Selbstoptimierung – Selbstoptimierungswahn als Trend & Norm
Was bedeutet Selbstoptimierung? Geht es nach den Herstellern von Fitnesstrackern und Gimmicks, ist die Sache klar: leistungsfähiger, effizienter, stärker, schöner, glücklicher – doch wie gesund ist der ständige Drang nach Perfektion? Und was sagt der Selbstoptimierungswahn über uns als Gesellschaft aus? Experten warnen aus guten Gründen seit Jahren vor dem gehypten Trend.
Der heutige Selbstoptimierungs-wahn
Optimiere Dich Selbst ist das Motto unserer modernen Zeit. Doch macht der persönliche und soziale Druck, besser, schöner & glücklicher zu werden, den Menschen krank?
Selbstoptimierung als soziale Norm
Soziologen reden über „Optimierungsgesellschaften“ und Trendforscher ernannten das 21. Jahrhundert zum „Zeitalter der Selbstoptimierung“ (6). Heute ist es normal, immer besser, schöner und leistungsfähiger sein zu wollen. Und es gehört zum Bild eines autonomen, freien und erfolgreichen Individuums, diese Ziele umzusetzen.
Vgl. auch: Macht die Gesellschaft depressiv? Kritik der Kulturkritik
Wann bist Du Dir selbst genug?
Und spielt Dein persönliches Empfinden dabei überhaupt DIE entscheidende Rolle?
Schließlich geht Selbstoptimierung weit über die persönliche Ebene hinaus. Nicht Du allein entscheidest aus Dir heraus, Dich auf diese oder jene Weise zu verbessern. Dein Drang nach einem besseren Ich wird auch von der Gesellschaft als Norm vorgegeben.
Selbstoptimierung ist Trend
Die bildhübschen Bikini-Girls auf Social Media, die erfolgreichen Karrieremenschen in der Arbeit und die Freunde, die meditierend in der Welt herumreisen – die moderne Gesellschaft mit ihrem Leistung-Belohnungs-Ideal vermittelt Dir permanent das unterschwellige Gefühl, es müsse noch besser gehen oder es fehle irgendetwas.
Und als Sozialwesen bist Du kaum von diesem Einfluss gefeit.
Seit 2016 beklagen Psychiater den Druck der Gesellschaft zur Selbstoptimierung.
Und das nicht ohne Grund. Was vielleicht mal eine Freiheit war, wandelt sich zu äußerem Druck & Stress, die ungesunde Folgen haben können. Insbesondere wenn das Ideal, das von allen angebetet und gefeiert wird, überhaupt nicht erreichbar ist.
Was bedeutet Selbstoptimierung?
Etymologisch geht das Wort „Optimierung“ auf das lateinische optimus zurück, zu Deutsch: "der Beste, der Tüchtigste". Es geht hier um den bestmöglichen Zustand bzw. dem vollkommenen Zustand des Menschen.
Überträgst Du das Prinzip auf unser heutiges Verständnis von Selbstoptimierung, dann bedeutet sie so viel wie stetige Verbesserung von persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften.
Das ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Versuchen die Menschen sich nicht schon seit Jahrhunderten zu verbessern und weiterzuentwickeln? Selbstoptimierung allein auf ein Symptom zu reduzieren, das Ausdruck der Wettbewerbsgesellschaft sein soll, ist nicht logisch zwingend.
Selbstoptimierung ist ambivalent
Dennoch: Kritik am neoliberalen, ökonomischen Menschenbild findet sich auch im Duden, wenn Selbstoptimierung wie folgt definiert wird:
„jemandes [übermäßige] freiwillige Anpassung an äußere Zwänge, gesellschaftliche Erwartungen oder Ideale u. Ä.“ (15)
Allerdings ist der Wunsch, sich selbst zu verbessern, ein natürliches Motiv. Du kannst also nicht jeden über einen Kamm scheren, der sich um Weiterentwicklung und persönliche Verbesserung bemüht.
Es kommt darauf an, wie Du Dich als Mensch betrachtest und mit Dir und anderen umgehst.
Allein aus der Definition heraus, impliziert Selbstoptimierung einen positiven Prozess. Gleichzeitig liegt hier auch die nächste Crux:
Was ist denn positiv oder besser?
vgl auch: Wer bin ich? – Das Selbst in der Philosophie sowie Dialektische Menschenbilder und Geist und Gehirn
Warum optimiert sich der Mensch selbst?
Was sind Deine Gründe, die hinter der Wunschfigur, der stoischen Gelassenheit und dem Mega-Brain liegen? Die einzelnen Ziele unterscheiden sich, aber was den Menschen allen gemeinsam ist, sind die Gefühle und Bedürfnisse, die wir durch Selbstoptimierung erfüllen.
