Anja - Verletzungen in der Psychotherapie
Anja S, die hoffnungsvolle Doktorandin
Anja S kriegt eine Doktorandinnen-Stelle. Und einen Professor dazu.
Nach Abschluss ihres Chemiestudiums erhält die 26-jährige Anja S. eine Doktoranden-Stelle an der Uni Köln (Alle Personen- und Ortsnamen wurden verändert).
Sie ist glücklich, weil sie nun nicht nur promovieren kann, sondern auch noch Geld verdient, mit dem sie sich und ihre dreijährige Tochter einigermaßen über die Runden bringt. Sie ist alleinerziehend, weil der Vater ihres Kindes sie mitten in der Schwangerschaft verlassen hat.
Ihr Doktorvater, ein Professor in den Vierzigern, unterstützt sie nach Kräften.
Ein Traum wird wahr … und der Ärger beginnt.
Er ist humorvoll, sieht gut aus, ist ledig, und so dauert es nicht lange, bis Anja sich in ihn verliebt. Auch der Professor – er heißt übrigens Benjamin – ist nicht abgeneigt. Sie beginnen eine Liebesbeziehung.
Anjas Traum vom großen Glück und einem gemeinsamen Leben währt genau so lange, bis Benni ihr eröffnet, dass er eine Professur in Barcelona angeboten bekommen hat. Ob sie nicht mitkommen wolle, bietet er ihr an. Ihre Doktorandenstelle könne allerdings weder in Köln noch in Barcelona aufrecht erhalten werden.
Anja macht ihm eine Szene, schreit ihn an, wie er denn so etwas Wichtiges einfach so, ohne mit ihr zu reden, entscheiden könne. Er entgegnet ihr,
es sei doch von vornherein nur darum gegangen, etwas Spaß miteinander zu haben, die Beziehung sei doch von ihr hoffentlich nicht als etwas Festes gesehen worden. Sie solle doch bitteschön! nicht so hysterisch werden!
Der Retter
Als der Professor zwei Wochen später aus ihrem Leben verschwindet, bricht Anja S. zusammen. Sie weint viel, schafft es nur mit Mühe, ihre kleine Bente zu versorgen. Wenn ihre Tochter im Kindergarten ist, legt Anja sich ins Bett. Manchmal wünscht sie, dass es Bente gar nicht geben sollte, dann könnte sie für immer liegen bleiben …
Dreieinhalb Monate danach beginnt sie eine Psychotherapie, und zwar bei einem Professor W. derselben Uni, der sich als Psychotherapeut einen Namen gemacht hat. Ihre beste Freundin hat den Termin arrangiert.
Zuerst weigert sich Anja, dann schöpft sie Hoffnung, als sie erfährt, dass der Behandler ihren Benni kennt. Vielleicht kann er ihn ja umstimmen …
Anfangs fühlt Anja sich von W. angenommen und verstanden. Er stellt ihr viele Fragen, lässt sie Fragebögen ausfüllen, scheint sich um sie zu sorgen, ist einfühlsam.
Die Diagnose
Nach einigen Stunden eröffnet er ihr, dass nunmehr die Diagnostik abgeschlossen sei und die Behandlungsplanung anstehe. Sie leide an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, welche eine schwere Depression ausgelöst habe.
Auf ihre erschrockene Frage, wieso er sie denn für narzisstisch halte, erklärt er:
Sie verführen einen sozial weit über Ihnen stehenden Professor.
Auf Anjas Einwand, sie habe ihn bestimmt nicht „verführt“, erwidert er:
Doch, das haben Sie! Sie sind sich anscheinend überhaupt nicht bewusst, wie aufreizend Sie sich verhalten, auch hier!
Anja ist sprachlos. Er redet weiter:
Sie geben sich der Illusion hin, eine feste Beziehung zu einem Professor haben zu können. So sehr mit sich selbst beschäftigt, erkennen Sie nicht, wie Sie ihn vereinnahmen. Als er sich schließlich von Ihnen trennt – möglicherweise hat er in seiner Verzweiflung sogar den Ruf nach Barcelona erfunden! – produzieren Sie einen hysterischen Anfall und erpressen ihn mit der Androhung Ihres Suizides.
