Vom Symptom zur Diagnose – Checkliste Depression
Die Diagnose “Depression” ist keine Ausnahme mehr, heute hat sie den Status einer Volkskrankheit erreicht. Doch was sich hinter der psychiatrischen Klassifikation verbirgt, ist niemandem so richtig klar. Umso erstaunlicher, dass sich die heutige Diagnostik auf ein paar Symptome fokussiert, denn das Wichtigste bleibt dabei außen vor: das subjektive Empfinden des Menschen sowie die individuelle Lebensqualität.
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Psychologie und Psychiatrie sollten weit mehr sein als das Abarbeiten von Checklisten – um betroffene Menschen auf ihrem Weg zur Gesundheit aktiv und respektvoll zu unterstützen.
Was sind Depressionen?
Ob depressive Verstimmung (Schwermut, Niedergeschlagenheit), Verlust von Interesse/Freude (Anhedonie) oder Antriebslosigkeit – fallen 2 dieser Hauptsymptome mit einem von 5 Neben-Symptomen zusammen, dann ist es eine Depression (Hoffnungslosigkeit, Konzentrationsprobleme, Schuldgefühle oder vermindertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Selbstmordgedanken, Appetitstörungen, Antriebshemmung).
Das lässt eine Menge Spielraum - schon allein weil die Begrifflichkeiten nicht selbsterklärend sind. Vgl. auch: Philosophie der Psychiatrie
Die Ursache spielt keine Rolle für die Diagnose
Es ist also egal, ob die Beschwerden während einer schweren Lebenskrise oder ohne erkennbaren Grund auftreten. In beiden Fällen wird die Person als depressiv erkrankt eingestuft und mit einer psychischen Störung etikettiert.
Gleichzeitig müssen die Symptome nicht unbedingt mit der tatsächlichen Erfahrung einer Depression übereinstimmen.
Es handelt sich um das Fachverständnis von Experten. Ob dieses Verständnis dem Selbsterleben der Patienten entspricht, steht auf einem anderen Blatt.
Vgl. auch Auswege bei Depressionen
Vgl auch die häufige Suche nach: Vorgetäuschte Depression erkennen
Depression ist keine biologische Krankheit
Körperliche Indizien finden sich jedenfalls nicht, um einer Depression auf die Spur zu kommen. Zwar berichten Medien immer wieder über Anomalien im Gehirn oder genetische Komponenten, doch hat die Biomedizin bislang nichts entdeckt, um psychische Krankheiten klar identifizieren zu können.
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Die Subjektivität in der Diagnostik
Medikamente oder Checklisten lassen es so wirken, als ließen sich Depressionen objektiv erkennen. Damit müssten sie auch eindeutig zu definieren sein. Tatsächlich ist das aber bei psychischen Krankheiten nicht der Fall.
Bei einem Knochenbruch ist schnell ersichtlich, was vorliegt: der Knochen ist gebrochen. Aber bei Depressionen ist die Diagnose ausschließlich von der Interpretation desjenigen abhängig, der sie durchführt.
Egal wie viele Kriterien oder Symptom-Listen noch erstellt werden - sie werden immer von Menschen gemacht oder von Maschinen kreiert, deren Algorithmen von Menschen programmiert wurden und deren Daten wiederum von Menschen interpretiert werden müssen. Eine vollständige Objektivität ist daher schon per se unmöglich.
Nehmen wir die offiziellen Diagnose-Handbücher, ICD und DSM: ein Gremium an Experten erstellt diese Leitlinien unter Berücksichtigung quantitativer Daten und Berichte. Wer in dieses Gremium gewählt wird, hängt wiederum von Interessengruppen und Einflüssen einzelner Akteure ab.
Probleme und Fragen der Standard-Diagnostik
Die Frage nach der wahren Natur der Depression beschäftigt Wissenschaftler schon seit langem. Trotz zahlreicher Forschungsanstrengungen ist es bis heute nicht gelungen, die Ursachen dieser Erkrankungen zu klären.
