Digitale Medien & Gehirn – Was macht das Internet mit uns?
Digitale Medien und ihre Folgen auf Gehirn & Psyche werden vor allem bei Kindern und Jugendlichen thematisiert. Doch auch auf Erwachsene hat die Nutzung digitaler Medien starken Einfluss bzgl. Denken & Handeln.
Social Media & die Psyche
Macht das Internet doof? In der Forschung scheiden sich die Geister. Fest steht: die digitalen Medien haben Einfluss auf unsere Art zu denken.
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Internet, Gehirn & Psyche
Dümmer als ein Goldfisch?
9 Sekunden Aufmerksamkeits-Spanne – das ist die ungefähre Zeit, die ein Goldfisch zur Konzentration aufbringen kann. Die Aufmerksamkeitsfähigkeit des Menschen ist (angeblich) dank den digitalen Medien auf dieses Niveau geschrumpft (11).
Klar, Google, Apps, Online-News und Social Media gehören heute zum Alltag vieler Jugendlicher und Erwachsener. Ja, die bequemen Möglichkeiten sind nicht von der Hand zu weisen. Die negativen Auswirkungen digitaler Medien aber auch nicht – zumindest mittlerweile, da es immer mehr Studien zum Thema gibt.
Eins ist jedenfalls sicher: Das Internet und die Sozialen Medien verändern Deine Art der Selbstwahrnehmung, der Informationsaufnahme und der Kommunikation.
Digitale Medien verändern Gehirnstrukturen
„Dass sie es verändern, ist keine Frage. Denn alles, was wir erleben, was wir lernen, egal ob wir ein Buch lesen oder eine Sandburg bauen, verändert unser Gehirn.
Die Frage ist nicht ob, sondern wie genau.“ (3)
Das Stichwort lautet Neuroplastizität. Das Gehirn ist formbar durch seinen Nutzung.
Je häufiger Du eine Sache tust, desto stärker die mentale Verknüpfung im Gehirn.
Warum ist das so wichtig?
Wenn gleiche Tätigkeiten, Erfahrungen & Reize Deine Gehirnstrukturen verändern können, dann hat das erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Handlungen.
Dein geistiger Horizont & Deine Willensfreiheit hängen also auch ganz wesentlich davon ab, mit welchen Tätigkeiten, Inhalten & Gedanken Du Dein Leben verbringst.
5-6 Stunden verbringen die Deutschen im Schnitt jeden Tag online. Diese permanente Befeuerung mit medialen Reizen geht nicht spurlos am Einzelnen vorüber.
Sind digitale Medien gefährlich?
Bereits 2012 erregte der Psychiater Manfred Spitzer die Gemüter, indem er allen Menschen, die vermehrt das Internet nutzen, eine Digitale Demenz attestierte. Das wurde natürlich nie bewiesen…
Doch es gibt eine schädliche Wirkung von zu viel Internetnutzung auf die kognitiven Leistungen:
erheblich leiden Gedächtnisleistung und Konzentrationsfähigkeit (5).
Diese Untersuchung von 2019 betonte auch, dass sich die Wertschätzung von Fakten & Wissen durch die digitalen Medien verändert, da sie nun per Klick verfügbar zu sein scheinen. Darüber hinaus:
„Allein die Nähe des eigenen Smartphones reicht danach aus, dass Menschen bei Testfragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter.
Ward schlussfolgert, dass ein nahes Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsgedächtnis in den Stirnlappen der Großhirnrinde, im Präfrontalen Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen es unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es ebenfalls aktiv.“ (3)
Digitale Medien & Gesundheit
– Machen Internet & Social Media krank?
Eine neue Studie von 2021 kam von der Techniker Krankenkasse heraus, die sich dezidiert mit einzelnen Aspekten der Digitalisierung auseinandersetzt. Die Resultate sprechen eine deutliche Sprache:
„In Bezug auf den allgemeinen Gesundheitszustand zeigt die Studie, dass eine lange private Nutzung des Internets mit einem schlechteren Gesundheitszustand einhergeht.“ (7)
1) Zweck & Dauer der Internetnutzung sind wichtig
Gesundheitliche Auswirkungen bei privater Internetnutzung 5 Std. & länger
59 % Muskelverspannungen
34 % Müdigkeit
36 % Erschöpfung
30 % Konzentrationsstörungen
38 % Nervosität
40 % depressive Symptome
Damit schlussfolgern die Autoren einen deutlichen Zusammenhang zwischen erhöhtem Internetkonsum und körperlicher & psychischer Belastung.