Anja weiß nun gar nicht mehr, wovon der Therapeut spricht, während er weiterdoziert:
Gleich einem Kinde, welches die ersehnte Puppe nicht geschenkt bekommt. Vermutlich hat sich auch der Vater ihrer Tochter aus demselben Grunde vor Ihnen in Sicherheit gebracht. Nein, die Sache ist völlig klar: Hier liegt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vor. Sie ist schwer behandelbar. Ich werde mit Ihnen arbeiten; aber stellen Sie sich auf eine langwierige und intensive Therapie ein.
Die Behandlung
Anja bleibt tatsächlich ein ganzes Jahr in seiner Behandlung. Es geht ihr immer schlechter. Sie lässt Bente tageweise bei ihrer Freundin, sie kann kaum noch das Bett verlassen. W. interpretiert dies dahingehend, dass sich die Persönlichkeitsstörung jetzt deutlich manifestiert hat. Nur noch zu den Sitzungen rafft sie sich auf. Damit er nicht böse auf sie ist.
Eines Tages hat sie wieder einen Termin. Aber diesmal bleibt sie einfach liegen. Sie stellt sich vor, wie W. auf sie wartet. Wie missbilligend er guckt. Sie merkt, dass ein kleines schüchternes Lächeln über ihr Gesicht huscht.
Die Klärung der Schuldfrage
Über viele Monate wurschtelt sie sich durchs Leben. Irgendwie. Dann sitzt sie irgendwann vor mir in meiner Praxis, ihre Freundin hat sie hergebracht, hat ihr abgerungen, noch einen letzten Versuch zu machen.
Anja S. blüht förmlich auf, als ich ihr eine neue Perspektive anbiete. Für mich stellt sich ihre Geschichte nämlich auf gänzlich andere Weise dar:
Ein Vorgesetzter geht eine sexuelle Beziehung mit einer abhängigen Person ein. Anja S. ist sogar in zweifacher Weise von ihm abhängig, nämlich sowohl bezüglich ihrer Dissertation als auch hinsichtlich ihres Lebensunterhaltes. Er macht ihr nicht deutlich, dass die Beziehung für ihn „nur Spaß“ ist. Er verschweigt ihr, dass er sicherlich schon seit Monaten mit der Uni in Barcelona verhandelt. Vielleicht will er seinen „Spaß“ nicht vorzeitig beenden müssen und lässt sie deshalb im Unklaren.
Ich sage deshalb zu Frau S:
Für mich erfüllt das Verhalten Ihres sogenannten Freundes den Tatbestand der Ausbeutung Abhängiger.
Eine neue Sicht
Natürlich kann ich es auch nicht wirklich beurteilen, schließlich war ich weder dabei noch habe ich seine Version gehört. Darum geht es aber auch gar nicht. Zumindest ist meine Bewertung seines Verhaltens eine mögliche (und mE auch passendere!) Sichtweise.
Anja S. fühlt sich durch meine Interpretation erleichtert. In der Folge arbeiten wir daran, dass sie ihre Wut über die ungeheure Verletzung herauslassen kann. Wie wir das gemacht haben, will ich jetzt nicht im Einzelnen erläutern; darüber erfährst du nach und nach noch sehr viel mehr.
Hier sei nur gesagt, dass sie sich rasch besser fühlte. Dabei tauchten eine ganze Reihe von Personen auf, mit denen sie „noch ein Hühnchen zu rupfen“ hatte, Menschen, von denen sie verlassen worden war: ihr großer Bruder, ihre Grundschullehrerin, der Vater ihres Kindes. Oftmals beschlich sie angesichts ihrer heftigen Wutäußerungen ein schlechtes Gewissen. Sie lernte, dieses zu bearbeiten und abzubauen – auch darüber wirst du hier noch Vieles erfahren.
Ich habe Anja S. eineinhalb Jahre später wiedergetroffen. Sie hat einen liebe- und verantwortungsvollen Mann kennen gelernt, ihre Tochter ist gerade aufs Gymnasium gekommen, ihre beste Freundin ist eine noch bessere Freundin geworden.
PS: Ich bin in dieser Geschichte beileibe nicht der geniale Therapeut mit magischen Methoden, wie es den Anschein haben könnte. Nein, die Wahrheit ist viel einfacher: Anja S war eine offene, mutige und experimentierfreudige Patientin. Sie konnte sich in dem Moment aus ihrer Erstarrung lösen, als sie dem toxischen Einfluss ihres Behandlers entkommen war. Der Geschichte, die sie zu erzählen hatte, hätte er einfach nur zuhören müssen …