Wissenschaft als Weltanschauung – Oder: Warum die Wahrheit nicht im Labor zu finden ist
Vorab die gute Nachricht: Die meisten Wissenschaftler sind keine Szientisten und die meisten Szientisten keine Wissenschaftler. Die Anerkennung der Grenzen des eigenen Arbeitsbereichs ist seit jeher die Höflichkeit des Naturforschers.
Menschen suchen sichtbare Beweise
Nun aber wird immer öfter im zwar nicht wissenschaftlichen, doch sehr wohl vom Fortschritt der Wissenschaft inspirierten Diskurs über Religion und Glaube gefordert, Gott als Gegenstand eben jener Naturerforschung zu sehen.
Diese szientistische Perspektive, bei der Wissenschaft zur Weltanschauung wird, fordert einen Nachweis der Existenz Gottes so, wie sie einen Nachweis für die Behauptung erwartet, es gäbe ein Mittel, nach dessen Einnahme ein Durchschnittsmensch mittleren Alters die 100 Meter unter 7 Sekunden laufen kann. „Ja, dann zeig mir das mal!“
Das ist nur allzu verständlich.
Und auch gar nicht unserer modernen Wissenschaftskultur geschuldet, wie man vermuten könnte. Schon in der Antike fordern die Menschen andauernd Beweise (die Bibel spricht von „Zeichen“ – Dann zeig uns doch mal, dass Du der Sohn Gottes bist!). Selbst ein Apostel (nämlich Thomas) will den empirischen Nachweis: Sehen und Fühlen.
Der Auferstandene als Gegenstand der Naturwissenschaften.
Doch heute bekommt der Ruf nach Zeichen ein System:
Die Wissenschaft wird methodologisch entgrenzt, um ontologische Fragen zu beantworten. Sie soll das Ganze umfassen, auch, wenn ihre Fragen nicht weit genug ausgreifen. Hier ist Enttäuschung vorprogrammiert.
Das ist so, als verlangte ich von einer Person, mit der ich durch Buenos Aires gehe: „Zeige mir den Eiffelturm!“
– Da wird sie sagen: „Es gibt hier keinen Eiffelturm!“
– „Ach, so“, werde ich dann antworten, „und ich dachte immer, der Eiffelturm existiert!“
– „Ja, sicher. Aber nicht hier. In Paris.“
– „Paris? Das gilt nicht!“
Noch einmal einen Schritt zurück. Worum geht es eigentlich?
Szientisten akzeptieren (als wahr, wertvoll, sinnhaltig, bedeutungsreich) nur das, was mit naturwissenschaftlichen Methoden nachgewiesen ist, allenfalls soll hinzukommen, was sich so nachweisen lässt.
Sagen wir es mal so: Da, wo der Christ glaubt (im Sinne von „vertrauen auf Jemanden“, nämlich auf Jesus Christus), da glaubt der Szientist zu wissen (im Sinne von „vertrauen auf Etwas“, nämlich die universale Tauglichkeit der naturwissenschaftlichen Methode – auch zur Beantwortung der Gottesfrage).
Szientisten verbauen sich damit echten Erkenntniszuwachs. Sie errichten einen Filter, durch den nur das gelangt, was auf der anderen Seite des Filters erwartet werden kann.
Das Unerwartete, das Überraschende bleibt draußen.
Es hat etwas Selbstbezügliches, Reduktionistisches, etwas, das die Perspektive verengt. Nicht selten klingt es dann auch engstirnig. Jedenfalls bleibt es bei der Sicherheit der Selbstbestätigung.
Gleichwohl ist diese Sicherheit trügerisch, denn Aussagen der Art
„Sokrates war ein griechischer Philosoph, der im 5. Jahrhundert vor Christus lebte.“
oder „Es ist nicht gut, einen unschuldigen Menschen zu bestrafen.“
oder „A ist größer als B und B ist größer als C, also gilt: A ist größer als C.“
sind Aussagen, die wohl die meisten Menschen unterschrieben, ohne dass es für sie, die Aussagen, einen naturwissenschaftlichen Nachweis gäbe.
