Begegnung, Identität, Einsamkeit

Was Sprache enthüllt #3

Das Scheitern der Kommunikation

 

Fragst du dich auch manchmal, warum wir Menschen es so schwer miteinander haben? Warum funktioniert Kommunikation nicht mehr, warum scheitern Beziehungen? Warum eskalieren Konflikte und führen nicht selten zu Gewalt?

Kommunikation funktioniert nicht mehr

Anscheinend können wir nicht mehr miteinander, aber auch nicht ohne einander!

Liegt diese Entwicklung in den aktuellen Krisen begründet? Sind Digitalisierung und Globalisierung schuld? Lösen sich soziale Institutionen auf, gehen Zugehörigkeiten und Identifikationsmöglichkeiten verloren? Können wir uns deshalb nicht mehr heimisch, nicht mehr sicher fühlen und lassen uns nicht mehr ein? Verlassen uns nicht mehr auf andere und verlassen einander?

Oder ist es vielleicht umgekehrt: dass nämlich mangelhafte Kommunikations-Kompetenz diese Krisen gar verursacht oder zumindest mitbedingt?

 

Was Sprache enthüllt

Auch in diesem Beitrag will ich unsere Sprache befragen, um einen Beitrag zur Klärung dieser Phänomene zu leisten.

Ich verspreche dir: Es wird interessant. Also schenke mir einige Minuten deine Aufmerksamkeit!

(Bild: Canva/ MM)

 

Einige statistische Daten

Neben seit Jahren niedrigen Geburtenraten sowie hohen Scheidungsraten ist folgendes ein weiteres Indiz: Laut Panorama-Bericht des ZDF vom 22.06.2023 stieg der Anteil der Single-Haushalte in Deutschland von 19 % im Jahr 1950 auf knapp 41 Prozent in 2022. [1]

 

Hinweis: Hier findest du meine früheren Beiträge zu dem Thema, was Sprache enthüllt:

 

In einer repräsentativen Studie von 2023 gibt ElitePartner an, dass jeder dritte Deutsche zwischen 18 und 65 Jahren Single ist.
Die Diplom-Psychologin und ElitePartner-Expertin Lisa Fischbach führt den hohen Single-Anteil auf einen ausgeprägten Wunsch nach Selbstverwirklichung zurück.
Ausdauer, Motivation oder Kompetenz, Krisen zusammen zu meistern, nehme ab, begründet sie dieses Phänomen. Dadurch komme es häufiger und schneller zu Trennungen. Viele Singles seien zu arm, zu introvertiert, zu ängstlich, meint sie, und hätten deshalb bei der Partnersuche mit Unsicherheiten und Angst vor Enttäuschungen zu kämpfen. Die Angst vor erneuter Enttäuschung sei für jeden zweiten Single Grund fürs Alleinsein. [2]

Schon in einer Studie von 2012 gaben über 80 % der Befragten an, dass ihnen Selbstverwirklichung wichtig sei. [3]

Identität

Was aber bedeutet Selbstverwirklichung anderes als das Streben danach, sich von anderen zu unterscheiden, sich positiv von ihnen abzuheben, und dies heißt: eine von anderen unterscheidbare Identität vorweisen zu können?

 

Die Herkunft des Wortes Identität

Betrachten wir also die etymologische Bedeutung des Wortes Identität: Dieses ist abgeleitet von dem lateinischen Demonstrativpronomen idem = ein und derselbe. Mit den Worten des Dudens:  

Das Identitätsgesetz der Logik lautet:
A = A bzw.: Jeder Gegenstand – und jede Person –  ist sich selbst identisch.

(Bild: Foto MM)

 

 Dass Person A mit sich selbst identisch ist und nicht mit Person B, klingt für uns selbstverständlich. Aber diese Definition schließt etwas aus:

Identität schließt aus, dass Person A und B sich in ihrem Wesen überschneiden, dass sie wesentliche Gemeinsamkeiten haben!

Wenn also zwei Identitäten A und B miteinander in Kontakt treten, müssen anschließend beide unverändert fortbestehen, um ihre Identitätserhaltung weiterhin postulieren zu können.

