Studie: Psychotherapie kann Erinnerungen negativ beeinflussen
Gefühle sind keine statischen Gebilde. Erinnerungen auch nicht. Vielmehr verändern sich Erinnerungen je nach Gefühlszustand. Eine aktuelle Studie hat untersucht, wie sich unsere Erinnerungen an unsere Mütter verändern, wenn wir in der Psychotherapie über unsere Kindheit sprechen. Das Erstaunliche: Diese Veränderungen treten sogar dann auf, wenn die Fragen nicht manipulativ sind.
Verändert Reflexion unsere Erinnerungen?
In einer Psychotherapie werden Patienten oft über ihre Beziehungen zu Familienangehörigen oder Partnern befragt und aufgefordert, darüber kritisch nachzudenken. Ziel ist es, vergrabene Erinnerungen und versteckte Gefühle aufzudecken und zu bearbeiten.
Vgl. Vertrauen in der Psychotherapie – eine Frage der Haltung
Ein neues Experiment der Universität Portsmouth (2) untersuchte nun, ob diese Fragen die Gefühle und Erinnerungen bzgl. der Eltern verändern können (Neubewertung / Reappraisal). Der führende Autor Dr. Lawrence Patihis von der Fakultät für Psychologie, Sport und Gesundheitswissenschaften erklärt (1):
„Wir alle haben in frühen Jahren eine Kindheitsamnesie, weil wir ständig neue Neuronen produzieren. Das führt zu Komplikationen bei dem, woran wir uns zu erinnern glauben und was tatsächlich passiert ist“.
„Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass jemand in den ersten 11 Jahren seines Lebens positive Gefühle für seinen Vater empfindet, die sich aber im Alter von 16 Jahren ändern, als er sich von der Mutter scheiden lässt. Was sie nicht wissen, ist, dass diese negative Neubewertung ihres Vaters die Erinnerung an ihre Beziehung zu ihm – als sie jünger waren – auf subtile Weise verändern wird.“
„Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass Erinnerungen veränderbar sind, und wir wollten herausfinden, ob das auch für die Gefühle gilt, die wir in der Kindheit gegenüber einem Elternteil hatten.“
Dynamik zwischen Gefühl & Erinnerung
Wenn Klienten gebeten werden, über bestimmte Verhaltensweisen ihrer Eltern nachzudenken – zum Beispiel, wenn die Mutter unfreundlich oder wenig großzügig war – richtet sich ihr Fokus häufig auf diese negativen Aspekte.
„Therapeuten und Klienten sollten sich darüber im Klaren sein, dass Aufforderungen wie diese während einer Sitzung unbeabsichtigt zu einer Neubewertung der Eltern führen können, was sich wiederum auf die Emotionen und Erinnerungen auswirkt“, meint Dr. Patihis.
Diese Fokussierung kann dazu führen, dass Klienten nur noch die negativen Eigenschaften ihrer Eltern im Kopf haben. Infolgedessen schwindet das positive Bild, das sie von ihren Eltern hatten, und die Wahrnehmung wird verändert. Therapeuten müssen sich dieser Dynamik bewusst sein, da die Gespräche über negative Eigenschaften das Bild der Klienten von ihren Eltern erheblich verändern können.
„Einige Therapien, die sich auf die Kindheit fokussieren, neubewerten die Eltern negativ, weil man davon ausgeht, dass heutige Beziehungsprobleme das Ergebnis eines Traumas aus der Kindheit sind. Unsere Forschungen belegen jedoch, dass dieser Prozess manchmal die Wahrheit über die tatsächlichen Gefühle der Menschen in der Vergangenheit verfälschen kann. Die Sorge ist, dass dies dazu führen kann, dass sich eine Familie in der Gegenwart voneinander entfernt.“ (Dr. Lawrence Patihis)
Problembewusstsein bei Fachkräften schärfen
Wenn Klienten durch Gespräche über spezifische negative Beispiele ihre Sichtweise auf die Eltern ändern, geschieht das oft unbewusst. Das bedeutet, dass auch gut gemeinte therapeutische Ansätze schädlich sein können, wenn sie nicht gründlich reflektiert werden. Diese Probleme betreffen nicht nur Eltern-Kind-Beziehungen, sondern auch andere wichtige soziale Netzwerke, wie das Verhältnis zu Partnern, Angehörigen oder Freunden.
„Das soll nicht heißen, dass Menschen mit wirklich negativen Erfahrungen ihren Gefühlen nicht trauen sollten – nur sollten sich alle bewusster machen, dass ihre Gefühle und Erinnerungen veränderbar sind.“ – Dr. Lawrence Patihis.
Vielleicht auch interessant für dich:
Psychotherapie-Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie bei Depressionen?
Depression als Krankheitsbild – deskriptiv statt kausal
Seelische Krankheit – Seelisches Leiden in der Philosophie
Depression Angehörige – Das unsichtbare Leid der Familie
Leben mit Depressiven – Depression als Familienkrankheit
Depression beim Partner – extreme Folgen für die Beziehung
Langzeit-Folgen von Depressionen (Restsymptome, Residualsymptome)
Depressiver Partner zieht mich runter – Gründe & Tipps
Fazit: Psychotherapie & Erinnerungen
Erinnerungen sind keine statischen Aufzeichnungen von vergangenen Ereignissen; sie sind komplexe Konstrukte, die von unserer Wahrnehmung, unseren aktuellen Emotionen und besonders von sozialen Interaktionen beeinflusst werden.
Therapeutische Fachkräfte müssen darauf achten, dass Patienten eine Balance finden zwischen den Herausforderungen, die sie in ihren Beziehungen erleben, und den Erinnerungen an die positiven Aspekte ihrer Verhältnisse.
Das funktioniert zum Beispiel über gezielte Fragen, die sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen ansprechen.
„Wenn den Menschen vor Beginn einer Sitzung bewusst gemacht wird, dass Therapien Erinnerungen verändern können, kann dieses Wissen ihnen helfen, ihre Kindheitserinnerungen akkurat zu bewahren. Ich plädiere dafür, dass dies Teil der informierten Zustimmung sein sollte.“
Vgl. auch Grenzüberschreitungen in der Psychotheapie sowie Grenzverletzungen
Quellen:
1) Psylex: Reappraisal eines Elternteils kann mit nicht-suggestiven Fragen erfolgen: Veränderung von Emotionen und Erinnerungen an Emotionen (12.10.2024)
2) Patihis, L., & Herrera, M. E. (2024). Reappraising a Parent can Occur With Non-suggestive Questions: Changing Emotions and Memories of Emotion. Psychological Reports, 0(0). https://doi.org/10.1177/00332941241283413