Ein solcher steht auch nicht zu erwarten.
Man muss hier schon andere Erkenntnisquellen zulassen (geisteswissenschaftliche Forschung, praktische Rationalität, moralische Intuition, Logik, auch Offenbarung, die sich historisch bewehrt hat), um ein stimmiges Weltbild zu retten.
Das tut man in der Regel auch.
Weil man sonst historische, normative und geistige Phänomene nicht beschreiben könnte, soweit man sie eben nicht beobachten kann. Warum aber sollte man das „plötzlich“ tun dürfen, wo man sich doch zuvor auf die naturwissenschaftliche Methodik (induktive Schlüsse aus Beobachtung) festgelegt hat?
Übrigens ist nicht ausgemacht, ob die erste Reaktion eines Szientisten auf den naturwissenschaftlichen Nachweis Gottes (Wie sähe der im übrigen aus? Pressekonferenz einer Forschergruppe, die behauptet, Gott gefunden zu haben?) nun ausgerechnet wäre: „Prima! Morgen früh trete ich in die Kirche ein!“, sondern wohl eher: „Das kann nicht stimmen!“
Menschen, die nicht nur nicht glauben, dass Gott existiert, sondern die zu wissen glauben, dass Gott nicht existiert, lassen sich auch von der Wissenschaft nicht überzeugen.
Und womit? Mit Recht! Schließlich hat die schon oft genug geirrt, ja, die Irrtumsanfälligkeit ist gerade ihr Fortschrittsprinzip. Sie befänden sich damit zudem in guter christlicher Gesellschaft (Augustinus, Bonhoeffer): Was man zeigen kann, kann alles mögliche sein, aber nicht Gott.
Logikfehler: Gott kann in der Natur nicht vorkommen
Noch einmal: Szientisten fordern (meist implizit): „Zeige mir Gott in der Natur!“ Die Kirche sagt (mehr oder minder explizit): „Die Natur zeigt Gott!“ Das ist ein Unterschied.
Gott kommt in der Natur nicht vor, ja, Er kann darin nicht vorkommen. Der Schöpfer ist ja nicht sein eigenes Geschaffenes. Sie geben Gott also von vorne herein keine Chance, sich ihnen zu zeigen, indem sie Ihn auf einen Bereich festlegen, in welchem Er qua Selbstbeschreibung als „das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offb 22, 13) gar nicht sein kann: irgendwo dazwischen – klar definiert, für uns erkennbar.
Mit Robert Spaemann gesagt:
Gott verhält sich zur Natur wie ein Projektor zum Film.
Wenn wir im Kino sitzen und einen Film schauen, dann sehen wir eine Filmhandlung, die unabhängig ist vom Projektor, ohne den wir den Film aber nicht sehen könnten.
Selbst, wenn es ein Film über die Herstellung und Verwendung von Filmprojektoren ist, kommt dieser Projektor, der diesen Film ausstrahlt, nicht in diesem Film vor, zumindest nicht im Moment der Ausstrahlung.
Daraus zu schließen, dass es keinen Projektor gibt, sondern nur den Film, wäre jedoch sehr voreilig.
Also, was bringt die wissenschaftstheoretisch gegründete Debatte über den Glauben?
Nichts, wenn man die Welt als naturwissenschaftlich vollständig erklärbar wähnt und insoweit glauben als (noch) nicht-wissen begreift. Man kann „Glauben“ tatsächlich negativ definieren, doch dabei übersieht man nicht nur die Bedeutung des religiösen Glaubens als Vertrauen, sondern auch, dass die Beziehung von „Glauben“ und „Wissen“ selbst erkenntnistheoretisch komplexer ist als die behauptete Dichotomie.
Weltdeutung besteht immer aus beidem, aus Glauben und Wissen.
Selbst ein religiöser Fundamentalist muss die Dogmen seines Glaubens kennen, muss darüber einen Wissensbestand angelegt haben. Selbst ein Szientist, der sich in allen Fragen auf die Naturwissenschaften stützen will, muss etwas glauben, nämlich, dass er damit in jedem Fall richtig liegt.
