Verhandeln statt diskutieren!

KONFLIKTLÖSUNG #4:
Türkischer Basar und größere Kuchen

 

Zur Erinnerung

In den vorangehenden Beiträgen habe ich die folgenden Thesen aufgestellt und begründet:

  • Der Ö-goismus: Der Ökologischer Egoismus besagt: Du kannst gar nicht anders, als egoistisch zu sein! Weil du ein egoistisches Interesse daran hast, dass dein Partner auch zufrieden und glücklich ist, bezieht ein gesunder Egoismus (= Ö-goismus) das Wohl des Partners mit ein!

  • Wut, Aggression, Gewalt: Diese Gefühle sind immer zugegen. Abschalten kann man sie nicht. Wenn du sie auszublenden versuchst, richten sich diese Gefühle gegen dich selbst! Also setze mit deinem Gegenüber Aggressions-Rituale ein – dann können diese Gefühle zu konstruktiven Energien werden!

  • Verstehens-Falle: Verstehen ist eine Illusion. Das Verstehens-Ideal fußt immer auf Normierungen über das, was richtig/ falsch, gesund/ krank usw ist! Deshalb gibt es immer einen Verlierer! Und gemäß Ö-goismus ist auch die Gewinnerin eine Verliererin! Insofern versuche gar nicht erst, dein Gegenüber zu verstehen! Stattdessen toleriere, was der Andere will und was sie nicht will. Folge also dem …

  • Toleranz-Modell: Statt zu bewerten, ob das, was dein Gegenüber sagt, denkt, fühlt, erinnert etc, dein Verständnis verdient, akzeptiere all das einfach als dessen innere Fakten! Du musst das ja nicht übernehmen, du musst es nicht einmal gut finden.
    Das Toleranz-Modell gilt übrigens auch dir selbst gegenüber!

Statt also zu argumentieren und vor allem den Anderen ständig widerlegen zu wollen (Ja, ABER …!), folgt in diesem Beitrag eine ganz besonders wichtige Strategie: das Verhandeln. Zu diesem Zweck begeben wir uns gemeinsam auf einen Türkischen Basar.

Das kann natürlich auch ein Deutscher oder Liechtensteiner Markt sein oder ein Kirmes, ein Jahrmarkt, ganz nach Belieben. Ich selbst habe türkische Basare als besonders lebendig erlebt.

Der Türkische Basar

So eine Unverschämtheit!

Vorab möchte ich eines klarstellen: Du und deine Partnerin, ihr müsst unverschämt sein! Ja, richtig gelesen: Seid un-verschämt, verhandelt scham-los, ohne (falsche) Scham.
Denn wenn ihr erst damit anfangt, zu denken: Na ja, ich fordere erstmal nur die Hälfte, von dem, was ich eigentlich will! und zu hoffen, dass die Andere dann auch brav und bescheiden ihre Wünsche formuliert, dann seid ihr mitten drin im Schlammassel, bevor ihr überhaupt angefangen habt.

Also fordere immer ALLES! Wenn du auf einem Basar ein tolles Shirt + ein tolles Kleid + ein echtes super Perlen-Collier findest, sag nicht: Ich biete dir 200 €uro. Nein! Du willst alles zusammen doch umsonst. Oder vielleicht für 10 €uro.

Na klar, du bist natürlich - das hast du ja gelernt - ö-goistisch. Und das heißt auch: Du kannst ja nicht wollen, dass deine Lieblingsbasarhändlerin Pleite geht oder in eine Depression verfällt, du willst ja auch weiterhin zu ihr kommen können. Und das ist der Grund, weshalb du sie nicht überfällst, ausraubst oder erpresst, sondern mit ihr verhandelst.

Un-verschämt sein …

… kann zB heißen, dass du zu deinem Partner sagst:

  • Ich wünsche mir, dass du meine ganze Wäsche machst. Inclusive Bügeln und Zusammenlegen!

  • Ich möchte, dass du meine Mutter vom Bahnhof abholst, damit ich mich entspannen kann!

  • Bevor ich mit dir Sex haben kann, musst du ein Gedicht von Heinz Erhard aufsagen. Das macht mich an!

  • Ich will das große Zimmer für mich allein haben!

  • Ich liebe unsere Kinder, aber wickeln musst du sie!

Jetzt warst du also unverschämt. Du weißt aber auch, dass im Leben nichts umsonst ist, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist, und wie sie alle lauten, diese Lebensweisheiten, die wir alle eingetrichtert bekommen haben. Musst du also jetzt in den sauren Apfel beißen und verhandeln?
Nein, musst du nicht! Du willst verhandeln! Weil dir ja an der Zufriedenheit deines Mitmenschen gelegen ist.

