Suche nach Wahrheit – Philosophie: Ist die Wahrheit relativ?
Der Begriff „Wahrheit“ gehört zu den faszinierendsten und zugleich herausforderndsten Konzepten der Philosophie. Bei der Wahrheitssuche befinden wir uns im Grenzgebiet zwischen dem, was ist, und dem, was wir darüber erkennen und aussagen können.
Wahrheitssuche hat Tradition
Große Denkerinnen und Denker kreisen seit Jahrhunderten um diese Begriffe. Das gilt für die Vorsokratiker, die mittelalterliche Scholastik, die Erkenntnistheorien der Aufklärung bis zu modernen und postmodernen Ansätzen.
Während „Wirklichkeit“ oft das tatsächlich Existierende bezeichnen soll und damit eine ontologische Dimension aufweist, umfasst „Wahrheit“ die Richtigkeit oder Authentizität von Aussagen, Überzeugungen und Theorien und bezieht daher einen ethischen Bereich mit ein.
Was ist Wahrheit?
Wahrheit ist ein schillernder Begriff. Für Platon war Wahrheit mit der Idee des Guten verbunden und ein absoluter Wert, ebenso unveränderlich und erstrebenswert wie das Schöne.
In der Bestimmung und Erkenntnis von Wahrheit stecken allerdings vielfältige theoretische und praktische Probleme. In der klassischen Philosophie wird die Wahrheit etwa als eine Aussage konzipiert, die eine Entsprechung in der realen Welt findet (Korrespondenztheorie).
Eine Alternative dazu bietet die Kohärenztheorie: Wahrheit als Stimmigkeit innerhalb eines Systems von miteinander harmonierenden Überzeugungen.
Wahrheit wird dabei Allgemeingültigkeit zugeschrieben, im Gegensatz zur subjektiven Meinung, die immer individuell geprägt ist.
Doch die Wahrheit besitzt für uns nicht nur theoretische, sondern auch handfeste praktische Relevanz: Eine ehrliche Aussage steht meist in Kontrast zur Unwahrheit oder Lüge.
Um Gewissheit zu erlangen, braucht es deutliche Abgrenzungskriterien. Etwas als evident zu erkennen bedeutet, dass eine Wahrheit direkt und offensichtlich erscheint.
Jedoch ist die Wahrheit in vielen Fällen nicht unmittelbar zu erfassen.
Im naturwissenschaftlichen Kontext bezieht sich Wahrheit meist auf Aussagen, die empirisch verifiziert oder falsifiziert werden können und die auf objektiven Beobachtungen und logischen Schlussfolgerungen beruhen.
Wahrheit im Altgriechischen
Im Altgriechischen wurde das Wort „ἀλήθεια“ (ausgesprochen: alétheia) genutzt. Eine Mischung aus
"λήθη" (Léthe), = "Vergessen" oder „Verborgenheit“
und dem Alpha-Privativum „α-“ (a-), das eine Verneinung ausdrückt.
Daher kann ἀλήθεια als „das Unverborgene“, “Enthüllte”, „Offenbarung“ interpretiert werden. „ἀλήθεια“ hat also eine Bedeutung, die auf eine Entdeckung der Realität hindeutet.
Wahrheit im Deutschen
Etymologisch leitet sich das deutsche Wort vom Alt- und Mittelhochdeutschen ab. Es ist eine Kreuzung
aus dem Adjektiv "wâr“, = "wahr", „echt“ oder „treu“
und dem Suffix „-heit“ = Zustand oder eine Qualität.
Damit einher geht eine moralische Dimension im Sinne von Verlässlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Gewissheit, Ehrlichkeit.
Ich meine, hierdurch ergeben sich 2 unterschiedliche Konnotationen:
Während das Altgriechische fest mit der Vorstellung einer Entschleierung verbunden ist (= Erkenntnis),
weist das Deutsche auf eine zuverlässige Verbindlichkeit hin (= Rückhalt, Bindung).
Beides vermischt sich oft genug in den Diskursen über Wahrheit.
Mehr über Wahrheit in der Psychotherapie findest du bei Dr. Michael Mehrgardt hier auf dem Blog.
Suche nach Wahrheit:
Was suchen wir, wenn wir die Wahrheit suchen?
Bei der Jagd nach Wahrheit verfolgen wir das Ziel, Klarheit zu erlangen, um uns in unserem Dasein besser zurechtzufinden und frei agieren zu können, dabei die Risiken auf ein Minimum reduzierend.
Die Wahrheitssuche dient grundlegend dem Aufbau von Urvertrauen, das eine tiefe Kongruenz zwischen individuellem Sein und der Welt vermittelt.
Macht Wahrheit frei?
Das glauben zumindest viele, wenn sie auf Wahrheitssuche sind. In der Philosophie gibt es keine einheitliche Ansicht darüber, die Ansätze variieren stark nach philosophischer Tradition.
In der Antike war die Vorstellung von Freiheit durch Wahrheit jedenfalls verbunden.
So wurde Sokrates nicht müde, das Streben nach Wahrheit und Wissen für ein gutes Leben zu betonen.
Platons Höhlengleichnis symbolisiert ebenfalls die geistige Befreiung durch Erkenntnis der Wahrheit.
Und auch Aristoteles glaubte, rationale Erkenntnis sei der Schlüssel zu einem tugendhaften und damit glücklichen Leben.
Epikur sah das sicher ähnlich, wenn er das Streben nach Wissen als Mittel propagierte, um Unlust abzubauen und inneren Frieden zu erlangen.
Lange Zeit später in der Aufklärung wird Wahrheit als Voraussetzung für Reflexionsfähigkeit und Autonomie angesehen. Wahrheitssuche, Vernunft und kritisches Denken galten als Werkzeuge, um sich von Unwissenheit und Aberglauben zu befreien.