Selbstoptimierung schenkt Dir ein Erfolgsgefühl, es macht Dir Deine Selbstwirksamkeit bewusst und beweist ganz konkret, wie weit Du Dein Leben selbst gestalten kannst.
Selbstoptimierung ist Selbstermächtigung
Auf der anderen Seite befriedigt Selbstoptimierung auch die Bedürfnisse Einzelner nach Macht und sozialem Ansehen. Das Bedürfnis nach Kontrolle als vermeintliche Sicherheit kann sich jedoch ins Groteske steigern oder ins Leere, Bedeutungslose laufen...und genau das ist heute leider der Fall.
Egozentrik der Selbstoptimierung heute
Selbstoptimierung war früher in Antike und Mittelalter immer im sozialen Kontext gedacht. Es ging nie nur um Dich, sondern auch um Deinen Bezug und Deine Bedeutung zur Welt und in der Welt. Heute hat sich der Begriff stark eingeengt und zielt nur noch auf die Person, das Ego ab.
„Globalisierung, Ökonomisierung, Arbeitsplatzdruck, also viele gesellschaftliche Entwicklungen des letzten Jahrzehnts verunsichern die Menschen, und machen bei vielen Menschen – das zeigen auch die Stressreporte – chronischen Stress.
Und das sind natürlich Voraussetzungen, die Risikofaktoren für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen sind.
Aber wir wissen auch, dass Urbanisierung, also Menschen, die in Großstädten wohnen, höhere Raten von Erkrankungen haben, zum Beispiel Angst- und Depressionserkrankungen sind im Risiko 30 bis 40 Prozent höher als bei Menschen in kleineren Städten und auf dem Land.“ (Dr. Iris Hauth, 5)
Der technisierte Mensch
Selbstoptimierung dreht sich um Dein Selbst. Allerdings geht’s dabei nicht um Dich als Mensch mit Ecken und Kanten oder Schwächen und Stärken, sondern um eine Art technisierten Menschen, der sich wie eine Maschine ständig verwirtschaften, effizienter machen und perfektionieren lässt.
Effizienz ist ein Schwerpunkt der Selbstoptimierung.
So viel wie möglich, in so kurzer Zeit wie möglich. Und auch diese ungeduldige Erwartungshaltung nach sofortiger Wunschbefriedigung ist eine Folge der Technologisierung der Gesellschaft.
Der universelle Vergleichsdruck
Eine weitere Auswirkung ist der Vergleichsdruck. Früher, da hatten Deine Urahnen lediglich Kontakt zur Familie, Arbeitskollegen, Gemeinschaften, die wesentlich kleiner waren als moderne Städte.
Ja klar, die schlugen sich dafür mit ganz anderen Problemen herum, aber ihre Vergleichsmöglichkeiten waren ziemlich überschaubar.
Heute kannst Du mal schnell einen Videoanruf ans andere Ende der Welt starten, den Alltag wildfremder Menschen verfolgen oder tagsüber mit Freunden texten. Unsere Vergleichsräume sind gewaltig – und voller Möglichkeiten, die viele Menschen unzufriedener machen anstatt glücklicher, weil sie den Fokus auf falsche Werte richten.
Selbstoptimierungs-Stress als Statussymbol
Der Kapitalismus ist und bleibt der Motor unserer modernen Leistungsgesellschaft. Aktionismus ist heute ein sozialer Wert: wer sich stresst, der leistet. Passivität ist hingegen ein moralisches No-Go. Sie wird nicht mal im Rahmen medizinischer Diagnosen akzeptiert, wenn diese die Psyche betreffen.
Das objektivierte Glück bzw. Optimum
Führt Selbstoptimierung per se wirklich dazu, ein besserer Mensch zu sein? Kommt ganz darauf an, wo und wie Du als Einzelne*r Deine Ziele steckst. Schönheits-OPs sind weder ethisch noch existenziell notwendig. Stahlharte Muskeln wohl ebenso wenig. (vgl. auch Was ist Schönheit?)
Trotzdem macht Dir die Glücksindustrie vor, Du könntest Dir Glück & Seelenfrieden mit bestimmten Maßnahmen einfach antrainieren.
Mit dem Lebenssinn oder Glück oder der Erfüllung - nenn’ es, wie Du willst – ist das aber immer so eine Sache: das Ding ist ziemlich individuell, nicht pauschalisierbar und richtig richtig langwierig.