Zudem wäre mit der Bestimmung des Glaubens als „Nicht-Wissen“ das Wesen des religiösen Glaubens nicht getroffen, weil der religiöse Glaube im Vertrauen auf Gott positive Aussagen macht, die handlungsleitend und lebenswirksam sind bzw. sein sollen, also: im Vollsinne wahr.
Nach dem Evangelium zu leben (dies zu versuchen), weil man nicht genau weiß, ob es nicht vielleicht doch von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, handelt, das ist sicher weit schwerer zu motivieren und durchzuhalten als ein Leben nach dem Evangelium im Glauben daran (d.h. im Vertrauen darauf), dass in ihm Jesus Christus, der Sohn Gottes, zu uns spricht.
Vielleicht ist das am Ende die einzige Chance, etwas von Gott zu erfahren, wenn man nicht an Gott glaubt: Indem man aufhört, darüber zu streiten, ob Gott existiert, und indem man zugleich beginnt, danach zu schauen, ob es Menschen gibt, die so leben, als ob Gott existierte.
Das kann ein Hinweis sein: Handeln, das ohne den Gedanken einer letzten Geborgenheit in Gott kaum zu erklären ist, wie die Arbeit vieler Ordensleute aus dem reichen Norden in den Ländern des armen Südens.
Handeln, das gegen jede menschliche Vernunft möglich wird, wie die Mitwirkung an Projekten, in denen der Einzelne kaum Bedeutung hat (insoweit er sich hier keinen „Namen machen“ kann) und bei denen das Ergebnis folglich nicht auf den Einzelnen zurückfällt. Dieses Handeln ist ein Hinweis auf etwas, das den Menschen übersteigt, ein Hinweis auf Gott. Ein Hinweis, den man im Labor vergeblich sucht.
Wissenschaft als Religionsersatz
Wo Wissenschaft zur Weltanschauung wird, zum Szientismus, und damit als Religionsersatz dient, ist höchste Vorsicht geboten. Wir haben – zumal in Deutschland – schlimme Erfahrungen gemacht mit einer Wissenschaft, die sich von einer inhumanen Weltanschauung zu deren Rechtfertigung missbrauchen lässt. Wenn nun einige Wissenschaftler meinen, diesen Missbrauch gleich selbst durchführen zu sollen, wird die Sache nicht besser.
Die Selbsterlösungsrhetorik und die Tendenz zur Enttabuisierung anthropogener Schöpfungsvorstellungen sind gefährlich und gerade in den Biowissenschaften, d. h. dort, wo es um den Menschen geht, höchst virulent.
Davor zu warnen, ist keine fortschrittsfeindliche Panikmache, sondern ein Gebot der Demut gegenüber dem Leben.
Fazit: Szientismus
Der Anspruch auf Heil und Erlösung ist im Kontext der Wissenschaft ebenso verständlich wie fatal, auch wenn die betreffenden Wissenschaftler oft und gerne leugnen, diesen Anspruch zu haben.
Die säkularisierte Gesellschaft drängt sie nolens volens in die Rolle des szientistischen Hohepriesters.
Nicht alle Wissenschaftler lehnen diese Zuschreibung ab. Es drängt sich mal wieder der Verdacht auf, dass Gott von denen für tot erklärt wird, die ihn nur zu gerne beerbten.
Die Kirche spricht immer wieder deutlich aus, wie gefährlich eine Wissenschaft ist, die sich erdreistet, Gott zu spielen. In seiner Enzyklika Spe salvi (2007) hat Papst Benedikt XVI. hierzu eine passende Antwort gegeben. Sie entlarvt jene Hoffnung als trügerisch, die ausschließlich auf die Wissenschaft gerichtet ist.
Benedikt kommt zu dem Urteil: „Nicht die Wissenschaft erlöst den Menschen. Erlöst wird der Mensch durch die Liebe“.
Und die gibt es nicht aus dem Labor.