Dieses Argument führt uns zu dem …

Territorial-Modell der Identität

 

Warenwert Mensch

Der Umgang verschiedener Identitäten (zB Interaktion zwischen Personen oder zwischen Person und Umwelt) miteinander scheint also dem Modell verschiedener Länder oder Territorien zu ähneln, die miteinander Grenzen bilden, Handel treiben und Waren austauschen, die einen Tauschwert besitzen. Dies sei hier erläutert:

(Bild: Canva/ MM)

Grenzen und Warentausch: Es findet zwar ein Austausch statt, nämlich von Waren, Körpersekreten, Ideen, Zuwendung, Inhalten, Wärme, Bakterien, Gefühlen. Die Grenzen beider Identitäten jedoch bleiben unverrückbar, ja letztlich unberührt. Beide Identitäten können sich nicht überschneiden oder gar zur Deckung kommen. Es dürfen keine identitätsstiftenden Elemente von A in B oder umgekehrt wiederzufinden sein. Sie können sich nicht „verdoppeln“.
Den Satz Geteilte Freude ist doppelte Freude kann es laut Identitäts-Doxa nicht geben.

Die Vorgänge des Atmens, der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung sowie das Teilen von Ideen, Liebe, Gedanken, Erlebnissen … sind mit unserem Identitätsbegriff nur insoweit kompatibel, wie es sich hier um eine Art Warentausch handelt: A nimmt etwas zu sich, was B von sich gibt. Das Eine wird reicher, das Andere ärmer.

Tauschwert: Dies alles findet statt auf dem Hintergrund eines gewissen Warenwertes, den jede Identität, jede Person, tatsächlich oder vermeintlich besitzt: Nett ausgedrückt, muss es ein „Match“ zwischen zwei Personen geben, damit diese sich überhaupt miteinander abgeben. Weniger euphemistisch: Eine Person mit niedrigem Tauschwert kann nicht erwarten, von jemandem mit hohem Tauschwert „gematcht“, „gedatet“ oder „geliked“ zu werden.

Selbstverwirklichung: Diese Akzentuierung der Grenzen befördert Selbstverwirklichung, die sich in dieser Sichtweise darstellt nicht nur als Selbstoptimierung in Abhebung von anderen, sondern gar als Selbstbereicherung auf Kosten des Anderen.

Selbsttranszendenz: Der Gegenpol der Selbstverwirklichung müsste aber ebenso ausgeprägt sein, um ihre Zuspitzungen in Schach zu halten. Einen derartigen Antagonismus können wir bezeichnen als Selbsttranszendenz (etwa: Überschreitung des eigenen Selbst), Selbstlosigkeit, Einssein. Diese Termini fokussieren nicht den Einzelnen, sondern sozusagen den Zwischenraum zwischen ihnen.
Sicherlich gibt es so etwas wie eine Sehnsucht nach diesem Zwischen. Fündig wird diese aber eher, wenn sie den Blick auf andere, etwa buddhistische, Kulturen richtet.

Dualität von Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz: Nicht von ungefähr werden in unserer Kultur Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz aber als einander ausschließende Antagonisten gehandelt: Selbstverwirklichung, Emanzipation kann in dieser Sicht nur gelingen, wenn die Grenzen abgeschottet, Unterschiede betont und territoriale Ausdehnung angestrebt werden. Selbsttranszendenz hingegen ist auf gefährliche Weise selbstauflösend und wird in den hermetischen Raum esoterischer Zirkel verwiesen.

Das Gegen in der Begegnung

So müssen wir uns also entscheiden: entweder für Identität (= Selbstverwirklichung = Abgrenzung) oder für ihr Gegenteil, etwa: Gemeinsamkeit, Grenzauflösung, Selbsttranszendenz, Über-sich-hinaus-Gehen.

Da wir aber beides brauchen, kommt ein merkwürdiger, einsam machender Zwitter heraus: die Begegnung. Mit dem Terminus Begegnung wird nämlich eher die Verweigerung von Gemeinsamkeit angesprochen.

