Eine Sprache für alle

Wer an Depressionen leidet, tut gut daran, sich anderen Menschen zu öffnen und über die eigene, oft so verworrene und widersprüchliche Gefühlswelt zu sprechen. Leider habe ich oft die Erfahrung gemacht, nicht oder – noch schlimmer – falsch verstanden zu werden, sowohl von Gesprächspartnern aus dem persönlichen Umfeld als auch von denen, die mir professionell zuhörten.

Über Kunstsprachen

Wie praktisch wäre es da, eine Universalsprache zu haben, die eine Verständigung über alle Grenzen und Gräben hinweg ermöglicht, ohne Missverständnisse zu erzeugen.

Dieser Wunsch ist das Motiv aller Ansätze zur Entwicklung von Kunstsprachen.

Die bekannteste ist sicherlich das von Ludwik Lejzer Zamenhof Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Esperanto, eine Kombination des Vokabulars romanischer und germanischer Sprachen mit einfacher grammatikalischer Struktur.

Daneben gibt es Versuche, sich für die Verständigung des Universellsten zu bedienen, das Menschen über Kulturgrenzen hinweg kennen und nutzen: Zahlen. Ein Beispiel dafür ist die Zahlensprache Timerio.

 

Zahlen statt Buchstaben

Timerio wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Berliner Architekten Tiemer entwickelt. Die Idee: Statt Buchstaben als sprachliche Zeichen werden Zahlen verwendet.

Statt „Ich liebe dich“ schreibt man etwa „1-80-2“ – „1“ bedeutet „ich, mich“, „80“ heißt „Liebe, lieben“ und die „2“ steht für „du, dich“. Ganz einfach. Oder?

Die Schwierigkeit liegt zum einen in der begrenzten Zahl an Begriffen und damit in einer sehr limitierten Ausdrucksmöglichkeit, zum anderen im grammatikalischen Detail.

Wie lassen sich temporale Variationen des Prädikats darstellen („Ich liebte dich“, „Ich werde dich lieben“), wie die verschiedenen Wortarten, die aus einem Grundbegriff gewonnen werden, also „Liebe“ (Substantiv), „lieben“ (Verb), „lieb“ (Adjektiv bzw. Adverb)?

Tiemer behalf sich mit ergänzenden Zeichen: Um etwa die Vergangenheit eines Sachverhalts auszudrücken, wird die „Prädikatszahl“ von „lieben“ unterstrichen („80“, „liebte“), für die Zukunftsform („werde lieben“) wird ein Strich über die Zahl gezogen.

Wortartvarianten werden mit spitzen Klammern markiert („<“ und „>“, Beispiel: „1673“, „Farbe“; „>1673“, „farbig“; „1673<“, „färben“). Der Plural wird durch eine hochgestellte Zwei dargestellt („980“, „Brief“; „980²“, „Briefe“).

Die Steigerung von Adjektiven wird durch nachgestellte Sternchen verdeutlicht: „164“ bedeutet „groß“, „164*“ entsprechend „größer“ und „164***“ heißt „am größten“. Die Deklination der Nomen erfolgt dadurch, dass die Fallzahl als römische Ziffer angehängt wird, z.B. „80 II“ für den Genitiv von „Liebe“.

Auch für die Verwendung von Zahlen in ihrem eigentlichen Sinne, nämlich als Zahlen, hat Tiemer vorgesorgt: Sie werden in Klammern gesetzt – „(1)“ bedeutet tatsächlich „eins“ (und nicht „ich“).

 

Was das alles mit Leibniz zu tun hat

Die Grundidee von Timerio baut auf der Dezimalklassifikation von Gottfried Wilhelm Leibniz auf. Leibniz selbst hatte bereits im 17. Jahrhundert eine ähnliche Idee wie Tiemer, wenn auch seine Zeichensprache weniger zur Verständigung denn vielmehr als Basis einer Universalwissenschaft dienen sollte: die characteristica universalis, ein System von Zeichen zur eindeutigen, widerspruchsfreien und daher unmissverständlichen Darstellung aller Dinge und ihrer Beziehungen zueinander.

Jener Leibniz erkannte aber auch schon die Grenzen einer solchen künstlichen Zahlen- und Zeichensprache. Die natürliche Sprache ist Teil unseres kulturellen und sozialen Habitus, bei ihrem Gebrauch geht es nicht nur um möglichst eindeutige Informationsvermittlung.

In der Tat betont Leibniz immer wieder die Bedeutung der natürlichen Sprache in ihrer Eigenschaft, die Gemüter zu bewegen, aber auch als erkenntniskonservierendes und -leitendes Medium, das gerade in seiner Vagheit und Verschiedenheit wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht, da es sich an neue Erkenntnisse anzupassen vermag und den Menschen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften ermöglicht, ganz spezifische Erfahrungen zu machen, die sich in der Folge zum Wohle aller ergänzen können.

Gelegentliches Missverstehen ist dabei unvermeidbar. Es gehört ebenso zur Sprache wie die Lüge und Metaphern, Doppeldeutigkeiten und Diskursverschiebungen. Aber eben auch Onomatopoesie, auf Homophonie basierender Witz und Kraftausdrücke, mit denen innerste Gefühle mitgeteilt werden können.

 

Ausblick

Kunstsprachen haben denn auch alle eines gemeinsam: Sie konnten sich nicht allgemein durchsetzen. Der Esperanto-Weltbund hat immerhin rund 15.000 Mitglieder und bis zu 15 Millionen Menschen sprechen Esperanto als Zweitsprache in den einschlägigen Kreisen bei den sich bietenden Gelegenheit.

Dennoch: Zamenhofs Ziel, die Menschen unter einem Einheitsidiom zu mehr Gemeinsinn und Zusammenwirken jenseits von Ethnien, Nationen und Religionen zu führen, ist nicht erreicht worden.

Wir müssen uns also, allen wohlmeinenden Universalisierungs- und Vereinheitlichungsversuchen zum Trotz, weiterhin bemühen, in und mit unseren natürlichen Sprachen zu Verständigung und Verständnis zu gelangen.

Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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Begegnung, Identität, Einsamkeit