Die derzeitige Symptomauflistung der Depression ist keineswegs eine absolute Wahrheit im objektiven Sinn. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine aktuelle Interpretation, die stetig weiterentwickelt wird.
Das ist auch nicht neu, schließlich hat sich die Wissenschaft im Laufe der Zeit immer wieder geändert und so Fortschritte ermöglicht. Zudem bringt eine standardisierte Diagnostik Probleme mit sich…
Symptome nicht aussagekräftig
Die Diagnose allein aufgrund von Symptomen ist nicht exakt genug. Es gibt viele Umstände, die zu ähnlichen Symptomen führen können, aber unterschiedliche Ursachen haben. Ein Mensch mit Schlafstörungen kann beispielsweise aufgrund von Stress, Depressionen oder Schlaf-Apnoe unter Schlaflosigkeit leiden.
Reduktion von Komplexität
Nicht selten werden wichtige Zusammenhänge übersehen. Die Erkrankung wird nicht als Teil eines komplexen Systems von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren verstanden. Dies kann dazu führen, dass wichtige Aspekte der Behandlung vernachlässigt werden, wie z.B. die Identifizierung und Bewältigung von Stressfaktoren oder die Stärkung sozialer Unterstützungssysteme.
Verschlimmerung des Leidens
Tatsächlich ist auch die Sorge berechtigt, dass sich dass psychische Leiden in Folge der Diagnose noch verschlimmert.
“Je länger ein Mensch dem psychiatrisch-diagnostischen Blick ausgesetzt ist, um so mehr verliert er seine eigene Geschichte, seine eigene Identität und. übernimmt die vermeintliche Wahrheit des ihn beurteilenden und klassifizierenden Blicks. Diese »Wahrheit« besagt, daß der Beobachtete nur bloßer »Träger« einer »psychischen Erkrankung«sei, die ihm als Fremdes gegenüberstehe und auf die er keinen direkten Einfluß mehr habe (Entkontextualisierung). ” (4), schrieb der Psychiater Klaus Mück eindrücklich bereits in den 1990er Jahren.
Soziale Amnesie in der Psychotherapie
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Tendenz, die Depression ausschließlich im Individuum zu verankern. Die Diagnose löst nicht jedes Mal Erleichterung aus.
Im Gegenteil: die Verantwortung für Entstehung und Verlauf der Krankheit wird stattdessen auf den Einzelnen übertragen. Betroffene fühlen sich schuldig, verloren und zutiefst wertlos.
Seltsam, schließlich ist es nur logisch, dass Symptome nicht aus der Luft heraus entstehen, häufig gibt es identifizierbare Auslöser. Anstatt eine aberwitzige Menge von Forschungsgeldern in Studien zu stecken, um biologische Hypothesen zu stützen, die seit Jahrzehnten ungewisse Ergebnisse liefern und unbewiesen bleiben, wäre es deutlich klüger, an den Offensichtlichkeiten anzusetzen.
Der erste Schritt dazu: im Vorfeld einer Diagnose die sozialen und direkten Lebensumstände klären.
Ich zitiere den Psychologen Stephan Schleim (1): “Aus jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung wissen wir, welche Faktoren das psychische Wohlbefinden beeinflussen: unter anderem schlimme Lebensereignisse wie Traumata oder Verluste, Teilhabe am Wohlstand, Zugang zu Gesundheitsversorgung, der Partnerschaftsstatus, das Geschlecht und Alter. Diese robusten Ergebnisse wurden vom biomedizinischen Ansatz nicht widerlegt, sondern nur verdrängt.”
Dekontextualisierung der Depression
Die Dekontextualisierung ist heute gang und gäbe, wenn Depressionen als rein individuelle Probleme dargestellt und behandelt werden, ohne die zugrunde liegenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und psycho-sozialen Faktoren zu berücksichtigen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Erkrankung beitragen.
Statistiken zeigen, dass Faktoren wie Arbeitsbedingungen, soziale Isolation und wirtschaftliche Unsicherheit eine signifikante Rolle spielen. Wenn wir Depressionen dekontextualisieren, ignorieren wir diese komplexen Zusammenhänge und reduzieren sie auf eine individuelle Schwäche oder ein persönliches Versagen.