Die Herkunft des Wortes Begegnung

Dies zeigt ein genauerer Blick auf dieses Wort, welches ja ein Gegen, ein Gegeneinander oder gar eine Gegnerschaft impliziert! Denn das Wort Gegner sei, wie der Herkunfts-Duden sagt „… eine Bildung zu dem Verb … begegnen …“ [4]

(Bild: Foto MM)

 

Auch weitere Begriffe aus der Mindmap der Begegnung enthalten im Kern dieses Gegen:

  • Antwort, antworten: Die Vorsilbe ant- bedeutet laut Duden entgegen [5] und ist verwandt mit anti-, Anti- = gegen, entgegen, wider. [6]

  • Wider-: Die Bedeutung eines gegen ist ebenfalls in dem Wortteil wider, zB in den Termini erwidern oder Widerrede, enthalten.

  • Treffen: Wenn wir uns mit anderen treffen, bedienen wir uns eines Verbs, das auf die ursprüngliche Bedeutung schlagen bzw stoßen verweist. Der substantivierte Infinitiv Treffen geht zurück auf den Terminus kleines Gefecht. [7]

  • Andere Sprachen: Ähnliche Ableitungen finden sich auch im Französischen: Das Tätigkeitswort rencontrer und sein Substantiv rencontre (= begegnen/ Begegnung, T/treffen, Z/zusammenstoß[en]) enthalten den Wortteil contre aus dem lateinischen contra (= gegen).

    Dieselbe Herkunft finden wir für die spanischen Ausdrücke el encuentro (= Treffen, Begegnung, Zusammenstoß) und das zugehörige Verb encontrar (= treffen, begegnen), die ebenfalls auf das lateinische contra zurückführbar sind. [8]

 

Wenn du tiefer in die Materie einsteigen möchtest, lies doch meinen Artikel Homo solus, den du auf meiner Website unter Psychotherapie – Orientierungen – Philosophie lesen kannst.

 

Wie können wir das Gegen in ein Miteinander verwandeln?

Was können wir aus dieser sprachlichen Analyse folgern? Können wir lernen, unser Zusammensein mit Anderen besser zu gestalten und von dieser impliziten Gegnerschaft zu befreien?

Ein erster Schritt dorthin ist, sich diese Implikation laufend bewusst zu machen. Darüber hinaus möchte ich dir einige weitere Anregungen geben:

Mache einen Anfang!

Fange am besten bei dir selbst an, sobald du mit einer anderen Person zusammen bist:

  • Kommunikation: Sprich mit deinen Mitmenschen über deine Erkenntnisse!

  • Konfrontation: Probiere es doch einmal aus, die 180-Grad-Position des Gegen-Über zu verlassen und dich neben deinen Gesprächspartner zu stellen oder zu setzen. Nun blickst du annähernd in dieselbe Richtung wie der Andere. Wie verändert diese Position dein Erleben der Beziehung zwischen dir und deinem Gesprächspartner?
    Experimentiere mit verschiedenen Positionen des Mit- oder Gegeneinander: Wie fühlt sich bspw ein Winkel von etwa 90 Grad an? Wie ändern sich deine Perspektive und dein leibliches Befinden?

  • „Abern“: Ersetze einfach das Wort Aber durch ein Und: Statt zu sagen:
    Aber ich bin da ganz anderer Meinung! könntest du sagen:
    Und ich sehe dies folgendermaßen …
    Vielleicht fühlt sich das schon ein wenig besser für dich und deinen Partner an. Und du wirst sehen, dass deine Äußerung sehr häufig überhaupt kein logischer Widerspruch zu der deines Gegenüber ist.
    Warum also benutzen wir das Aber so verdammt oft??

  • Richtig und falsch: Versuche einmal, ob es ohne Rechthaben-Wollen geht: Statt bspw deine Partnerin zu verbessern, indem du behauptest:
    Das ist doch kein Türkis, das ist doch eindeutig blau!! probiere vielleicht:
    Oh, da haben wir anscheinend unterschiedliche Farb-Wahrnehmungen – das ist ja interessant!
    Oder anstelle von:
    Da täuschst du dich, das war doch völlig anders! könntest du sagen:
    Ich habe diese Situation völlig anders erlebt als du!