Verhandeln - die bessere Konfliktlösung

Jetzt seid ihr auf dem Türkischen Basar. Jetzt geht’s ums Verhandeln. Türkischer Basar ist eine bessere Strategie zur Konfliktlösung. Diese beruht auf den dargestellten Prinzipien des Ö-goismus, der Aggressions-Rituale und des Toleranz-Modells.

Wie gesagt, einerseits gilt es, un-verschämt zu sein, andererseits gilt ebenso, dass der Andere ja auch scham-los sein darf und soll. Und denkt daran: Seine Wünsche auszusprechen, bedeutet nicht, dass der Andere sie erfüllen muss.

Es gibt kein Anrecht auf Erfüllung.

Wie auf jedem Basar kann man Nein sagen oder sich mit einem Ich bin nicht interessiert! entfernen.

Manchmal kommen die Verhandlungen ins Stocken. Wenn es dir einfach nicht gelingen will, deinen Kerl dazu zu bringen, dir das schönere Zimmer zu überlassen, dann locke ihn doch mit einem leckeren Stück Kuchen, dem er nicht widerstehen kann:

Kuchenvergrößerung

Kuchenvergrößerung (oder einen weiteren Kuchen in die Auslage stellen) ist eine Strategie, bei der eure Phantasie und vielleicht auch ein bisschen Ver-rücktheit gefordert ist. Die Logik darf gerne ein wenig in den Hintergrund treten.

Wie heißt es so schön?

Die Phantasie ist größer als die Vernunft, denn die Vernunft ist begrenzt.

Hierbei geht es geradezu darum, einen zweiten Kuchen ins Angebot zu geben, der mit dem ersten (dem eigentlichen Verhandlungs-Gegenstand) überhaupt nichts zu tun hat. Hier könnt ihr also völlig frei sein und ver-rückte Ideen einbringen.

Besonders wenn es bei einer Verhandlungs-Sache nur ein Entweder-Oder gibt (zB Heilig Abend bei den Eltern verbringen oder nicht), kann diese Strategie hilfreich sein. Am besten ist, wenn ich euch diese Methode anhand eines Beispiels veranschauliche:

 

Beispiel

Ihr habt einen gemeinsamen freien Tag. Die Sonne scheint. Du willst gerne an die Nordsee, dein Kerl will in Hamburg ins Museum und dann shoppen. Beides geht nicht, entweder das eine oder das andere.
„Fair“ wäre, gar nichts zu machen oder sich in der Mitte zu treffen und nach Itzehoe zu fahren: Dann kriegt niemand, was er will, dann seid ihr beide frustriert.

Den Kuchen vergrößern heißt: Beide überlegen jetzt:
Was möchte ich zusätzlich haben, um mit einem guten Gefühl nachgeben zu können?
Oder:
Was könnte ich dem Anderen anbieten? Wie könnte ich ihm einen Verzicht schmackhaft machen?

Du sagst zB: Wenn wir an die Nordsee fahren, lade ich dich heute Abend zum Essen ein. Na?? (Damit legst du einen zweiten Kuchen in die Auslage.)

Dein Partner sagt: Hm, mal überlegen, nicht schlecht, aber das ist mir zu wenig: Wie wäre es, wenn du die ganze folgende Woche Essen machst? (Er ist jetzt un-verschämt, das darf er ja … Und damit beginnt ihr zu verhandeln.)

Vielleicht ist eine ganze Woche Essensdienst für dich zu viel. Du schlägst vor: Heute Einladung ins Restaurant, und ich putze zusätzlich einmal für dich das Bad.

Er sagt: Hm, ja, das ist ok.

Ihr seid beide 100%-ig zufrieden. Sollte das nicht der Fall sein, verhandelt ihr weiter. Dann könnte die andere Seite einen neuen Kuchen anbieten.

 

Verhandlungs-Regeln

Hier fasse ich die Beschreibung dieser Methode in Form von Spielregeln nochmals zusammen:

  • Jede Person darf wünschen, was sie will.

  • Jede Person darf ablehnen, wenn sie etwas nicht will.

  • Jede Person darf un-verschämt oder scham-los sein.

  • Über die Bedürfnisse, Wünsche, Vorlieben, Abneigungen etc wird nicht diskutiert. Sie werden als innere Fakten des Anderen akzeptiert.

  • Das heißt nicht, dass du sie gut finden musst.

Mit diesen Regeln geht ihr also in die Verhandlung. Sollte dabei Ärger oder Wut auftauchen, verlasst ihr einfach zwischendurch den Basar und führt ein Aggressions-Ritual durch! Schaut euch nochmals meinen Beitrag über Gewalt, Wut und Aggression an.

