Ratschläge sind wie Schläge – ungebeten & oberflächlich

Das Bedürfnis, anderen Menschen Ratschläge zu geben, hat in unserer heutigen Gesellschaft Hochkonjunktur. Überall um uns herum – ob in sozialen Medien, auf Blogs oder im persönlichen Gespräch – begegnen wir einer Vielzahl von Menschen, die fast schon missionarisch ihre Weisheiten zum Besten geben. Stellt sich die Frage: Sind diese gut gemeinten Ratschläge hilfreich?

Die es gut meinen,
das sind die schlimmsten.
— Paracelsus
 

Gut gemeinte, unaufgeforderte Ratschläge

Warum Ratschläge wie Schläge sind

Selbstverständlich ist nicht jeder Ratschlag unangebracht und schlecht. In diesem Text soll es aber um die ungebetenen Ratschläge gehen: Die oberflächlichen, die ungefragt und viel zu schnell geäußert werden, ohne die individuelle Situation des Gegenübers zu berücksichtigen.

Unabhängig davon, ob es sich um Angehörige, Freunde, Coaches oder Psychotherapeuten handelt – So gut wie immer ist jemand der Meinung, einen besonders wertvollen Tipp parat zu haben. Dies trifft nicht nur auf spezielle Umstände zu, sondern erstreckt sich über jede Lebenssituation.

Und es scheint für die Welt im Allgemeinen zu gelten. Hier ein neuer Ernährungstrend zur Selbstoptimierung, dort psychologische Tipps zur Verbesserung der Partnerschaft – die Flut an ungebetenen Ratschlägen, die uns täglich entgegenströmen, ist unüberschaubar.

Heute existieren entsprechende Inhalte wie Sand am Meer. Sie sollen uns zeigen, wie wir richtig schlafen, wie wir gesund essen, wie wir Sport machen, wie wir lernen oder lieben sollen … da könnte man fast glauben, dieser Experten-Markt bzw. Trend ist entstanden, weil unsere moderne Gesellschaft immer hilfloser, inkompetenter, unwissender wird. Ist das so?

Fehlt es uns nur am richtigen Expertenwissen? Brauchen wir für jeden Lebensbereich etwaige Fachleute, die uns beibringen, wie wir richtig leben?

 

Warum Ratschläge wenig bringen

Eine interessante Studie befasste sich mit dem Phänomen, warum viele Menschen ihre eigenen Ziele häufig nicht erreichen. Gemeint sind alltägliche Dinge des Lebens, zum Beispiel bessere Noten schreiben, Geld sparen, dauerhaft Sport machen, Abnehmen usw.

Zur Überraschung der Wissenschaftler wussten die Teilnehmer genau, was sie tun mussten, um ihre Ziele zu verwirklichen. Also zum Beispiel im ersten Fall mehr Lernen und Nachhilfe nehmen. Sie waren sogar äußerst kreativ dabei, Strategien zu entwickeln. Am Wissen haperte es also nicht, sondern an etwas anderem: dem notwendigen Selbstvertrauen.

 

Wie konstruktiv sind Ratschläge?

Wie unaufgeforderte Ratschläge auf die Empfänger wirken, zeigen außerdem weitere Untersuchungen: Anstatt zu motivieren, verstärkten sie die Versagensgefühle bei denjenigen, denen man mit dem Rat eigentlich helfen wollte.

Der Grund: unbewusst vermittelte der gut gemeinte Ratschlag die Botschaft, der Beratene hätte nicht alles gegeben, falsch gehandelt, wisse nicht genug, sei selbst schuld usw.

Unerbetene Ratschläge wirken bevormundend und kritisierend, besonders wenn sie auf vermeintliche Schwächen hinweisen. Laut Experten wird dieser Effekt verstärkt, wenn die Tipps zusätzlich Ängste schüren oder Druck ausüben.

 

Ratschläge helfen

– allerdings nur denen, die sie geben

Woher kommt der Drang, so schnell Ratschläge zu geben, anstatt einfach Verständnis zu äußern, wenn uns jemand von seinen Problemen erzählt?

