Person-Begriff also keine Zusatzqualifikation beinhaltet (wie etwa bei Peter Singer).
Die Person steht bei Spaemann in enger Verbindung mit der entscheidenden Denkfigur einer vorrechtlichen Moralität, der Menschenwürde. Sie ist nicht von ungefähr Dreh- und Angelpunkt des naturrechtlichen Überhangs unseres Grundgesetzes, das in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert.
Aber auch ethische Konzepte wie „Wahrheit“, „Versprechen“, „Anerkennung“ fußen darauf, dass wir es mit Personen zu tun haben, die sich wahrhaftig, zuverlässig und gleichrangig begegnen.
Ausblick: Naturrecht heute
Dieses Menschenbild erfordert Grenzen.
Was soll mit Personen nicht geschehen?
In keinem Fall dürfen sie verzweckt werden, also gezwungen sein, ihren Selbstzweck aufzugeben, zugunsten eines „höheren“ Zwecks. Das begrenzt etwa die Verantwortung, die ein Mensch hat – auch das ist heute ein wichtiger Gedanke, wenn allzu oft davon die Rede ist, dem „Planeten Erde“ oder der „Menschheit“ insgesamt etwas zu schulden.
Hier ist Vorsicht geboten – nicht nur nach Kuciński und Spaemann, sondern bereits nach Kant. Es geht dem Naturrecht um die Bewahrung des Humanen – auch in der Methodik seiner Befolgung.