Anschließend kommt zurück auf den Basar und verhandelt wieder! Seid dabei kreativ und ver-rückt!

Eine gute Lösung habt ihr gefunden, wenn ihr beide zu 100% Ja zu ihr sagen können. Oder sogar zu 150%! Mindestens sollten es 75% sein, sonst sucht sich die Unzufriedenheit Ventile.

Wünsche mit Hintergrund

Gar nicht so selten stellen die Streithähne dabei fest, dass der eigene Wunsch bzw die eigene Abneigung einen „Hintergrund“ hatte: ZB hat die eine Person das Gefühl, dass wir eigentlich immer das machen, was sie will!
Oft merkt man es erst während oder am Ende der Verhandlung, dass etwas Anderes „dahinter“ stand, zB:
Mir ist es eigentlich gar nicht so wichtig, ob wir Shoppen oder an den Strand fahren - aber jetzt, mit unserer Lösung, fühle ich mich von ihr gesehen, und das ist mir viel wichtiger!

Im Folgenden begleiten wir zur Veranschaulichung ein Paar durch einen Streit hindurch, der immer wieder auftaucht und bisher nicht richtig gelöst werden konnte:

 

Hannes und Merle - ein Beispiel

Hannes und Merle haben einen Streit über Distanz und Nähe:

Hannes: Wenn du von der Arbeit kommst und auch nach dem Sex bist du so distanziert!

Merle: Ich kann es aber einfach nicht haben, wenn du dann so viel von mir willst. Nach der Arbeit brauche ich erstmal Zeit für mich. Und wenn wir Sex hatten, waren wir uns doch die ganze Zeit nahe, ich weiß gar nicht, was du noch mehr willst!

Hannes: Das verstehe ich einfach nicht: Wenn ich von der Arbeit komme, habe ich das Bedürfnis, dir davon zu erzählen.

Merle: Ich mag aber gar nicht über meine Arbeit reden!

Hannes: Du begrüßt mich ja nicht mal richtig, wenn du nach Hause kommst! Und nach’m Sex, da hab ich das Gefühl: Du hattest, was du wolltest, und jetzt bin ich dir gar nicht mehr wichtig!

Einschub:

Spätestens hier würde es in den üblichen Konflikten eskalieren: Zum Beispiel so:

Merle: Ich verstehe dich nicht, was ist los mit dir? Das ist doch nicht normal!

Hannes: Natürlich ist das normal! Normale Paare liegen danach noch eng beieinander! Aber das kriegst du ja nicht hin!

Merle: Warum kannst du nicht mal loslassen? Das hat bestimmt mit deiner Mutter zu tun, die hat auch immer so geklammert – du hast doch selbst erzählt, wie zuwider dir das immer war!

Hannes: Du hast bloß Angst vor Nähe, du solltest vielleicht mal ‘ne Therapie machen! Oder liebst du mich in Wirklichkeit gar nicht richtig?

Merle: Jetzt fängt diese alte Leier wieder an! Ich ertrag‘ es einfach nicht mehr!!

Hannes: Typisch! Sobald es um Emotionen geht, machst du dicht!

Merle: Nee, aber ich bin nicht deine Mutter, die den kleinen Hannes allein gelassen hat! Mensch, werd‘ mal erwachsen!

Hannes: Du bist total gefühlskalt!

Erläuterung:

Man wirft sich gegenseitig unverständliches (!) Handeln vor, stellt Gefühle, Handeln und Eigenschaften des Anderen als unnormal infrage, fordert Erklärungen, macht Vorwürfe, pathologisiert, weist auf vermeintliche Neurosen hin, unterstellt mangelnde Liebe oder Gefühlskälte …

Mit Türkischem Basar und Kuchenvergrößerungen kann es jetzt hingegen konstruktiv weitergehen:

Merle: Es ist ja in Ordnung, dass du andere Bedürfnisse hast als ich.

Hannes: Aber das macht es auch ganz schön schwierig zwischen uns.

Merle: Stimmt: Du scheinst viel Nähe zu brauchen, und vlt auch ganz viel Sicherheit, oder?

Hannes: Ja, das ist so. Und du brauchst viel Zeit für dich. Weil du dich auf der Arbeit immer so viel um Andere kümmern musst?

Merle: Genau. Da kommen mir einfach immer alle zu nah!

Hannes: Trotzdem brauche ich mehr Nähe von dir.

Merle: Und ich brauche genug Abstand.