    Auch in diesem Fall wirst du oft feststellen, dass eure unterschiedlichen Positionen auf unterschiedlichen Perspektiven oder verschiedenen Sprachgewohnheiten beruhen.

  • Durchsetzungsfähigkeit? Mache dir klar, dass du dich zwangsläufig selbst in eine angespannte Situation begibst, wenn du dich deinem Partner gegenüber durchgesetzt hast (nicht unbedingt weil du im Recht bist, sondern weil du einfach besser argumentieren kannst); denn:

    Immer wenn du dich gegen den Anderen durchsetzt, vergiftest du die Luft, die du atmest! Denn dein Mitmensch ist Teil deiner Umwelt, deren Qualität Einfluss auf deine Befindlichkeit hat.

    Solltest du jedoch eine Abspaltungs-Künstlerin sein, würdest du wohl keine Beeinträchtigung deiner sozialen Umwelt verspüren, weil du einfach nicht hinguckst und nicht wahrnimmst, wie sich der Andere fühlt. Aber wäre das wirklich von Vorteil? Sicher nicht; denn derartiges Abspalten (Dissoziieren) kostet dich viel Energie.

  • Dieses Prinzip nenne ich den Ö-goismus, den Ökologischen Egoismus.

 

Solltest du ein Narzisst oder Psychopath sein, hättest du sicherlich überhaupt keine Probleme mit solchen „Umweltbelastungen“.
Aber dann würdest du dir “so’n Scheiß” sowieso gar nicht erst angucken!

 


Was du außerdem tun kannst

Schaue dir, am besten mit jemand Anderem zusammen, meine Beiträge über Kommunikation und Paartherapie an. Dort wirst du einige überraschende Erkenntnisse gewinnen wie zB:

  • Es geht nicht ohne Egoismus! (der Ö-goismus)

  • Wut tut gut!

  • Verstehen ist eine Falle!

  • Verhandeln statt diskutieren!

 Hier ist der Link:

Texte und Videos zu diesem Thema gibt’s auf meiner Website unter Psychotherapie – Auswege bei Paarkonflikten.

 

 

Die Wiederverzauberung des Du

Wie wäre es eigentlich, wenn wir unsere Mitmenschen nicht mehr als berechenbare Abbilder unserer selbst betrachteten?
Wie wäre es, wenn wir nicht mehr wie bisher unsere eigenen Sichtweisen, Gewohnheiten, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Reaktionsweisen, Werthaltungen in unsere Gegenüber hineinprojizierten?
Wie wäre es, wenn wir uns überraschen ließen vom Anderen, statt ihn zu maßregeln, wenn er anders als gedacht reagierte?
Wie wäre es, ihn als Bereicherung statt als Normabweichung zu betrachten?

Du sollst dir kein Bildnis machen! Dies ist nicht nur eine Weisung aus der Bibel, sondern mit dieser Maxime haben sich auch Schriftsteller wie Max Frisch auseinandergesetzt.

Für Philosophie und Psychotherapie sprechen sich zB Martin Buber oder Emmanuel Levinas für eine demütige Haltung gegenüber dem Du aus.

 

Wenn dich diese Thematik interessiert, findest du hier eine Vertiefung:

https://www.die-inkognito-philosophin.de/mehrgardt-orientierungen#Levinas

 

 Warnhinweis: Der Konsum meiner Beiträge könnte zu Ungehorsam und Erkenntnisgewinn führen!

 

Ich freue mich über deine Belohnung für meine Bemühungen in Form von Liken, Teilen, Abonnieren und Kommentieren! Danke!

 

Quellen:

 [1] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/haushalt-statistisches-bundesamt-familie-100.html

[2] https://www.elitepartner.de/magazin/finden/singles-in-deutschland/#fn1-134

[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/274584/umfrage/bedeutung-von-selbstverwirklichung/#statisticContainer

[4] Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7., Mannheim: Bibliographisches Institut, 1963. S. 203

[5] Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7., S. 28

[6] Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7., S. 27          

[7] Duden. Das Herkunftswörterbuch. Bd. 7., S. 717

[8] Wahrig Herkunftswörterbuch: https://www.wissen.de/wortherkunft/rencontre

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