Diese Sichtweise hat tiefgreifende Auswirkungen. Sie führt oft zu Stigmatisierung und Missverständnissen, weil sie die ernsthaften Herausforderungen, mit denen Betroffene täglich konfrontiert sind, trivialisiert.
Die Herausforderung besteht darin, nicht nur die Symptomatik der Depression zu behandeln, sondern auch die Bedingungen zu verstehen und zu verbessern, unter denen Menschen leben.
Zusammenfassung: Kritikpunkte am ICD & DSM
Die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit ist nicht klar. Gesunde Reaktionen werden teilweise als krankhaft erklärt.
Die “Symptome” überschneiden sich dabei häufig, eine Unterscheidung von verschiedenen Zuständen ist logisch unzuverlässig. So kommen angebliche Komorbiditäten zusammen, die Angst und Sorgen auslösen.
Die medizinischen Berufe und die medizinische Behandlung genießen Autorität, obwohl in den letzten Jahren keine wesentliche Verbesserungen durch biologische Konzepte in der Psychiatrie erreicht wurden.
Die Fixierung auf Krankheit als individuelles Defizit lenkt von anderen wichtigen Ursachen ab. z.B. von sozialen oder strukturellen Problemen.
Besonnene Diagnostik statt Diagnose-Wahn
Persönliche und gesellschaftliche Aspekte müssen in die Psychotherapie einbezogen werden, um eine ganzheitliche Genesung zu erreichen. Denn was ist, wenn Antriebslosigkeit und Interesselosigkeit aus Armut, Krankheit oder anderen existenziellen Problematiken entstehen?
Dann würden Depressionen diagnostiziert, aber sie hätten eine konkrete Ursache. Effektiver wäre es, diese Ursache gezielt zu behandeln, statt Menschen jahrelang Medikamente mit unerwünschten Nebenwirkungen zu verschreiben.
Fazit: Symptom & Diagnose
Dabei ist es wichtig, dass Ärzte die Fähigkeit besitzen, nicht nur Krankheiten zu erkennen und geeignete Therapien einzuleiten, sondern auch zu verstehen, wenn keine Krankheit vorliegt. Das erfordert fachliche Kompetenz – und ist von größter Bedeutung für das Leben von Betroffenen.
Therapeuten brauchen etwas mehr als Empathie. Sie müssen auch ein tiefes Verständnis für die Spannweite an normalen menschlichen Verhaltensweisen mitbringen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die Diagnose berechtigt ist. Und nur so kann vermieden werden, dass Belastungen des Lebens zu krankhaften Reaktionen erklärt werden.
Umso wichtiger, dass Psychologen und Therapeuten ihre eigene Voreingenommenheit reflektieren und den diagnostischen Blick ablegen können.
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"Die tagtägliche Leistung klinischer Psychologen oder Psychiater soll hier kein Bisschen geschmälert werden: Deren Arbeitsbereich ist gerade so herausfordernd, weil es eben nicht nur um Biologie geht. Bei sehr schweren Symptomen können Medikamente zudem Leiden lindern und ein selbstständiges Leben ermöglichen. Insgesamt täte die Gesellschaft aber gut daran, ihren Umgang mit psychischem Leiden einmal grundsätzlich zu überdenken.
Das Subjektive wurde systematisch aus Wissenschaft und Medizin verdrängt. Es ist an der Zeit, diese wichtigen Gebiete für die Subjekte zurückzuerobern." (Schleim, 1)
Quellen:
1) Stephan Schleim: Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!
2) Nina Frohn: 5 aus 9. Wenn die Diagnose krank macht
3) Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch. Depression. Eine sozialwissenschaftliche Studie zu Geschichte und gesellschaftlicher Bedeutung einer Diagnose. (Diss. 2005)
4) Klaus Mücke: Kritik der psychiatrischen Diagnostik. Implikationen und Konsequenzen des »diagnostischen Blicks« in der Psychiatrie. In: in Forum Kritische Psychologie 29 (1992)