Erläuterung:

Hier gibt’s nur ein Entweder-Oder: entweder Nähe oder Distanz. Beides gleichzeitig geht nicht, zumindest nicht in den fraglichen Situationen. Hier besteht also ein Bedürfnis-Konflikt. Deshalb beginnt Merle jetzt mit der Verhandlung, indem sie anbietet, Hannes etwas anderes zu geben: etwas, was sie ihm zu geben bereit ist:

Konfliktlösung

Merle: Kann ich dir denn auf andere Weise etwas geben, was dir hilft?

Hannes: Es ist ja gar nicht so, dass ich ganz viel Zeit mit dir brauche. Nur irgendwie … die Gewissheit, dass es nichts zu bedeuten hat, wenn du weggehst von mir … Mir würde es vielleicht schon reichen, wenn du mir ein Signal geben könntest, dass alles ok ist zwischen uns.

Merle: Einen Kuss? Eine Umarmung?

Erläuterung: Merle macht hier ein Angebot)

Hannes: Ja, und dann noch einen Satz, dass du mit mir verbunden bleibst.

Erläuterung: Hannes ist noch nicht zufrieden – er ist jetzt un-verschämt.

Merle: Etwa so: Bis gleich? Oder: Nachher koche ich was Schönes für uns?

Erläuterung: ein weiteres Angebot von Merle

Hannes: Ich glaube, dann würde ich mich besser fühlen.

Erläuterung: Hannes fällt es mit Merles Angebot leichter, auf seine ursprüngliche Forderung zu verzichten.

Merle: Das kann ich tun. - Weißt du, ich hab‘ dir sonst lieber keinen Kuss gegeben, weil ich dachte, dass du mich dann festhältst!

Hannes: Ich probiere, es nicht zu tun. Ok? – Und wenn ich das dann doch mache …??! Dich festhalten, meine ich?

Erläuterung: Hannes ist erneut un-verschämt.

Merle: Dann fordere ich dich zum Ritual Schlagende Verbindung auf!

Erläuterung: Merle fände es jetzt gar nicht mehr so erdrückend, wenn er sie festhielte. Sie bleibt aber bei ihrem Bedürfnis, sich von ihm zu lösen, indem sie ihm ein Aggressions-Ritual „androht“.

Beide: umarmen sich und lachen.

Das alte Muster ist hartnäckig.

Ihr findet dieses Beispiel übertrieben? Glaubt mir, es funktioniert! Ihr müsst es allerdings wollen und miteinander üben.

Voraussetzung ist natürlich, dass beiden Seiten an der Beziehung gelegen ist. Wenn einer von beiden innerlich schon abgewandert ist, vielleicht sogar schon „was laufen hat“, wird’s nicht funktionieren.

Sicherlich werdet ihr immer wieder ins alte Muster abrutschen. Dann ist es wichtig, dass ihr lernt, euch gegenseitig darauf hinzuweisen und hinweisen zu lassen.

Ich habe in meiner aktiven Zeit immer wieder Paare gehabt, die seit Jahren nicht miteinander geredet haben oder einen richtig bösartigen Rosenkrieg gegeneinander geführt haben. Mittels dieser Strategie und besonders auch mit den Aggressions-Ritualen habe ich immer wieder erlebt, wie die Partner sich plötzlich lachend oder herumalbernd in den Armen lagen – immerhin ein guter Anfang!

Ihr kriegt das hin!

Das kriegt ihr auch hin! Das schafft ihr miteinander!

Wichtig ist das gemeinsame Üben. Die Verstehens-Methode ist vermutlich tief in euch - wie in uns alle - eingraviert und wird euch immer wieder im Griff haben.

Was dagegen hilft? Bald werdet ihr Erfolge mit dieser neuen Methode feststellen; denn sie macht das Paar-Leben nicht nur einfacher, sondern sie macht auch richtig Spaß. Versucht es also weiterhin mit dem Motto:

Freut euch auf den nächsten Streit!

Ich wünsche dir und euch viel Erfolg mit diesen Strategien. Also: Üben, miteinander ver-rückt sein und Spaß haben!

Schaut euch auch das folgende Video Nachschlag: der Streichholz-Trick an! Es könnte euch ein kleines bisschen verrückt vorkommen …

Dr. phil. Michael Mehrgardt

Hallo, meine Name ist Dr. phil. Michael Mehrgardt und ich war fast 40 Jahre lang als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Dabei musste ich viele Missstände kennenlernen, die ich auf diesem Psychotherapie-Blog offen anspreche, das Thema: Grenzverletzung in der Psychotherapie. Auf meinem YouTube-Vlog  findest du Selbsthilfe-Tipps bei Depressionen, Ängsten, Paarkonflikten & Co.

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Theodizee-Frage: Vom Warum zum Wozu – Ein Antwort-Versuch

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Randseiter (marginal man) – Ambivalenz des Bildungsaufstiegs