Gesundheitliche Wirkung bei beruflicher Internetnutzung 5 Std. & länger
57 % Muskelverspannungen
36 % Müdigkeit
41 % Erschöpfung
23 % Konzentrationsstörungen
14 % Nervosität
18 % depressive Symptome
Kein Zusammenhang zu gesundheitlichen Einschränkungen scheint hier signifikant, meinen die Forscher.
Dass bei allen Gruppen Muskelverspannungen, Müdigkeit und Erschöpfung an der Tagesordnung sind, scheint weniger zu interessieren…
2) Die Art des Medienkonsums ist entscheidend
Es kommt aber nicht nur darauf an, wie lange wir digitale Medien nutzen und zu welchem Zweck, sondern auch auf welche Art wir sie nutzen.
In der Studie wurde ein Zusammenhang zwischen dem Phänomen „Second Screen“ und den angegebenen Beschwerden von Viel-Surfern festgestellt.
Second Screen bzw. Multitasking ist nicht gut
Insbesondere jüngeren Menschen haben sich angewöhnt, mehrere Bildschirme gleichzeitig zu nutzen – meist 2 Screens gleichzeitig. Zum Beispiel, um TV zu schauen, aber nebenher auf dem Handy YouTube Videos abspielen zu können.
Das Problem liegt in der dauerhaften geteilten Aufmerksamkeit. Sie verbraucht viel mehr Energie als ein gezielter Fokus auf eine einzige Sache. Das zerrt auch an den kognitiven Kräften.
„Die Ergebnisse zeigen, dass ein hohes Maß an Internetnutzung tatsächlich viele Funktionen des Gehirns beeinträchtigen kann. Zum Beispiel ermutigt uns der unbegrenzte Strom von Aufforderungen und Benachrichtigungen aus dem Internet dazu, ständig eine geteilte Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten.“ (Studie von 2019, 5)
Content-Flut & Überreizung führen zur Überforderung
Während Anhänger des Fortschrittsoptimismus von einer Revolution des Gehirns sprechen, die durch digitale Medien befeuert wird, sind andere Experten äußerst kritisch.
Tatsache ist: Der Grundaufbau des Gehirns veränderte sich in großen Zeitspannen, so um die 10.000 Jahre.
Die Körper & Gehirne der Menschen können sich nicht einfach so an neue Umweltbedingungen anpassen. Die Evolution lässt sich nämlich gerne Zeit.
Verlernen wir komplex zu denken?
Der Neurobiologe Martin Korte warnt davor „dass wir die digitalen Medien so einsetzen, dass wir unserem Gehirn keinen Gefallen tun.“ (14) Er befürchtet, dass durch stetiges Auslagern von Wissen (Handy, Internet) verlernt wird, über komplexe Probleme nachzudenken und neue Lösungswege zu finden.
„Das Gehirn ändert seine Verarbeitungswege als Reaktion auf das, was von außen reinkommt. Wenn das Gehirn sich überfordert fühlt von der Informationsmenge, die es verarbeiten soll, dann passiert nicht, dass man sich hinsetzt und versucht, differenzierter zu denken. Stattdessen schaltet das Gehirn in einen Modus, undifferenziert zu denken und die Informationen eher abzuwehren.“ (14)
Ähnliche Bedenken äußern Hirnforscher, wie zum Beispiel Gerald Hüther aus Göttingen: „Dass man das Wichtige vom Unwichtigen nicht mehr auseinanderhalten kann, das ist das Merkmal der digitalen Medien.“ (15)
Von einer Verblödung durch das Internet, wie Spitzer es verkündet hatte, kann natürlich keine Rede sein.
Dennoch beweisen viele Studien, dass der dauernde und lange Gebrauch von Computern, Tablets oder Smartphones Gehirnfunktionen dahingehend beeinträchtigen kann, dass psychische und neurologische Symptome entstehen (Selbstwertverlust, narzisstische Neigungen, Realitätsflucht, Schlafstörungen, Gewichtsveränderungen, ADHS-ähnliches Verhalten, Konzentrationsprobleme etc.).
Digitale Medien & Menschenbild (Philosophie)
Starke Bedenken gab es übrigens auch in der griechischen Antike gegenüber der Schrift.
Platon zum Beispiel fürchtete, durch die immer weitere Verbreitung von Schriften werde das Gedächtnis geschwächt und die Schärfe des Verstandes eingebüßt.
Richtig lag er damit sicher nicht, aber etwas ist schon dran. Die Schrift hat uns nicht verblödet, sondern nur eine andere Form der Intelligenz gefördert.
Ebenso läuft es mit den digitalen Medien. Sie trainieren eine andere Art von Intelligenz, lassen uns dafür aber auf anderen Kognitionsgebieten verkümmern.