Als Beispiel will ich eine weitere Studie heranziehen: leistungsschwache Schülerinnen, die fast durchgefallen wären, gaben jüngeren Schülerinnen Tipps und Antworten auf deren Fragen zum Lernen.

Es stellte sich heraus, dass diese vermeintlich schwachen Schülerinnen überraschend viele nützliche Lerntipps parat hatten und diese spontan weitergeben konnten.

Am Ende des Schuljahres dann die große Überraschung (bzw. Bestätigung der Ausgangshypothese): Nicht diejenigen, die Tipps erhielten, hatten ihre Noten deutlich verbessert, sondern die Schülerinnen, die in die Rolle der Beraterin geschlüpft waren.

 

Ratschläge geben fördert Selbstvertrauen

Der Akt des Beratens stärkte den Glauben an die eigene Lernfähigkeit und förderte somit das Selbstvertrauen der Schülerinnen.

Und obendrein machte es sie auch noch glücklich, in die Rolle der Beraterin zu schlüpfen.

Viele von ihnen äußerten den Wunsch, erneut an einem solchen Experiment teilnehmen zu dürfen.

Ratschläge geben stärkt Selbstzufriedenheit

Zusatzeffekt: Wer jemanden berät/hilft, hat selbst den Eindruck, sich ehrlich um die Probleme seiner Mitmenschen zu kümmern und deshalb ein guter Mensch zu sein.

Ratschläge sind also für die Ratgebenden mit einem guten Schuss Selbstzufriedenheit verbunden. Was per se nicht negativ ist, aber die Eigenwahrnehmung beeinflusst.

 

Ratschläge sind subjektiv

Eigentlich selbstverständlich, aber ist uns selten bewusst. Tatsächlich neigen wir laut Untersuchungen dazu, unsere Ratschläge immer an unsere eigenen Erfahrungen anzupassen.

Im Klartext: Wenn wir einen Rat geben, raten wir exakt zu den Dingen, die für uns persönlich Sinn ergeben, weil sie von unseren Erfahrungen und Werten geprägt sind.

 

Fazit: Darum sind Ratschläge wie Schläge

Ratschläge sind ein Spiegelbild des Absenders, nicht des Empfängers. Daher an dieser Stelle auch ein unaufgeforderter Ratschlag von mir: Bevor du dem Drang nachgibst, jemanden zu belehren, lass es einfach bleiben. Oder frage, ob der- oder diejenige deine Meinung hören möchte.

Man kann niemals wissen, welche Herausforderungen eine Person aktuell erlebt und welchen Hintergrund eine bestimmte Situation hat. Gut gemeinte Ratschläge sind nicht universell einsetzbar. Die Komplexität menschlicher Beziehungen und individueller Lebensumstände lässt kaum Raum für solche einfachen Lösungen.


Quellen:

1) Eskreis-Winkler, L., Fishbach, A., & Duckworth, A. L. (2018). Dear Abby: Should I Give Advice or Receive It? Psychological Science. https://doi.org/10.1177/0956797618795472
2) Schaerer, M., Tost, LP, Huang, L., Gino, F., & Larrick, R. (2018). Ratschläge geben: Ein subtiler Weg zur Macht. Personality and Social Psychology Bulletin , 44 (5), 746–761. https://doi.org/10.1177/0146167217746341
3) Ingrid Gerstbach: Das Problem mit Ratschlägen
4) Psylex: Geben Experten die besseren Ratschläge? Quelle: Psychological Science (2022). DOI: 10.1177/09567976211054089
5) Andrea Wiedel: Warum Ratschläge auch Schläge sind und wie du deinen Mitmenschen wirklich helfen kannst

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hi, ich bin Tamara, freie Journalistin & studierte Philosophin (Mag. phil.). Hier blogge ich über persönliche Erfahrungen mit Depressionen & Angst – und untersuche psychische Phänomene aus einer dezidiert philosophischen Perspektive. Zudem informiere ich fachkritisch über soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände, die uns alle betreffen.

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