Dagegen betonte der Existentialismus, zum Beispiel bei Sartre, dass die Erkenntnis bestimmter Wahrheiten – speziell die der eigenen Freiheit und Verantwortlichkeit – nicht nur befreiend, sondern auch beängstigend und belastend sein kann. Vgl. auch Existenzphilosophie
Postmoderne Philosophen wiederum hinterfragen die Möglichkeit einer objektiven oder universellen Wahrheit und betonen die Rolle von Machtstrukturen und Diskursen im Konstruieren dessen, was als „Wahrheit“ gilt.
Realität und Wahrheit
Wir neigen dazu, die Wahrheiten, die wir ergründen möchten, als etwas bereits Existierendes zu betrachten – wie etwas, das nur darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Gerade den Wahrheiten, die in den empirischen Naturwissenschaften gesucht werden, werden messbare und beobachtbare Naturgesetze unterstellt.
Obgleich empirische Wissenschaftler sich eigtl. scheuen (müssten), explizit von „Wahrheit“ zu sprechen, gelten ihre “Erkenntnisse“ in der Gesellschaft als objektive Tatsachen. In jedem Fall profitieren die Naturwissenschaften vom gesellschaftlichen Ansehen, das wissenschaftlichen Erkenntnissen als vermeintlich absolute Wahrheiten entgegengebracht wird. (Und sogar einige Wissenschaftler scheinen so zu denken)
Das Streben der Naturwissenschaften ist es, ein Bild der Wirklichkeit zu konstruieren, das frei von subjektiver Färbung ist.
Die Wissenschaft stellt Fragen mit der Erwartung, dass die Natur eigenständig Antworten liefert.
Das Ziel ist es, Wahrheiten zu entdecken, statt zu erfinden.
Ähnliche Tendenzen finden sich in den heutigen Geistes- und Sozialwissenschaften: Sie sind auf der Suche nach Sinn und Bedeutung, als gäbe es diese unabhängig vom Suchenden in den Dingen selbst, als inhärente Eigenschaften.
Wahrheit als Glaubensfrage
Diese Annahme ist nicht allein auf wissenschaftliche Disziplinen beschränkt: Auch in unserer Gesellschaft, d. h. im Alltagsverständnis, herrscht die Vorstellung, dass Wahrheit eine fundamentale Charakteristik der Realität darstellt.
Allerdings gründet sich diese Beziehung zur Wahrheit mehr auf einem Vertrauensvorschuss in die Existenz von Wahrheit, eine Glaubensfrage sozusagen – insbesondere in die Fähigkeit von Fachleuten, die Wahrheit zu enthüllen.
Kritisch denkende Wissenschaftler haben eine abweichende Auffassung: Für sie ist Wahrheit nicht ein Merkmal der Realität an sich, sondern eine Charakteristik der Beziehung, die wir zur Realität entwickeln. Die Realität an sich ist neutral – nicht wahr, nicht falsch, sondern einfach gegeben.
Richtigkeit oder Falschheit können nur den Interpretationen zugesprochen werden, die wir von der Wirklichkeit bilden.
In der modernen Philosophie ist der Fallibilismus Goldstandard: Alles Wissen ist grundsätzlich revidierbar und selbst unsere besten wissenschaftlichen Theorien können fehlerbehaftet sein und sich in der Zukunft als falsch herausstellen.
Ist Wahrheit relativ?
Hat jeder seine eigene Wahrheit?
In einem subjektiven Kontext sprechen wir oft davon, dass jeder seine „eigene Wahrheit“ hat. Eigentlich meinen wir damit aber etwas anderes, nämlich dass Menschen unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Glaubenssysteme haben, die ihr Verständnis von Wahrheit beeinflussen.
Persönliche Werte, Überzeugungen und Emotionen sind natürlich grundlegend dafür, was jemand als „Wahrheit“ ansieht – zum Beispiel in moralischen oder ästhetischen Angelegenheiten.
Traditionell wird in der Philosophie zwischen Meinung (doxa) und absolutem Wissen (episteme) unterschieden. Dagegen betonte Kant, dass absolutes Wissen über die Realität selbst (das Ding an sich) nicht möglich ist.
Unsere Erkenntnisse sind geprägt von subjektiven Wahrnehmungen und mentalen Kategorien, die eine Filterblende zwischen Individuum und Realität bilden. Das bedeutet, dass wir nie die Welt allein in ihrer „reinen“ Form erkennen können – stets sind wir gefangen in der Struktur unserer eigenen Erfahrung.
Fazit: Was ist Wahrheit?
Der postmoderne Diskurs führte zur Erkenntnis, dass nicht nur unsere individuellen Wahrheiten variieren, sondern sogar die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Verständnis von Wahrheit beeinflussen.
Muss in einer Zeit der Informationsflut die Wahrheit neu verhandelt werden? Das ist eine echte Herausforderung. Und angesichts von Fake News und rassistischer Parolen dringender denn je.
Klar ist jedenfalls nur, dass jeder Mensch aufgrund seiner einzigartigen Lebensumstände, Erfahrungen und sozialen Kontexte ein eigenes Wahrnehmungsspektrum hat, das sich nicht einfach als wahr oder falsch abtun lässt.
Unser Wunsch, unsere Überzeugungen und Glaubenssätze als Wahrheit zu betrachten, ist menschlich und verständlich. Trotzdem sollten wir uns stets bewusst machen, dass jedes Wissen kontextabhängig und bedingt ist. Das Entscheidende ist Offenheit gegenüber anderen Meinungen, damit Meinungen nicht in Pseudowissen umschlagen.
Nur gemeinsam, nur im Dialog finden wir Wahrheit.
Quellen:
Metzler Lexikon der Philosophie, 2008