Du kannst Dich also sehr wohl darin täuschen, was eine Verbesserung oder Verschlechterung ist, wenn Du die falschen Ziele definierst.
Vergleiche dazu auch:
Volkskrankheit Depression – Bedeutung von Gesellschaft & Politik
Dass Depressionen nicht nur Privatsache sind, konnte der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ wunderbar darlegen.
Die Depression ist für ihn „eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht.“
Industrie, Arbeitswelt, Menschenbild
Aber wie kommt es eigentlich, dass mechanische und technische Begriffe auf den Menschen und seinen Alltag angewendet werden?
Hier nur ein paar Beispiele, wie sehr wir diese Begrifflichkeiten selbstverständlich nutzen:
Wir sprechen von „inneren Ressourcen“ und „Widerstandskräften“ als wäre unsere Psyche physisches Material, das verzwecklicht werden müsse.
Ich höre Leute jammern, dass sie wieder mal „unproduktiv“ waren, als bestünde das Leben allein aus Effizienz und sichtbarer Leistung – selbst in der Freizeit.
Das Gehirn lässt sich laut Psychologen „umstrukturieren“ wie ein Computer, der sich reparieren ließe.
Die Soziologin Dr. Diana Lindner hat eine Erklärung:
„Die Forschung hat gezeigt, dass es vorrangig dort eine Vermischung zwischen Lebensführung und unternehmerischen Handlungsidealen gab, wo Menschen Berufe haben, die ein hohes Maß an Selbstverwirklichung versprechen. (...) Hier entstand für viele plötzlich ein kreativer Freiraum bei gleichzeitig steigendem Erfolgs- und Konkurrenzdruck. (...) Aus der Begeisterung über den neu gewonnenen Freiraum entstanden Mechanismen der "freiwilligen Selbstausbeutung" (...) Der Erfolgsdruck wurde nicht mehr als rein negativ wahrgenommen.
Daraus entwickelten sich Probleme bei der Work-Life-Balance, auf die ein ganzer Ratgebermarkt Antworten gegeben hat. Das waren überwiegend Techniken aus der Managementliteratur, die mehr Effizienz versprachen. So entwickelte sich eine Kultur der unternehmerischen Selbsterziehung, was schließlich zu einer "Verbetrieblichung der Lebensführung" geführt hat.“ (1)
Was der Selbstoptimierungswahn mit Dir macht
Das Leben braucht Muße und allein sein – Soziologin Lindner sagt dazu „Leerläufe“ (1). Diese regelmäßigen Erholungsphasen benötigt ausnahmslos jeder Mensch.
Ansonsten entsteht Dauerstress, der nachweislich immer mehr Leute psychisch oder körperlich krank macht.
» Immer mehr psychisch Kranke – eine Mental Health Krise?
Oberflächliche Selbstoptimierung lebt von dem Gedanken, nicht gut genug zu sein & Zeit bestmöglich zu nutzen. » Bildungsexpansion ist nicht die Lösung
Selbstoptimierung gründet auf falschen Glaubenssätzen
Solche Glaubenssätze machen Dich unzufrieden und lassen Dich immer wieder nach Verbesserungen suchen.
Doch wer sich an gesellschaftlichen Normen wie Influencern, Business-Stars und Globetrottern orientiert, verliert das Mensch-Sein aus den Augen – die Diversität und Einzigartigkeit, die jeder mit sich bringt.
Selbstakzeptanz ist da ein ganz schwierige Thema. Viel zu schnell werden typisch menschliche Befindlichkeiten als anormal und optimierungsnotwendig angesehen.
Du hast Schwierigkeiten Dich zu konzentrieren? Dann bist Du aufgefordert, sofort etwas dagegen zu unternehmen – mit Zuckerpillen, Vitaminen oder vielleicht sogar einer Psychotherapie.
Vgl. auch: Psychotherapie Kritik – Wie wirksam ist Psychotherapie bei Depressionen?
Selbstoptimierter Stress & Druck
Diese krasse Trennung zwischen normal und anormal erzeugt Selbstoptimierungdruck – bei Dir, bei mir, bei allen. So sagte Iris Hauth, die Präsidentin der DGPPN, schon in einem Spiegel-Interview (3) von 2016:
"Alle sind leistungsfähig, schön und jung und möchten das möglichst lange bleiben. Das hat Folgen im Verhalten der Menschen (...) Ich würde nicht sagen, Lifestyle macht Erkrankungen. Aber Lifestyle bewirkt Verhaltensveränderungen und emotionale Veränderungen, die gegebenenfalls Risikofaktoren für eine Erkrankung werden können."