Forscher warnen seit längerem vor ähnlichen Folgen
Zum Beispiel die Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf, die befürchtet, „ dass sich das Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten insgesamt daran gewöhnen könnte, flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen so einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und Demokratie.“ (3)
Von ähnlichen Befürchtungen haben viele andere Experten auch gesprochen, die betonen, dass der Mensch immer noch das Gehirn einen Steinzeitmenschen besitze und sich der rasanten Entwicklung nicht so schnell anpassen könne.
Kurzum: digitaler Medienkonsum könne dazu führen, dass wir die Fähigkeit verlieren, uns auf komplexe Sachverhalte zu konzentrieren (12).
Precht: die Technisierung des Menschen
Der deutsche Philosoph Precht vergleicht in einem seiner Bücher (13) 2 Weltbilder, die heute aufeinander prallen:
1) das europäische Weltbild der Aufklärung, auf dem unsere Demokratien beruhen. Es gründet auf dem Gedanken, dass der Mensch frei ist und seinen Verstand benutzt.
2) das immer beliebtere Weltbild des Silicon Valley: Die Vorantreiber der Digitalisierung sehen den Menschen als steuerbares Wesen, der auf Reize reagiert & durch geschickte Impulse zu manipulieren ist.
Selbstoptimierung & Effizienz sind die Schlagwörter des Silicon Valley. Precht spricht von der Idee des technisierten Menschen, der sich wie eine Maschine ständig verwirtschaften, effizienter machen und perfektionieren lässt.
Fazit:
Digitale Medien & Gehirn
Bewiesen ist, dass die häufige Nutzung des Internet sich negativ auf die Konzentrationsfähigkeit und das Gedächtnis auswirkt.
Gerade bei zeitlich langer, privater Nutzung zeigt sich ein Zusammenhang zu gesundheitlichen Problemen (körperliche & psychisch)
Neurowissenschaftler, Psychologen & Philosophen warnen vor dem langfristigen Verlust von geistigen Fähigkeiten – allerdings nur bei übermäßiger Nutzung!
Das Problem: die übermäßige Nutzung von digitalen Medien ist zur Gewohnheit geworden.
Die Content-Flut & Schnelligkeit digitaler Medien führen zur mentalen Überforderung. Einerseits, weil weder Gehirn noch Psyche Momente der Ruhe finden, in denen Eindrücke, Gedanken & Gefühle verarbeitet werden. Andererseits weil es mehr Energie braucht, um viele Informationen auf einmal aufzunehmen, am Bildschirm zu lesen und die geteilte Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten.
Die digitalen Medien machen per se nicht dümmer, aber haben das Potential, die Anfälligkeit für Denkfehler und psychische Probleme zu fördern.
Also die digitalen Medien verteufeln?
Nope, auch nicht der richtige Weg. Es geht viel mehr darum, dass Du und ich bewusst wählen, welche Infos & Inhalte wir wie lange und wo konsumieren.
Vgl. auch Geist und Gehirn – Ich ist nicht Gehirn
Quellen:
1) Philippe Wampfler: Auswirkungen von Social Media auf das Gehirn
2) Forschung Frankfurt: Wir in der digitalen Welt (Ausgabe 1.2020)
3) RND: Verändern Smartphones unser Gehirn?
4) Alexander Stindt: Macht das Internet dumm? Schlechtes Gedächtnis bei häufiger Nutzung
5) Firth: The “online brain”: how the Internet may be changing our cognition (Studie 2019)
6) Raffael Schuppisser: Das Internet macht nicht dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich
7) TK-Digitalkompetenz-Studie 2021: Schalt mal ab, Deutschland! (PDF)
8) Christian Montag: Homo Digitalis – Smartphones, soziale Netzwerke und das Gehirn
9) Sabrina Quente: Mindlift – Verändert die Digitalisierung dein Gehirn?
10) Anna Rüppel: Hat das Internet unser Denken verändert?
11) Florian Rötzer: Goldfische haben bereits eine längere Aufmerksamkeitsspanne als Menschen – Eine Microsoft-Studie zeigt, dass mit dem "digitalen Lebensstil" die Aufmerksamkeit beeinträchtigt wird
12) Christian Mathea: "Aufmerksamkeitszerstäubung": Was macht das Internet mit unserem Denken?
13) Richard David Precht: Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens
14) dpa: Forscher: „Wir tun unserem Gehirn mit der aktuellen Mediennutzung keinen Gefallen“
15) Tina Allerheiligen: Verändern digitale Medien unser Gehirn?