Hauth meinte übrigens auch: Selbstoptimierungsdruck haben vor allem Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl.
"Wenn ich dagegen genügend Selbstwertgefühl habe - was mit der eigenen Persönlichkeit, Vererbtem, aber auch Erfahrungen der ersten 15 bis 20 Lebensjahre zu tun hat - dann ist das ein wesentlicher Resilienzfaktor." (3)
"Auch einmal nichts zu tun, ist für die Gesundheit des Gehirns unglaublich hilfreich."
Selbstliebe & Achtsamkeit unter dem Zepter der Selbstoptimierung
Den Gegensatz zur oberflächlichen Selbstoptimierung soll der Selbstliebe- und Achtsamkeits-Trend darstellen. Doch wenn Du genau hinsiehst, sind auch Selflove und Du-bist-genug Floskeln nichts anderes als Selbstoptimierung in anderem Gewand.
Du findest Dein Glück in Dir Selbst – genau das ist der neoliberale Leitspruch unserer Leistungsgesellschaft. Achtsamkeit und Resilienz liegen in eigener Verantwortung.
Dazu bieten Unternehmen extra mindfulness trainings an: die Angestellten sollen schließlich lernen, besser mit Zeitnot & Zeitmangel und Konkurrenz zurechtzukommen.
Wer das trotzdem nicht schafft, hat selbst Schuld.
Das gilt aber nicht nur für die Arbeitswelt, sondern auch alle anderen Lebensbereiche. Die ganzen Selbstliebe-Gurus auf Social Media zeigen, nur Du musst Dich innerlich verändern, nicht die Welt oder die ungerechten Strukturen, die zu Überforderung, Minderwertigkeitsgefühlen und Krankheit führen oder beitragen.
Aber das lasse ich mal an dieser Stelle. Um das Thema Selbstliebe & Selbstoptimierung auszuführen, braucht es einen separaten Blog-Artikel…» Selbstliebe – eine Selbstinszenierung von Glück
Fazit: Selbstoptimierung
Diese ganzen Entwicklungen und Trends in Richtung Selbstausbeutung & Verdinglichung sind nicht an den Haaren herbeigezogen. Das belegt zum Beispiel eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) aus dem Jahr 2018: für 45 % der Deutschen ist Selbstoptimierung gleich Leistungsverbesserung – mickrige 22 % gaben Selbstverwirklichung an.
Gewichtsdecken, Wellness-Tees, Schlafphasen-Monitoring, Kalorienzähler, Mindset-Coachings, Meditationskurse, Selbsthilfe-Ratgeber – brauchst Du all das Zeug wirklich oder wird Dir eingeredet, dass Du es brauchst?
Keine Frage, manche Produkte können nützlich sein, die meisten davon sind aber nur Spielzeug für Erwachsene. Die Konsumindustrie ist nicht so mächtig und reich, weil sie die Wünsche der Menschen selbstlos erfüllt, sondern weil sie Bedürfnisse erfindet.
Quellen:
1) Nina-Carissima Schönrock: Selbstoptimierung – Was das Streben nach einem besseren Ich mit uns macht
2) 7Mind Blog: Akzeptanz – Warum fällt es uns so schwer, zufrieden zu sein?
3) Giela Gross: Druck zur Selbstoptimierung – Macht unser Lebensstil krank?
4) Lisa Oenning: Leistungsgesellschaft – Permanent unter Druck
5) Dörte Hinrichs: Psyche unter Druck – Wenn der Alltag krank macht
6) Dagmar Fenner: Selbstoptimierung (bpp: Bundeszentrale für politische Bildung)
7) Dr. Michael Madel: Selbstoptimierung – Weniger ist manchmal mehr
8) Nio Hoppe: Selbstoptimierung – Der produktive Müßiggang geht verloren
9) Sabrina Quente: Das bessere Ich – Selbstoptimierung um jeden Preis?
10) Harzglanz Selbstoptimierung – Warum und Wozu?
11) Arno Orzessek: Schluss mit der Selbstoptimierung – Wozu der ganze Leistungswahn?
12) Nils Warkentin: Selbstoptimierung: Ist gut nicht mehr gut genug?
13) Lena Fiedler: Das Ich als Firma
14) Ann-Kristin Tlusty: Selbstoptimierung – Wann ist Erholung eigentlich Arbeit geworden?
15) Duden online: Selbstoptimierung
16) Richard David Precht: Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens – Ein Essay
17) Deutsche Presse Agentur (dpa): Body Positivity – Mehr Selbstliebe und weniger Schönheitswahn
18) Vince Ebert: Wearables – Warum Selbstoptimierung in die Irre führt